Jan und der Fehlerteufel

Jan saß am Nachmittag vor seinem Textverarbeitungsprogramm, um endlich den Aufsatz für die Berufsschule zu beenden, der eigentlich schon kein Thema mehr sein sollte, weil bereits seit Tagen überfällig. Aber, wie so oft, fiel ihm so gar nichts mehr ein, den Text betreffend. Nur, was er bei dem Sonnenschein da draußen besser hätte tun können, diese Gedanken schoben sich ständig in den Vordergrund.

Dabei war der Aufsatz schon mal fertig gewesen, aber gerade, als er die abgespeicherte Datei öffnen wollte, um den Text auszudrucken, bekam er nur die Mitteilung: Datei ist fehlerhaft und kann nicht gelesen werden! Nach endlosen Wiederherstellungsversuchen, Schweiß- und Wutausbrüchen und letztendlich neu installiertem Betriebssystem war er dabei, den gesamten Text zu reproduzieren.

Nur in sehr kleinen Einheiten purzelten die Wörter aus seinen grauen Zellen, bildeten Sätze und füllten wieder die 10 Seiten. Beim letzten Zeichen dann war es bereits nach Mitternacht. Nur noch die Rechtschreibkontrolle, die Grammatik, dann, endlich – es war geschafft! Abspeichern, ausdrucken und Kiste aus. Befreites Aufatmen, als die Lüftergeräusche verstummt waren.

Zwölf Stunden später:

Jan wischte sich die Tränen aus dem Gesicht. Nein, dieser Tag war definitiv nichtsein Tag: Erst kam er zu spät zur Berufsschule, weil ein Nagel auf dem Radweg lag, der einen platten Reifen zur Folge hatte. Dann bekam er seinen Aufsatz, der ihm so viel abverlangt hatte, zurück. “Jan, da hat der Fehlerteufel aber wieder voll bei Ihnen zugeschlagen. Einmal neu bitte, bis morgen!”, bekam er zu hören. Zu Mittag stolperte er über ein ach so zufällig da stehendes Bein. Der Eintopf machte ihn nicht mehr satt, aber lustig war er allemal, fanden seine Kumpels, so auf seiner Kleidung verteilt.

Nun war der Reifen geflickt, der Aufsatz wieder und wieder geprüft, die Kleidung hing sauber gewaschen auf der Leine. Warum nur ging immer so viel in seinem Leben schief, obwohl Jan sich eigentlich für einen fleißigen und gewissenhaften Menschen hielt. Sollte wirklich ein Fehlerteufel Schuld haben, wie der Lehrer immer sagte? Nein, so ein Quatsch, Jan war doch nicht abergläubisch, in seinem realistischen Denken war für solchen Unfug einfach kein Platz.

Am nächsten Morgen konnte er sich noch schemenhaft an einen Traum erinnern: Ein hämisch grinsendes, winziges Männchen, welches Jan bei der Arbeit auf dem Rücken saß und ständig die Ergebnisse verschlimmbesserte, ärgerte ihn. Und, ja, er konnte sich an zwei kleine Hörner auf dessen Kopf erinnern, die zwischen grünen Zottelhaaren spitz hervor traten. Jan spürte eine Wut auf diesen Wicht, der ihm das Leben so schwer machte, aufkommen – irgendjemand oder was musste doch für sein Missgeschick verantwortlich zu machen sein. ‘Den nehme ich mir vor!’, war sein Gedanke, wusste aber nicht, wie. ‘Aber Teufel sind doch Hirngespinste von Leuten aus gruseligen Sekten. Quatsch mit Soße, war doch nur ein ganz blöder Traum.’

Die Tage gingen vorüber, der Aufsatz blieb eine Katastrophe, seine verlorene Geldbörse hatte er abgeschrieben, das blaue Auge vom Zusammenprall beim Handballspiel war schon nicht mehr so blau, und dass er beim Online-Spielen ständig verlor – na ja, ist ja nicht so schlimm. ‘Er ist wohl halt ständig da, mein persönlicher Begleiter, hat seinen Spaß mit mir.’ Nur Jan, der verlor bald jeden Spaß und sein ganzes Selbstvertrauen, denn einfach alles, was eben schief gehen konnte, ging schief. Seine Freunde lachten ihn nur noch aus und distanzierten sich zunehmend von ihm. “Mit Dir Blödmann und Loser wollen wir nichts mehr zu tun haben!”

‘Jetzt hat er es überspannt. Nun reicht es!’ In ohnmächtiger Wut kam Jan der Gedanke: ‘Ich müsste es diesem Wicht von Fehlerteufel mal so richtig heimzahlen. Dann wird er mich vielleicht in Ruhe lassen… Aber wie?’ Seine Aufgeregtheit war keine gute Voraussetzung für einen schnellen Gedankenblitz, doch nach Stunden erfolglosen Grübelns, endlich der erlösende Gedanke: ‘Oh, jetzt weiß ich…’ Schnell ging er an die Umsetzung seines Planes.

Auf dem Monitor prangte bereits die Überschrift für ein neues Aufsatzthema: Die Entwicklung der Europäischen Sprachen während der letzten 2000 Jahre – Gemeinsamkeiten und Unterschiede

Oh ja, das ist wohl das passende Aufsatzthema… Dabei kann ER mir helfen, wenn er denn kann… Die Wut spornte Jan kräftig an, und so nahm seine selbst gestellte Aufgabe mittels Wikipedia, diversen Diplom- und Doktorarbeiten sowie den verschiedenen Ländereinstellungen am Computer rasch Gestalt an. Russischer Font wechselte mit Altgriechisch, Latein mit Portugiesisch, Finnisch mit Serbokroatisch. Er zog wirklich alle Register seines Könnens und pausenlos füllten sich die Seiten. Noch nie in seinem Leben widmete Jan sich einer Aufgabe mit so großer Hingabe. Dann endlich, und 173 A4-Seiten weiter, konnte er ein Stöhnen aus undefinierbarer Richtung vernehmen, welches garantiert nicht bei Jan seinen Ursprung hatte, als er gerade von Alter Deutscher Rechtschreibung auf die neue Form wechselte. Vom Fußboden ertönte ein leichtes Poltern und seine Schulter fühlte sich irgendwie erleichtert an. “Hau bloß endlich ab! Geh und besuch Deine Großmutter!” Als er diesen Gedanken unbewusst ziemlich laut aussprach, ertönte ein Jammern, welches in seiner Intensität und nie gehörten Art Jan erschaudern ließ. “Ich, ich kann nicht mehr. Ich halt das einfach nicht mehr aus! Was, zum Teufel, ist in diesem blöden Text richtig, und was falsch… Omi, so hilf mir doch, bitte”, hörte er es schwach und weinerlich stöhnen, dann sprang krachend das Fenster auf. Danach war es wieder ruhig und Jan konnte es deutlich fühlen: Nun war er ganz allein und von seinem Plagegeist befreit. Mit einem erleichterten Gefühl ging er endlich schlafen.

Tage später:

“Nachdem ich mir Jans Aufsatz angesehen habe, kann ich feststellen, dass ihm hiermit eine besonders gute Arbeit gelungen ist. In allen Bewertungskriterien 100%. Sie haben deutliche Lernfortschritte gemacht. Jan, ich bin stolz auf Sie!”

In den folgenden Tagen und Wochen verwandelte sich Jan nahezu vollständig. War er wirklich mal dieser allerletzte Loser – dieser selbstbewusst auftretende Junge, um dessen Freundschaft alle buhlten? Einfach unvorstellbar. Auch seine Freunde nahmen an diesem Glück teil, denn was sie auch anpackten und sich vornahmen, alles klappte wie am Schnürchen. Der früher häufig verwendete Satz, “Da hast Du aber Glück gehabt”, verlor vollkommen an Bedeutung, denn diese Art von Glück war nun normal.

Nach einigen Monaten begann das Leben öde und langweilig zu werden. Früher, da konnte man sich ja noch richtig freuen, wenn man ein sich selbst gestecktes, schwieriges Ziel endlich nach harter Arbeit erreichen konnte. Weil es dieses Glücks- und Erfolgsgefühl nun nicht mehr gab, fingen die Leute an, mit sich und ihrer Arbeit nachlässig zu werden. Wer sich am Ende eines schwierigen Weges nicht mehr freuen kann, endlich am Ziel anzukommen, beginnt gar nicht erst mit der Wanderung! Und so konnte Jan spüren, wie es mit dem Leben der Leute nur so den Bach runter ging. Alle kümmerten sich nur noch um die wirklich notwendigsten Dinge. Essen und Trinken – na gut, Arbeit – bitte nicht. Selbst seinen Lehrern waren Missmut und Unlust deutlich anzusehen. Klassenarbeiten und Prüfungen waren bereits abgeschafft worden, da die Ergebnisse doch immer nur ziemlich gleichförmig ausfielen. Man dachte auch schon über Sinn und Unsinn des pädagogischen Personals nach.

Langsam bohrte sich der Gedanke in Jans Gehirn, dass er an dieser Entwicklung nicht ganz unschuldig sein könnte. Er dachte, wenn doch wenigstens eine verkleinerte und harmlosere Ausgabe des Fehlerteufels seinen Dienst tun würde, wäre das Leben wieder schön und lebenswert! Doch wie sollte er diesen Fehlerteufel wieder zurück bitten können, nachdem er ihn doch so sehr verärgert hatte. Und, vor allem, wie könnte er mit ihm Verbindung aufnehmen… Mit seinem Mailprogramm verfasste er diverse Bittschriften, die er an selbst erdachte, mit dem Fehlerteufel eventuell in Zusammenhang zu bringende Mailadressen schickte. In diversen Suchprogrammen war ernsthaft an keine passende Information zu kommen, außer Verweise zu kindgerechten Inhalten. Er schalt sich ja selbst einen Narren, aber es war doch schon sehr eigenartig, dass niemals eine Fehlermeldung des Providers zurück kam und scheinbar alles richtig zugestellt wurde…

Dann, an einem Nachmittag nach der Schule, fiel ihm beim Betreten seines Zimmers auf, dass das morgens fest verschlossene Fenster geöffnet war. Auch war sein Bett vorzüglich aufgeräumt. Da seine Mutter ihn in seinem Zimmer für gewöhnlich schalten und walten ließ, es eigentlich auch sehr selten betrat, und er es für gewöhnlich morgens nicht schaffte, noch für Ordnung zu sorgen, war er schon ein wenig erstaunt. Als das Fenster dann geschlossen war, bemerkte er anhand der Lüftergeräusche, dass sein PC lief. Allerdings hatte sich der Bildschirm abgeschalten. Die dann wieder erwachte Leuchtkraft der Bildröhre erweckte seine ganze Aufmerksamkeit. Ihm fiel ein in roten, fetten Buchstaben verfasster Text auf:

Hallo Jan!

Bitte verzeihe mir, dass ich Dich in den letzten Jahren so sehr geärgert habe. Ich sehe ein, ich habe großen Schaden unter die Menschen gebracht und mich fehlerhaft verhalten. Meine Großeltern haben mir sehr deutlich zu verstehen gegeben, dass mir, falls ich mich nicht bald ändern würde, ein Einsatz im Innendienst in der “Antragsstelle auf Genehmigung eines Antrags zur umweltgerechten Beseitigung alten Bratenöls” droht. Ich sehe ja ein, ich habe großen Mist gebaut, will nun aber alles besser machen. Falls Du mich wieder haben möchtest, werde ich Dir auch einen Deiner allerliebsten Wünsche erfüllen! (Ich kenne ja alle Deine Träume. Die zu erfahren, damit vertreibe ich mir immer die langweilige Zeit in der Nacht. Entschuldigung.) Wenn Du jetzt das Fenster wieder öffnest, so soll es mir das Signal sein, gleich wieder zu verschwinden.

Liebe Grüße,

Dein Fehlerteufel Markmurx jun.

Endlich gab es mal wieder einen richtigen Grund zur Freude! Und das seit wirklich langer Zeit! Natürlich blieb das Fenster zu und ich war gespannt darauf, wie sich das Leben in den folgenden Tagen für mich entwickeln würde. In Erwartung dessen schlief ich abends ein.

Auf dem Weg zur Berufsschule:

„Guten Morgen, Jan.”

„Morgen, Markus.”

Markus! Der, der mich mit seinem hübschen Engelsgesicht, den langen schwarzen Haaren und den großen Mandelaugen immer um den Verstand brachte. Und der, dessen Gestalt mir unruhige Träume bescherte. Der, in den ich mich schon im Kindergarten verliebt hatte, und dem ich immer nur hinterher schmachtete, weil ich, um ihn mal direkt anzusprechen, viel zu schüchtern war. “Du, Jan, sag mal, hast Du nicht Lust, mal etwas mit mir am Nachmittag zu unternehmen? Du hast mich doch nun schon so viele Jahre immer nur angeschaut, genau wie ich Dich…”

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