Eine Träne für dich

Der Zug bremste und ich lief durch den wackelnden Flur Richtung Ausgang. Livington. Hier war ich geboren. Häuser, die ich nicht kannte, wanderten an meinem Blickfeld vorbei. Der Zug kam nun endlich zum Stehen.

Der Polizist brachte mich zum Zug… freundlich winkte er mir zu und wünschte mir Glück.

Ich griff nach meiner Kette und spielte mit dem Anhänger. Das Amulett meiner Mutter. Ein Bediensteter öffnete von außen die Tür.

„Danke“, meinte ich, stieg aus und verdrängte die Erinnerung.

„Soll ich ihren Koffer nehmen?“

„Gerne“, meinte ich und reichte ihm mein Gepäck.

Ich sah mich kurz um. Nichts hatte sich an dem alten Bahnhof geändert. Vielleicht ein neuer Anstrich. Es sah fast genauso aus, wie vor dreißig Jahren, als ich den Zug bestieg.

„Kommen sie?“, fragte der Mann.

Ich schreckte aus meinen Gedanken heraus.

„Ja, sicher“, antwortete ich

„Da sie der einzige junge Herr sind, der aus dem Zug steigt, darf ich wohl annehmen, dass sie Mr. Summers sind.“

Ich war erstaunt.

„Ja… aber woher…“

„Die Agentur hat ihr Kommen gemeldet. Der Wagen, den sie bestellt haben, steht vor dem Bahnhof bereit.“

Ich lächelte und bedankte mich. Ich folgte dem Mann durch den kleinen Empfang hinaus auf die andere Seite. Er führte mich zu einem Z3 Cabriolet und öffnete den Kofferraum. Er legte den Koffer hinein und schloss die Klappe wieder.

Ich gab ihm ein Trinkgeld und er verschwand wieder im Bahnhofsgebäude. Ich warf meine Tasche auf den Rücksitz und stieg ein. Ein Blick nach vorne verriet mir meine eigene Dummheit.

Ich war in England, hier wurde links gefahren. Grinsend stieg ich aus und wechselte die Seite, um auf der Fahrerseite des Wagens einzusteigen. Ich startete den Motor und fuhr aus der Parklücke.

Sarah erwartete mich erst am Mittag. Dass ich einen früheren Flug aus den Staaten erwischt hatte, wusste sie nicht. So verließ ich auf der Hauptstraße den kleinen Ort Livington. Ich genoss die Natur um mich herum.

Die weiten Wiesen, die nur durch Natursteinmauern unterbrochen waren. Ich musste mich etwas zusammenreißen, um nicht auf die rechte Straßenseite abzukommen. Nach mehreren Ortschaften kam ich an einem Anwesen vorbei.

Gut, ich hatte mich verfahren, ich sah es ein. Ich bog zu dem Anwesen ein und rollte langsam über den nicht befestigten Weg. Kurz vor der Einfahrt des Anwesens sah ich einen Typen in meinem Alter.

Ich ließ den Wagen ausrollen und der Motor erstarb. Der Mann schaute auf, als ich ausstieg.

„Kann ich ihnen helfen?“, fragte er mit angenehmer Stimme.

„Wenn sie sich hier auskennen, ja“, antwortete ich und kratzte mich am Hinterkopf, „ich glaube, ich habe mich verfahren. Ich weiß nicht, wo ich hier bin.

„In England“, meinte der Typ und grinste frech.

„Soviel weiß ich auch“, erwiderte ich.

„Sie sind aus den Staaten… stimmts?“

„Ja…, aber woher wissen sie?“

„Weil sie auf der rechten Seite fahren.“

Ich schaute zum Wagen. Stimmt, ich stand auf der rechten Seite.

„Das hier ist Gordon Folk. Wo wollen sie denn hin?“, meinte der Typ und strich sich seine braunen welligen Haare aus dem Gesicht.

Ich schaute zu dem großen Haus. Das war also Gordon Folk, das Objekt meiner Begierde. Was für ein Zufall.

„Graves Point…“

„Dann fahren sie diese Straße circa 2 Meilen weiter und biegen dann nach rechts ab.“

„Danke…“, meinte ich, „… sie arbeiten hier?“

Der Typ lachte. Ein schönes Lachen, ein ansteckendes Lachen.

„Nein“, begann er, „ich helfe der alten Dame des Anwesens ab und zu ein paar Groschen zu sparen. Sie würde nie einen Handwerker durch diese Tore lassen.“

„Jetzt kann ja jeder ungehindert durchlaufen“, meinte ich und zeigte auf das Torteil, das auf dem Rasen lag, wo der Typ vor mir gerade daran gestrichen hatte.

Er grinste wieder und ich verlor mich kurz in seinen grünen Augen, bevor ich mich eines Besseren besann.

„Noch mal, danke“, meinte ich und ging wieder zurück zum Wagen.

Ich startete den BMW und drehte. Ein kurzes Lächeln und ich fuhr wieder zurück zur Landstraße. Ich folgte den Anweisungen des Typen und fand tatsächlich Graves Point. Ich durchquerte die Ortschaft.

Ziemlich am Ende kam ein kleines Schild >Sarah Holden< am Straßenrand. Ich bog links in den Feldweg und durchquerte einen kleinen Wald. Vor mir erschien ein kleines Cottage. Wieder ließ ich den Wagen ausrollen und stoppte kurz vor dem Gebäude.

Ein leises Hämmern machte mich neugierig. Ich folgte dem Geräusch. Als ich das Haus fast umrundet hatte, fand ich einen kleinen Schuppen. Ich klopfte an die Tür, aber es kam keine Antwort.

Ich zog an dem Seil und öffnete die Schuppentür. Als ich meinen Kopf hineinstreckte, sah ich Sarah, wie sie gerade an einer Skulptur arbeitete.

„Sarah?“, sagte ich leise, um sie nicht all zu sehr zu erschrecken.

Sie wirbelte herum.

„David…, ich habe dich erst am Mittag erwartet“, meinte sie und stürmte auf mich zu.

Sie fiel mir um den Hals und umarmte mich fest. Sarah und mich verband eine tiefe Freundschaft. Als damals meine Mutter starb und ich ins Waisenhaus verfrachtet wurde, war Sarah da, um mich aufzufangen.

Drei Jahre waren wir unzertrennlich, bis wir getrennt wurden. Ein reiches Ehepaar aus den Staaten adoptierte mich.

„Ich habe einen Flug früher genommen.“

Sie drückte mich von sich weg und musterte mich.

„Du siehst so fabelhaft aus. Und sowas bleibt der Frauenwelt vergönnt!“

„Danke“, meinte ich verlegen.

Sie schaute an mir vorbei.

„Bist du alleine gekommen?“.

„Ja…“, meinte ich und senkte den Blick.

„Oh…“

Ich zuckte mit den Schultern.

„Wie machst du das? Verjagst du alle Männer?“

„Sie gehen irgendwann alle von alleine…“, meinte ich etwas betrübt.

„Egal. Ich freue mich, dass du es endlich gepackt hast, in deine alte Heimat zu kommen.“

„Lang genug hat es gedauert… ich weiß.“

Mir fielen Bilder an der Wand auf. Mit Kohlestift gemalt. Ich ging darauf zu und betrachtete sie. Ich sah ein Zimmer mit vielen Betten.

„Denkst du ab und zu daran?“, meinte Sarah und umarmte mich von hinten.

„Jeden Tag… sowas kann man nicht vergessen.“

>Schrubbend auf dem Boden kniend spürte ich die Oberin im Nacken. Ich war ihr ein Dorn im Auge. Sie mochte mich nicht, weil ich auch so viel mit Sarah zusammen war.<

„Komm, lass uns einen Tee trinken“, meinte Sarah und riss mich aus den Gedanken.

„Ein guter Freund gibt morgen Abend eine Geburtstagsparty für mich und du gehst mit“, meinte Sarah, während sie mit eine Tasse voll schenkte.

„Ähm… du hast doch gar keinen Geburtstag“, sagte ich.

„Psst… verrate es nicht“, entgegnete Sarah und lachte fröhlich.

Ich schüttelte den Kopf, sie hatte sich nicht verändert. All die Jahre war unser Kontakt nicht abgebrochen und irgendwie hatte sie es geschafft, mich hier her zu locken, an den Ort, wo ich nie wieder hinwollte.

*-*-*

Der Tisch lag voller Geschenke und der Raum war voller Leute. Das Haus des Freundes gefiel mir. Er war stilvoll, aber schlicht eingerichtet.

„Hallo Lucas, darf ich dir David Summers vorstellen, meinen Freund aus den Staaten“, hörte ich Sarah rufen.

Ich drehte mich um und sah in die gleichen Augen wie am Vormittag. Nur stand da nicht der Typ in verwaschener Janes und farbverschmierten Hemd, sondern ein elegant gekleideter Mann im Anzug.

„Der Mann mit dem Hotelimperium?“, meinte dieser Lucas und reichte mir die Hand.

„Ihre Queen hat ein Imperium, ich vermiete nur Betten an Leute“, erwiderte ich und schüttelte seine Hand.

Er hatte das gleiche Lächeln wie am Vormittag auf den Lippen. Wieder verlor ich mich in den Augen, bis Sarah mich von der Seite anstieß und mir ein Sektglas reichte.

„Auf uns“, meinte Sarah und stieß mit mir an.

Später saßen wir auf Lucas’ Terrasse und schauten dem Sonnenuntergang zu.

„Und sie sind Architekt?“, fragte ich.

„Schuldig im Sinne der Anklage“, meinte Lucas und nippte an seinem Whisky.

„So, die Letzten sind gegangen“, hörte ich Sarah sagen.

Sie stand angelehnt an der Terrassentür. Ihr Gesicht war bleich und fahl.

„Alles in Ordnung mit dir?“, fragte Lucas.

Mit dieser Frage war er schneller.

„Ja…“, meinte Sarah und lief langsam zum nächsten Stuhl.

Ich sprang auf und half ihr, als ich bemerkte, wie sie schwankte.

„Soll ich einen Arzt rufen?“, fragte Lucas besorgt.

Sarah ließ sich auf einen Stuhl sinken und schüttelte den Kopf.

„Das bringt nichts…“, sagte Sarah leise.

„Aber dir ist nicht gut“, versuchte ich sie zu überzeugen.

„Das machen die Tabletten.“

„Welche Tabletten?“, fragte ich.

„Gegen den Krebs… nur so kann ich die Schmerzen ertragen.“

*-*-*

Lucas stand neben mir, als der Pfarrer die letzten Worte sprach. Ich legte eine Rose auf den Sarg und ging. Lucas folgte mir.

„Warum hat sie denn niemandem etwas davon erzählt?“, fragte ich traurig.

„Sie wollte das Mitleid der Leute nicht…“

Ich blieb an einem Baum stehen und atmete tief durch.

„Sie hatte eine schwere Kindheit… sie war immer so offen und nun… Geburtstagsparty… es war ihre Abschiedsparty“, meinte ich sarkastisch und wischte mir die Tränen aus den Augen.

Ich spürte Lucas Hand auf meiner Schulter.

„He… sie ist bei ihren Freunden gestorben und so hat sie es sich gewünscht.“

Ich zuckte mit den Schultern.

„Es ging alles so schnell…, sie hatte es gewusst und nichts gesagt…“

„Was hast du jetzt vor?“

Ich schaute auf.

„Ich wollte eigentlich gar nicht kommen…, Sarah hat mich so bekniet. Und jetzt… jetzt möchte ich nicht mehr weg von hier. Sie hat mir alles hinterlassen… es gehört mir.“

„Sarah hat erzählt, du bist hier geboren?“

Ich nickte.

„Aber recht früh nach Amerika gegangen.“

„Willst du in dem alten Cottage von Sarah wohnen, oder im Hotel bleiben?“

Ich sah ihn an.

„Du könntest bei mir wohnen… du weißt, ich habe eine Menge Platz…“, sagte Lucas leise.

„Ich weiß nicht…“

„Ich würde mich freuen… Du hättest auch dein eigenes Reich…“

Ich nickte und er klopfte mir freundschaftlich auf die Schultern.

„Danke.“

„Und noch mal die Frage, was hast du jetzt vor?“

„Gordon Folk kaufen und es wieder herrichten und du hilfst mir dabei.“

„Gordon Folk ist nicht zu verkaufen.“

„Du willst dich nur drücken.“

„Ich scheue keine Arbeit, aber Gordon Folk ist wirklich nicht zu verkaufen. Die alte Dame trennt sich schon ungern von jedem Groschen. An diesem Grundstück und Haus hängt ihr ganzes Herz.“

Ich schaute mich um.

„Was suchst du?“

„Den Grabstein meiner Mutter“, antwortete ich.

„Sie liegt hier?“

„Ich weiß es nicht!“

In den nächsten Tagen durchforstete ich mit Lucas Sarahs Haus, das sie mir vermacht hatte. Ich packte ein, was mir gehörte und verschloss das Haus. Die Kohlestiftbilder von Sarah hatte ich unter dem Arm.

*-*-*

„David, ich habe dir doch gesagt, du sollst nicht hierher kommen. Wenn dich Mrs. Amsmus entdeckt, kriege ich Ärger.“ „Mr. Hampton meinte, wenn du nicht bezahlst, brauche ich nicht mehr kommen“ Sie zog ihr Amulette aus und legte es in meine Hand. „Gib das Mr. Hampton, ich zahle nächste Woche. Und nun geh, bevor Mrs. Amsmus kommt.“ Doch es war zu spät. Mrs. Amsmus machte einen ihrer zahlreichen Kontrollgänge. „Schnell, versteck dich da hinter den Kisten und komm erst wieder raus, wenn ich es sage.“ Ohne ein Wort zu sagen, versteckte ich mich hinter den Kisten. Meine Mutter nähte weiter und begann zu husten, als Mrs. Amsmus neben ihr stehen blieb. „Jane, du musst schneller werden, sonst kann ich dich hier nicht mehr lange beschäftigen!“ „Mrs. Amsmus, ich werde schneller.“ Das sagst du jedes Mal.“ Die Frau lief weiter und meine Mutter fing an zu husten. Sie nahm ein Taschentuch vor den Mund, doch der Husten wollte nicht besser werden. Sie stand langsam auf und beugte sich etwas vor. Der Husten hörte nicht auf. Bis meine Mutter zu Boden fiel und sich nicht mehr bewegte.

Ich schreckte aus dem Schlaf heraus. Jede Nacht die selben Bilder. Es blitze und donnerte. Draußen konnte ich Pferde hören. Ich sprang aus dem Bett und lief zum Fenster. Draußen versuchte Lucas, seinen zwei Pferden Herr zu werden.

Ich schlüpfte in meine Turnschuhe, zog meine Jacke über und lief nach draußen. Heftig trieb es mir den Regen ins Gesicht.

„Kann ich dir helfen?“, rief ich.

„Ich muss die zwei in den Stall bringen“, hörte ich Lucas.

Ich schnappte mir ein Seil und betrat das Gatter. Wenig später standen beide in ihren Boxen.

„Sie ist ein schönes Pferd“, meinte ich und streichelte ihr über die Nüstern, „ sie wird sicherlich ein ebenso schönes Fohlen zur Welt bringen.“

Ich drehte mich zu Lucas, der hinter mir stand.

„Du siehst auch gut aus“, meinte Lucas und lächelte.

Ich starrte ihn mit großen Augen an.

„Sarah hat mir viel… von dir erzählt… auch dass du…“

„… dasd ich schwul bin“, beendete ich den begonnen Satz.

Lucas nickte und sein Grinsen wurde zu einem Lächeln. Sein Gesicht näherte sich langsam und wenige Sekunden später spürte ich seine Lippen auf meinen. Ich war nicht fähig, ihn in die Arme zu nehmen, ich war stocksteif vor Kälte.

„Du frierst ja“, meinte er.

Ich öffnete die Jacke und er sah, dass ich darunter nur meine Schlafhorts und ein Tshirt anhatte.

„Kein Wunder. Komm, lass uns ins Haus gehen!“

Durchnässt folgte ich ihm ins Haus. Er warf mir ein Handtuch zu, während ich mich meiner nassen Turnschuhe entledigte. Als ich die Jacke an die Gardarobe hing, stand Lucas plötzlich hinter mir.

Er tupfte über mein tropfendes Gesicht und seine Augen funkelten im Schein des Kamins. Langsam zog er mich an sich und unsere Lippen trafen sich erneut.

*-*-*

Ich ließ Honig auf mein Brötchen fließen, während Lucas an seinem Kaffee nippte.

„Im Generel Register Office sind alle Sterbefälle genau registriert…“, hörte ich ihn sagen.

„Bitte?“, fragte ich noch im Gedanken.

„Du suchst doch deine Mutter… im Generel Register Office sind alle Sterbefälle der letzten, was weiß ich wie viel Jahre aufgenommen.“

„Dann werde ich da mal heute Morgen vorbei schauen.“

„Und ich werde mal vorsichtig bei Lady Folder vorfühlen und sie auf ein weiteres Kaufgebot vorbereiten.“

„Ich dachte, sie verkauft nicht.“

„Bisher hat sie jedes Angebot abgelehnt.“

„Zu wenig Geld?“

„Am Geld lag es bestimmt nicht…“

Zwei Stunden später fuhr ich auf den Parkplatz des Generel Register Office. Ich lief die schwungvolle Treppe zur großen Tür hinauf und betrat das Haus. Hinter einer aus dunklem Holz gefertigten Theke, saß ein Mann.

Er war am telefonieren und beachtete mich erst gar nicht. Artig stand ich da, bis er den Hörer auflegte.

„Sie wünschen?“, fragte er, ohne aufzublicken.

„Ich suche nach meiner verstorbenen Mutter…“

„Name?“

„Also … ich weiß nur den Vornamen… Jane.“

Nun schaute der Mann interessiert hoch.

„Ich war erst vier Jahre alt, als ich von meiner Mutter getrennt wurde. Mit sieben wurde ich von einer amerikanischen Familie adoptiert… ich kann mich nicht an den Nachnamen erinnern.“

„Ohne Namen kann ich ihnen nicht weiterhelfen.“

Was sollte ich denn jetzt tun?

„Wissen sie, wo ihre Mutter gestorben ist?“

„Ja… in meinem Geburtsort… Livington…“

„Dann sollten sie dort in den Kirchenbüchern schauen, ihre Geburt müsste registriert sein. Oder bei der örtlichen Polizei, dort müsste ihre Mutter ja gemeldet gewesen sein, denn so viele Jane’s, wird es ja nicht gegeben haben.“

„Ich danke ihnen!“

„Nichts zu danken.“

Also fuhr ich die ganze Strecke zurück direkt zur Polizei. Ein weiblicher Officer verließ gerade das Haus.

„Hallo. Können sie mir sagen, ob der Chief zu sprechen ist?“, fragte ich höflich.

„Steht vor ihnen.“

„Oh… Verzeihung… sie sind so… jung.“

„Das höre ich öfter.“

So erzählte ich ihr meine Geschichte in Kurzfassung. Sie hörte geduldig zu.

„Ich wollte fragen, ob der Polizist, der mich zu der Zeit zum Zug brachte, noch im Dienst ist.“

„Das kann eigentlich nur der alte Freddy sein. Nein, er ist seit 4 Jahren in Pension und…“

„Können sie mir seine Adresse geben?“

„Ja, klar.“

Wenig später saß ich wieder im Wagen und fuhr zum Ort hinaus. Es dauerte etwas, bis ich das kleine Anwesen am Ortsrand erreichte. Vor mir tat sich das weite Land auf. Saftige Wiesen, unterbrochen von einzelnen Baumgruppen.

Auf einer Koppel mit Schafen sah ich einen Mann im Rollstuhl sitzen. Eine Frau trat aus dem Haus und kam auf mich zu. Ich erzählte ihr mein Anliegen.

„Ich weiß nicht, ob ihnen mein Mann weiterhelfen kann… Seit er vor zwei Jahren den Schlaganfall hatte… ist er nicht mehr derselbe.“

Etwas entmutigt betrat ich die Koppel, bis ich >Freddy< auf seinem Rollstuhl erreichte.

„Morgen, Sir.“

„Morgen mein Junge. Sind das nicht prächtige Tiere?“, fragte er und schaute mich kurz an.

Ich nickte und ging neben ihm in die Hocke.

„Sir, ich weiß nicht ob sie mir weiterhelfen können. So vor ungefähr dreißig Jahren, haben sie einen kleinen Jungen zum Bahnhof gebracht…, das war ich. Meine Mutter war gestorben und ich im Waisenhaus. Wissen sie vielleicht noch etwas über meine Mutter?“

Er schaute mich lange an.

„Gold… die Haare so golden…“, sinnierte er.

Dann wanderten seine Augen wieder zu den Schafen.

„Sie brauchen viel Auslauf“, sprach er dann weiter, als wäre ich nicht mehr anwesend.

Enttäuscht ging ich zurück zum Haus, wo mich die Ehefrau schon erwartete.

„Eine Tasse Tee?“, fragte sie.

Ich nickte.

Wenig später saßen wir vor dem Haus an einem kleinen Tisch.

„Ich kann mich noch etwas daran erinnern, dass Freddy damals noch mal in den Ort gerufen wurde“, erklärte dessen Frau, „er hat sie zum Bahnhof gebracht, aber wie ihre Mutter hieß, daran kann ich mich nicht erinnern.“

Völlig entmutigt trank ich meinen Tee.

„Sie sollten es vielleicht bei Pastor Duke probieren. Er war damals dabei, er müsste eigentlich alles noch wissen.“

„Lebt er noch hier?“

„Er ist sogar noch im Amt.“

Wenig später fuhr ich vor der anglikanischen Kirche vor. Die Tür stand offen. Ich betrat die Kirche und fand den Pastor auf einer Leiter vor. Er schien wohl gerade eine Birne in einer Lampe auszutauschen.

„Kann ich ihnen helfen?“, fragte er von der Leiter herab.

Eine Frau, die am Altar sauber machte, drehte sich zu uns um. Wieder erzählte ich meine Geschichte und mir blieb nicht verborgen, dass sich das Gesicht des Pastors verfinsterte.

„Da kann ich ihnen nicht weiter helfen…“

„Aber…“

„Das ist viel zu lange her, als dass ich mich erinnern kann… sie müssen mich entschuldigen…, aber ich habe noch Einiges zu tun.“

Die Frau hinter dem Pastor schaute mich traurig an.

„Danke… für ihre Zeit“, meinte ich und verließ das Gotteshaus.

Warum war er jetzt so feindselig? Mein Handy klingelte. Ich zog es aus der Jacke.

„Ja?“

„Hallo David, hier ist Lucas, wo bist du gerade?“

„In Livington, wieso?“

„Könntest du nach Gordon Folk herauskommen? Die alte Lady will sich deinen Vorschlag anhören.“

„Kein Problem.“

„Und wie verläuft deine Suche?“

„Später… ich bin in einer viertel Stunde ungefähr bei dir.“

„Okay… bye!

„Bye.“

Ich fuhr noch schnell zu Lucas’ Anwesen, um meine Unterlagen zu holen. Wie versprochen traf ich eine viertel Stunde später in Gordon Folk ein. Ich fuhr die große Auffahrt hinauf. Das Gebäude war sehr imposant.

Es wirkte viel größer, als auf den Bildern, die mir Sarah hatte zukommen lassen. Wenig später traf ich mit Lucas und Lady Folder zusammen. Anhand meiner Unterlagen unterbreitete ich ihr meine Pläne und mein Kaufgebot.

Sie selbst hatte irgendwann mal begonnen zu renovieren. Doch es war alles mit großen Kosten verbunden. So standen in jedem Zimmer vereinzelt Gerüste. Alles in allem war es eine riesige Baustelle.

„Und sie wollen wirklich alles restaurieren… die bisherigen Angebote waren mit Baggern und Abriss verbunden. Sie sehen, ich habe mich selbst probiert… aber das liebe Geld.“

Ich nickte.

„Das wird teuer!“

„Das weiß ich, aber das Haus ist es wert, es zu erhalten.“

„Stimmt und ein Hotel im Ort, das würde der Infrastruktur der Gegend gut tun“, mischte sich Lucas ein.

„Okay… sie bekommen es, aber ich werde von Zeit zu Zeit schauen, ob sie sich auch an alles halten, was sie mir da eben versprochen haben.“

„Kein Problem.“

Lucas lief mit mir durch den Garten des Anwesens.

„Und wann könntest du anfangen?“, fragte ich.

„Sobald ich die Pläne durch habe, also nächste Woche.“

„Gut, dann kann ich ja schon mal das Geld anfordern.“

„Und, wie war deine Suche.“

Ach so, die Suche. Daran hatte ich gar nicht mehr gedacht.

„Nach deinem Gesicht zu urteilen… erfolglos.“

„Ja… ich weiß ja nicht mal ihren Nachnamen und niemand scheint sich so recht an sie zu erinnern.“

„Irgendetwas werden wir schon finden.“

Ich zuckte mit den Schultern und lief weiter den Weg entlang.

*-*-*

Zwei Wochen später hing ich bereits über den Plänen. Der Stuckateur hatte zwei Wände des großen Kaminzimmers fertig, als ihm eine kleine Unebenheit in der Wand auffiel. Bei näherer Untersuchung stellte man fest, dass das Mauerwerk der dritten Wand im oberen Teil zur Decke hin komplett ausgetauscht werden musste.

So saß ich nun über den Plänen, wie man es umgehen konnte, Teile der neuen Wände mit zu beschädigen. Ich spürte ein leichtes Tippen auf meiner Schulter.

„David?“, hörte ich Lucas Stimme.

Ich drehte mich um.

„Die Frau des Pastors hat dies gerade für dich abgegeben“, meinte er und reichte mir einen Umschlag.

„Kannst du mir weiterhelfen?“

„Bei was?“

„Die dritte Wand muss fast vollständig ersetzt werden und das geht nicht, ohne die rechte Seite zu beschädigen.“

Ich zeigte auf die Wand und Lucas verstand, was ich meinte.

„Was liegt hinter dieser Wand?“, fragte Lucas.

„Das Esszimmer…“

„Wie wäre es mit einem Durchbruch und später einer Verbindungstür? Da könnte man den Teil stehen lassen und bräuchte das bereits restaurierte nicht angreifen.“

Ich schaute auf die Pläne und fand, dass dies gar keine so schlechte Idee war.

„Ob das die Decke trägt?“, fragte ich besorgt und öffnete nebenbei den Umschlag, den mir Lucas gegeben hatte.

„Wir ziehen einen Querträger ein und schon ist genug Stabilität gegeben.“

Ich zog ein Blatt aus dem Umschlag und faltete es auf.

>Ihre Mutter heißt Jane Gold<

Ich ließ das Blatt sinken und schaute zu Lucas.

„Die Frau vom Pastor hat dir das gegeben?“

Lucas nickte.

„Das meinte der alte Freddy mit Gold, er konnte sich an den Namen noch erinnern… ich hatte es nur nicht verstanden.“

„Was wirst du jetzt tun?“

„Nach London fahren zum Generel Register Office.“

David legte sanft seine Hand auf meine Wange und wischte mir eine Träne weg. Ob ich nun endlich das Grab finden würde? Am Mittag war ich bereits unterwegs nach London, denn ich wollte mir Gewissheit verschaffen.

Dort angekommen, saß der gleiche Mann wie vor Wochen hinter der Theke.

„Haben sie den Namen?“

„Ja, Jane Gold.“

„Dann kommen sie mal mit“, meinte er und erhob sich.

Ich folgte ihm durch ein Wirrwarr von Gängen voll mit Regalen.

„1970 sagten sie?“

„Ja, so ungefähr“, meinte ich.

„Hier… Livington 1950 bis 1980.“

„Danke!“, meinte ich und der Mann ließ mich alleine.

Ich zog das nahe liegendste Buch heraus, das mit der Aufschrift 1970. Ich begann darin zu blättern und suchte nach dem Namen Gold. Nach einer halben Stunde rieb ich mir die Augen und schloss das Buch.

Kein Eintrag. So nahm ich mir das nächste Buch vor. Und so ging es weiter und weiter. Nach etwa zwei Stunden kam der Mann zurück.

„Und, etwas gefunden?“

Ich schüttelte den Kopf und rieb mir erschöpft über das Gesicht.

„Dann muss sie noch leben.“

„Bitte?“

„Sie muss leben, denn alle Sterbefälle werden genau registriert.“

„Und im Ausland…“

„Sie kennen die penible Gerichtsbarkeit der Engländer anscheinend nicht, auch dies wäre hier vermerkt.“

„Sie lebt…?“

Der Mann nickte.

*-*-*

Ich saß mit einem Glas Rotwein vor dem Kamin, starrte ins Feuer und immer wieder tauchte das Wort WARUM auf.

„Wirst du sie aufsuchen?“, hörte ich Lucas leise fragen.

Ich schaute auf. Er stand am Tisch und hatte den Zettel mit Mutters Adresse in der Hand.

„Warum sollte ich…?“

„Du hast nach ihr gesucht.“

„Da dachte ich auch, sie wäre tot.“

„Und was ändert das jetzt? Sie lebt…, freu dich doch!“

„Wie kann ich mich da freuen?“

„Ich verstehe dich nicht.“

„Warum hat sie mich hergegeben… warum?“

„Sie wird schon ihre Gründe gehabt haben.“

„Gründe?“, ich lachte kurz sarkastisch auf, „sie wollte mich nicht haben.“

Ich trank den Rotwein mit einem Zug hinunter und schenkte mir nach.

„Das weißt du doch nicht…“, kam es von Lucas.

„Sie hatte dreißig Jahre Zeit, mich zu finden und was war? Nichts!“

„Du kannst doch nicht einfach deine Mutter verurteilen… solange du nicht ihre Geschichte gehört hast.“

„Die kenne ich bestimmt schon“, meinte ich und trank wieder einen kräftigen Schluck Wein.

„Fehlt dir das Vertrauen… etwas Vertrauen in deine Mutter?“

„Ich habe schon lange mein Vertrauen in die Menschheit verloren. Jeder ist sich nur selbst der Wichtigste, egal was andere tun.“

Ich goss mir Rotwein nach, während ich Lucas’ fassungslosen Blick registrierte.

„Ist das wirklich deine Meinung?“

„Weißt du… als mich meine Eltern adoptierten, war die Welt noch heil. Vier Jahre danach bekam meine Adoptivmutter ein eigenes Kind. Von dem Augenblick wurde ich immer uninteressanter und schließlich wurde ich ganz abgeschoben… auf ein Internat. Da ist nicht mehr viel mit Vertrauen…“

„Machst du es dir nicht etwas zu leicht? Wenn es schwierig wird, umdrehen und wegdrehen… die Schuld haben die anderen!“

Darauf konnte ich nichts antworten.

„Hör auf, vor dir selbst wegzurennen, du bist das Problem, nicht die Anderen. Ich habe mir auch geschworen, nach meiner letzten Beziehung, niemals mehr einen Freund zu haben. Aber ich merkte schnell, ich gehe daran ein. Doch wenn du so denkst, dann lass ich es lieber, bevor ich daran kaputt gehe.“

Ich stand fassungslos da und Lucas machte kehrt.

„Okay… dann mal gute Nacht“, meinte Lucas und verließ das Kaminzimmer.

Ich schaute ihm traurig hinterher. Keine Umarmung… kein Kuss. Zornig feuerte ich das Glas in den Kamin, stützte mich auf den Sessel und versuchte, die Tränen zurückzudrängen, die mir in die Augen schossen.

Ich saß am nächsten Morgen in meinem Wagen. Lucas hatte ich beim Frühstück nicht angetroffen, er hatte schon zeitig das Haus verlassen. Mir war eh nicht nach Reden zumute. Schon zwei Ortschaften hatte ich durchquert, die nächste sollte es sein.

Hampire. Wie Livington eine weitere kleinere Ortschaft. Ich fragte mich nach der angegebenen Adresse durch, bis ich vor einem kleinen alten Haus stand. Ich drehte den Zündschlüssel und der Motor erstarb.

Langsam öffnete ich meine Wagentür und stieg aus. Wieder schaute ich auf den Zettel, um mich zu vergewissern, dass die Adresse stimmte. Ich schloss den Wagen und betrat die kleine Treppe, die durch den nett angelegten Vorgarten führte.

Ich stand vor der dunklen Haustür und hob langsam die Hand. Noch einmal tief durchatmen und ich klopfte an. Ich wartete, hörte aber von drinnen keinen Laut. Die Tür blieb verschlossen. Ich klopfte noch einmal, aber ohne Reaktion.

Ich ging zwei Schritte zurück und schaute mich um. Ich hörte neben dem Haus ein Geräusch und folgte diesem. Eine Seitentür stand offen und eine ältere Frau trat heraus.

„Sind sie Jane Gold?“, fragte ich, die Frau erschrak.

Sie hatte mich anscheinend nicht gehört.

„Ja… kann ich ihnen helfen.“

„Ähm… ich bin David… ihr Sohn…“

Mit großen Augen schaute die Frau mich an.

„David…?“

Ich nickte. Sie stand da und starrte mich nur an.

„War wohl keine gute Idee, herzukommen“, meinte ich und machte mich auf den Rückweg.

„David… halt, warte bitte.“

Ich drehte mich um.

„Wieso? Damit du mir erzählen kannst, warum du mich nicht wolltest?“

Ich schien sie gekränkt zu haben, ihre Augen wurden glasig. Wer fragte aber, wie gekränkt ich mich fühlte. Wie sehr ich sie vermisst hatte, mich nach ihr gesehnt hatte, im Glauben, sie wäre tot.

„David… bitte lass mich erklären…“

Sie wies mit der Hand ins Haus. Ich ging die Schritte zurück und betrat mit ihr das Haus. Es war schlicht eingerichtet. Keine Bilder an den Wänden. Ich folgte ihr in die Küche. Sie ging an einen Schrank und holte eine Schuhschachtel hervor.

Sie öffnete den Deckel und zog einen großen Stapel Briefe hervor.

„Das sind alles Briefe von Ämtern, Behörden… Hilfseinrichtungen… die ich ohne Hinweis auf dich zurückbekommen habe.“

Sie schmiss den Stapel auf den Tisch.

„Du hast mich gesucht?“

„Ja, klar habe ich dich gesucht. Als du dich damals zwischen den Körben versteckt hast, bekam ich einen Hustanfall, schlimmer als je zuvor. Mir wurde schwarz vor Augen und ich brach zusammen. Ich wachte erst wieder im Krankenhaus auf. Dort wurde mir gesagt, dass du vorübergehend im Waisenhaus einquartiert wurdest.“

„Ja, das war ich, aber man sagte mir dort, du wärst tot… und ich wurde dann von einer Familie aus Amerika adoptiert.“

Meine Mutter atmete tief durch und sank auf einen Stuhl.

„Als ich wieder bei Kräften war, ging ich zu dem Waisenhaus, ich wollte dich wieder zu mir holen. Aber alles, was die mir sagten, du wärst nicht mehr da… Auf mein Drängen hin, mehr Informationen frei zugeben, weigerten die sich und warfen mich raus.“

„Aber das is doch ungesetzlich.“

„Das war denen egal… ich habe so viele Frauen kennen gelernt, die das gleiche Schicksal erlitten haben. Allein erziehende Mütter denen die Kinder weggenommen wurden.“

„Das ist ein Skandal.“

„Ja, das war es, als die Geschichte ans Tageslicht kam… aber da war es zu spät, deine Spuren waren verwischt.“

Mir standen mittlerweile selbst die Tränen in den Augen. Sie hatte mich wirklich gesucht…

„Mir ist nur Misstrauen entgegen geschlagen. Als die Sache heraus kam und seine Kreise zog, war es endgültig aus. Ich bekam keinerlei Informationen, da alle Akten in der Sache vernichtet worden waren.“

Ich setzte mich zu ihr an den Tisch. Zaghaft nahm ich ihre Hand in die meine.

„Und wie hast du mich gefunden…?“

„Ich war hier, um eine Freundin aus dem Waisenhaus zu besuchen… sie ist gestorben… und auf dem Friedhof… kam mir die Idee, dein Grab zu suchen.“

„Du bist das erste Mal wieder hier?“

„Ja.“

„Warum hast du so lange gewartet… du musst doch jetzt… 36 sein, oder?“

„Ja… bin ich. Ich war in den letzten Jahren sehr mit Arbeit eingespannt. Ich führe mittlerweile eine große Hotelkette in den Staaten. Und Sarah… meine verstorbene Freundin hat mich bekniet, herzukommen… mich sozusagen mit einem Objekt hier hergelockt.“

„Objekt?“, fragte meine Mutter.

„Ja, Gordon Folk…, ich habe es gekauft.“

Ein Lächeln machte sich über dem Gesicht meiner Mutter breit.

„Gekauft? Hast du denn soviel Geld?“

„Mutter…, in meinem Beruf redet man nicht über Geld.“

„Bist du verheiratet… hast du Kinder?“

Autsch, darüber hatte ich gar nicht nachgedacht. Aber wir hatten mit den Wahrheiten angefangen, ich sollte damit nicht aufhören.

„Also das ist so… nein, ich bin nicht verheiratet… keine Kinder.“

„Schade.“

„Daraus wird auch nichts… werden.“

„Wieso?“

„Ich bin… schwul…“

Ich war auf alles gefasst, nur nicht auf die Reaktion meiner Mutter.

„Gibt es wenigstens einen Schwiegersohn?“, meinte sie lächelnd und drückte dabei meine Hand.

„Es gibt da jemanden… ihn aber als Schwiegersohn zu bezeichnen?“

„Liebst du ihn?“

„Ja…“

„Aber?“

Ich ließ die Hand meiner Mutter los und verschränkte die Arme vor meiner Brust.

„Ich weiß nicht recht…“

„Was weißt du nicht?“

„Ich bin mir nicht sicher… ob das etwas wird.“

„Wenn du es nicht probierst, wirst du es nie wissen.“

„Ich bin so oft enttäuscht worden…, ich weiß nicht, ob ich das nötige Vertrauen aufbringen kann.“

„David…, ich habe mich nach deinem Vater nie wieder in einen Mann verliebt… Möglichkeiten gab es genug, doch ich wollte es nicht. Und jetzt sieh mich an… ich bin eine alte Frau und lebe alleine… spreche mit meinen Pflanzen, verbringe die meiste Zeit im Garten.“

Traurig dachte ich an Lucas, den ich wahrscheinlich schon verloren hatte.

„Du hast jetzt mich.“

„Hab ich das?“

Zögernd nickte ich, ohne mir darüber im Klaren zu sein, was werden sollte. Ich griff an meinen Hals und öffnete den Verschluss meiner Kette. Ich zog sie aus und legte sie in die Hand meiner Mutter.

„Wer war mein Vater?“

Erstaunt sah sie sich die Kette an.

„Die hast du noch?“

„Das Einzige, was mir von dir geblieben war.“

Lächelnd betrachtete sie sich die Kette, bevor sie sie mir zurückgab.

„Dein Vater war ein feiner Mann.“

„Na ja, so fein konnte er nicht sein…, er hat dich mit mir sitzen lassen.“

„Hat er nicht… Er wusste nicht mal, dass es dich gibt.“

„Bitte?“

„Dein Vater war verheiratet… ich im Dienste seiner Familie. Jung und naiv verliebte ich mich in ihn.“

„Er hätte für dich sorgen können.“

„Nein, das wollte ich nicht…“, meinte meine Mutter.

Sie atmete tief durch und räumte die Briefe in die Schachtel zurück. Ich wollte nicht mehr fragen. Sie würde es mir schon erzählen, wenn sie dazu bereit war.

„Um auf deinen Freund zurück zukommen… verschenk nicht die Chance, die du hast… nicht dass du es bereuen wirst.“

Sie nahm meinen Kopf in die Hand und küsste mich auf die Stirn.

*-*-*

Ich fand Lucas am Stall. Er stand auf einer Leiter und hämmerte etwas am Dach.

„Hallo…“, meinte ich.

Er setzte ab und schaute auf mich herunter.

„Hallo…“

Er legte den Hammer beiseite und stieg zu mir herunter.

„Ich habe…“, begann ich, aber Lucas unterbrach mich.

„David… nach unserem letzten Gespräch ist mir deutlich geworden, dass wir wohl nicht zusammen kommen sollten.“

„Du hattest Recht, Lucas… mit allem, was du gesagt hast.“

„Was hat dich zu dem Sinneswandel gebracht?“

„Meine Mutter… ich habe sie gefunden… mir sind viele Dinge eingefallen… die ich einfach verdrängt habe.“

Lucas sagte nichts, starrte mich einfach nur an.

„Habe ich denn überhaupt noch eine Chance?“, fragte ich.

Lucas schaute zu Boden und schüttelte den Kopf.

„Ich habe einen Auftrag in Frankreich angenommen. Kommenden Monat bin ich weg.“

Mir stiegen die Tränen in die Augen.

„Na dann“, meinte ich und zuckte mit den Schultern.

Ich drehte mich um und ließ Lucas stehen. Es wurde eine schlaflose Nacht mit vielen Tränen.

Am nächsten Morgen ging ich wieder meiner Arbeit nach. Lucas ging mir so gut es ging aus dem Weg, es war auch besser so. Irgendwann entschloss ich mich, auch wieder in das Haus von Sarah zu ziehen, um nicht in Lucas’ Arme zu laufen.

Die Restaurierung ging gut voran und an den Mittagen traf ich mich mit meiner Mutter, denn wir hatten uns viel zu erzählen. Sie gab mir Tipps für den Garten und brachte mich auch darauf, Sarahs Haus in ein Art Museum umzuwandeln.

Die Wochen vergingen und ein Raum nach dem anderen wurde fertig gestellt. Am Abend vor der Fertigstellung durchschritt ich die Räume.

„Das ist ja wunderbar geworden!“

Ich drehte mich um, Lady Folder war gekommen.

„Nicht in meinen kühnsten Träumen hätte ich geglaubt, dass das Haus wieder in seinem alten Glanz erscheint.“

Ich lächelte.

„Junger Mann, sie haben tolle Arbeit geleistet“, meinte sie und reichte mir dir Hand, „Danke!“

„Es freut mich, dass es ihnen gefällt.“

„Gefallen? Es ist traumhaft“, meinte sie und drehte sich einmal um die Achse.

„Ist Lucas nicht da?“, fragte sie, als sie mich wieder ansah.

Ich senkte den Kopf. Sie nahm meine Hand.

„Manchmal muss man sein Glück selbst in die Hand nehmen…, dafür kämpfen“, meinte sie.

„Dazu ist es wohl zu spät…“ erwiderte ich.

„Ach was. Fürs Kämpfen ist es nie zu spät!“

Mit diesen Worten ließ sie mich alleine, während ich am Fenster stand.

*-*-*

Am nächsten Morgen gab es einen kleinen Umtrunk mit den Bauleuten, wo ich offiziell die Schlüssel zum Haus überreicht bekam. Meiner Mutter war auch anwesend. Sie freute sich für mich und bestaunte das Haus.

Am kommenden Wochenende war eine kleine Feier geplant, auch zum Andenken an Sarah. Den ganzen Tag gab es noch Kleinigkeiten, die ich noch zu erledigen hatte. So kam ich erst am Abend zurück, als es schon dunkel wurde.

Ich hatte in allen Zimmern im Erdgeschoss Lichter angemacht und trat dann in den Garten von Gordon Folk. Meine Mutter hatte mir einen Korb voller Gras mitgegeben. Im gewissen Abstand zum Haus lief ich einen Bogen und streute das Gras aus.

„Was machst du da?“

Ich erschrak, denn Lucas war unbemerkt auf die Terrasse getreten.

„Ein alter schottischer Brauch, soll die bösen Geister vom Haus fernhalten. Ich wusste nicht, dass du noch hier bist.“

„Ja… es hat sich da etwas geändert.“

Lucas kam die Stufen herunter, bis er vor mir stand. Ich hielt inne und setzte den Korb ab.

„Es scheint schon zu wirken, denn gute Geister haben mir da etwas zugeflüstert.“

„Und was?“, fragte ich und sah in seine funkelnden Augen.

„Dass es hier einen lieben Mann gibt, der auf seinen Prinzen wartet.“

Ich biss mir auf die Unterlippe, denn ich wusste nicht, wie ich darauf reagieren sollte.

„Gibst du mir noch mal eine Chance?“, fragte nun Lucas.

„Aber… Frankreich…“

„Ich habe das Angebot rückgängig gemacht.“

Ein warmes Gefühl durchfloss mein Körper… ein Lächeln zeigte sich auf meinen Lippen.

„Dann hat das Gras ja wirklich geholfen.“

„Heißt das ja?“, fragte Lucas.

Ich fiel ihm um den Hals und begann zu weinen.

„Ja, klar heißt das Ja… Lucas… ich liebe dich!“

„Ich dich auch David, ich dich auch!“

Unsere Lippen trafen sich und endeten in einem langen endlosen Kuss

** Ende **

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