Das Hologramm – Teil 1

Eigentlich wollte ich ja nur wegen ein paar Fotos zu dieser Ruine Klammerfels, meine neue Kamera ausprobieren. Da ich nie zuvor da gewesen war, wusste ich nicht was da alles los war. Vor allem jetzt, im Sommer. Millionen Leute hatten scheinbar dieselbe Idee und weil sich die Besitzer dieses alten Gemäuers dessen bewusst war, restaurierte man wichtige Räume nach alten Skizzen und nun gab’s sogar Führungen. Gegen Entgeld natürlich, aber ohne die sachkundige Begleitung eines Führers kam man an die interessantesten Orte auf dem Areal gar nicht ran. Verständlich, wenn man das Treiben der Balgen beobachtet, die zielsicher irgendwo was zum anstellen fanden.
Also zahlte ich für so eine Führung und schloss mich so einem Trupp an. Fünfzehn Leute, darunter fünf ziemlich lebhafte Kinderchen. Nun gut, mir war klar dass ich mit denen nicht mein restliches Leben verbringen musste und nahm es zähneknirschend hin.
Dabei war mir das einstige Leben in diesen Gemäuern ziemlich egal, Hauptsache ich konnte ein paar tolle Fotos machen.
Was mich von all dem entschädigte, war ein männliches Wesen in der Gruppe. Ich schätzte es so auf die Zwanzig, also etwa mein Alter, groß, schlank, schwarzes Haar und ein ganz niedliches Gesicht. Eins, worauf meiner einer als Schwul geltender Mensch ziemlich flog. Verständlich, dass ich mich stets in seiner Nähe aufhielt, denn der Junge war offensichtlich alleine da. Komisch irgendwie dass er keine Kamera dabeihatte, so wie eigentlich alle hier auf dem Gelände. Er hörte nur sehr aufmerksam zu und schien sich im Gegensatz zu mir sehr für die Geschichte dieses mittelalterlichen Gemäuers zu interessieren. Vielleicht studierte er ja irgendwas in der Richtung, das schien mir nach und nach das logischste. Den Klamotten nach war er nicht unbedingt reich schätzte ich, völlig normale Klamotten. Jeans, T-Shirt in dunkelblau ohne Beschriftung, graue Sneakers ohne Marke. Aber das tat seinem Aussehen nicht den geringsten Abbruch und während der Führer intensivst in der Vergangenheit am graben war, überlegte ich, wie ich mit diesem hübschen Geschöpf ins Gespräch kommen könnte. Zu dumm dass ich nicht den leisesten Schimmer von all dem hatte und richtig saudumme Fragen wollte ich auch nicht stellen.

Nach etwa zehn Minuten geschah dann das unerwartete: Der Junge räusperte sich und hob die Hand wie in der Schule. Der Führer unterbrach sich und bat um die offensichtlich anstehende Frage des Jünglings. »Ja, bitte?«

»Ähm, Sie sagten gerade, dass der Marquis Demont 1556 die noch nicht verehelichte Madame Bernette Renac schwängerte.«

Schulmeisterlich blickte der Führer über seine Brille und ließ seine Augen durch die Gruppe schweifen. »Ja, das war eben zu diesen Zeiten, na ja, sagen wir mal, eine Schande.«

»Das stimmt aber nicht«, entgegnete der junge Mann.

Der Führer schluckte und schien einen Augenblick verwirrt. »So?«

»Nein, Madame Renac war zu dieser Zeit bereits 75 Jahre alt.«

Ein ziemliches Gelächter der Gruppe verunsicherte den Führer, der so um die Sechzig gewesen sein durfte, dann doch sehr. »Und woher, junger Mann, wollen Sie das wissen?«

Der ließ sich nicht beirren und das imponierte mir. Offenbar war was an seiner Gegendarstellung dran. »Spielt das eine Rolle? Ich weiß das es so ist. Nicht Madame Renac wurde unehelich schwanger, sondern«, er zeigte nun auf ein größeres Gemälde an der Wand in dem Raum, wo wir uns befanden, »Das aus dieser unseligen Liaison hervorgegangene Kind stammte von Madame Valerie Pondé, die zu diesem Zeitpunkt gerade Achtzehn gewesen war.«

Trotz des etwas düsteren Lichts in dem Raum konnte man erkennen, dass der Führer rot wurde. Entweder er hatte seinen Fehler bemerkt oder das was da grade in den Raum gestellt wurde, war für ihn absolut neu. Ich vermutete Letzteres.

»Das stimmt nicht, junger Mann. Also, nachdem die Madame.. «

Dieser Mensch ging einfach weiter in seiner Tagesordnung und ich konnte regelrecht spüren, wie das den Jungen fuchste. Scheinbar war es ihm nicht möglich, einen Beweis für seine Behauptung anzutreten und wohl deshalb schwieg er nun. Das war die Gelegenheit überhaupt. Ich holte Luft und versuchte, meine Nervosität zu verbergen. »Wer hat denn nun recht?«, fragte ich den Jungen.

Der sah mich mit großen Augen an. »Ich natürlich.«

»Hm, aber haben Sie denn Beweise für diese These?«

Er sah mich immer noch so an und mir wurde richtig anders. »Klar hab ich die.«

Ich lächelte und zeigte auf den Führer. »Na dann, los. Ich freu mich schon auf sein Gesicht.«

»Ich bin der Beweis«, kam es plötzlich von dem Jungen und verursachte den Fall meiner Kinnlade nach unten.

»Wie, der Beweis.«

Nun winkte der junge Mann ab und folgte der Gruppe, die allmählich in den nächsten Raum hinüberwechselte. Offensichtlich war es dem Jungen nicht möglich, näher auf seine „Bewiese“ einzugehen. Trotz allem blieb ich neugierig, aber ich wollte die Führung mit den vielen Fragen, die ich auf Lager hatte, nicht stören. Es würde sicher noch eine Gelegenheit dafür kommen.

Wir waren nun im Schlafgemach der Herrschaften von damals angekommen. Man erfuhr, wer mit wem hier wann genächtigt hatte und sogar, wann welche Nachkommen da wohl gezeugt worden waren. Mein Seitenblick zu dem Jungen sagte mir, dass er diese Geschichten mit einem gewissen Grinsen verfolgte. Ganz so, als würde er das alles wirklich besser wissen. Ab und zu schüttelte er sogar sachte den Kopf.

»Stimmt’s wieder nicht was der sagt?«, fragte ich flüsternd.

Er lachte leise. »Nicht alles.«

»Warum erzählt er’s dann?«

Der Junge zog die Schultern hoch. »Da ist bei den Überlieferungen sicher was schiefgelaufen, keine Ahnung.«

Ihn noch mal zu fragen, woher es besser wusste, wollte ich nicht. Außerdem ging es bereits in den nächsten Raum. Trotz allem vergaß ich nicht, eifrig mit meiner Digicam zu knipsen. Dabei ging es mir weniger um das was ich knipste, sondern wie die Kamera mit den unterschiedlichen Problemen in den Räumlichkeiten zurande kam. Immer schön gucken auf dem Monitor, ob die Bildchen was geworden waren und dabei wurde ich von meinem hübschen Begleiter sehr genau beobachtete. Wahrscheinlich hatte er kein Geld für so was, dachte ich und irgendwie passte mir das nicht. Also ich kam mir ihm gegenüber vor wie ein kleiner Snob. Dabei war ich mit meinem Uralt Golf zugegen und von Haus aus alles andere als reich. Es langte eben so für solche kleinen Dinge, aber was Besonderes – nee, das war’s beileibe nicht. Fortan ließ ich die Kontrolle der Fotos auch bleiben, Speicher hatte ich genug und zu Hause konnte ich immer noch löschen was Mist geworden war.

Irgendwie kam mir dann auch etwas in den Sinn, just als die Gruppe das Gebäude wieder verließ und sich nach Verabschiedung von dem Führer in alle Richtungen verstreute. Außerhalb der Ruine konnte man in einem Cafe den schlimmsten Hunger und Durst löschen. »Lust auf was zu trinken?«, fragte ich denn auch recht forsch.

Der Junge sah mich an, als hätte ich ihn auf eine Reise zum Mond eingeladen. »Tut mir leid, ich habe noch zu tun. Schönen Tag noch«, bekam ich als Antwort.

Zack, das stand ich. Der hübsche Mensch verschwand im Getümmel und blieb für den Rest meines Aufenthalts verschollen.
Auf der Rückfahrt ging er mir einfach nicht aus dem Kopf. Wie geheimnisvoll er getan hatte und wie sicher er war, vieles von dem was da erzählt wurde, besser zu wissen. Woher hatte er das?

Zu Hause angekommen eilte ich in mein Zimmer, fuhr den Rechner hoch und schloss die Kamera an. Die Zeit, die das herunterladen dauern würde, nutzte ich für eine kurze Dusche. Die Hitze des Tages klebte doch irgendwie an mir fest, außerdem fühlte ich mich danach immer gleich wohler.

Reingeschlüpft in die Shorts und an den PC gehockt. Ganz schön waren die Fotos geworden, hier und da war wohl etwas Nacharbeit vonnöten, aber im Großen und Ganzen war’s okay.
Es dauerte eine ganze Weile, bis mir unter den letzten Fotos etwas auffiel. Ich hätte tausend Eide geschworen, dass ich den Jungen auf mindestens zwei Fotos abgelichtet hatte. Das, als wir in dem Schlafzimmer waren und noch einmal kurz vorm Ausgang. Aber der Junge war nicht drauf. Seufzend ließ ich mich in meinem Chefsessel zurückfallen. Wie blöd konnte ich da nur gewesen sein? Gut, ich hatte eine Menge Schrott vor Ort schon gelöscht, aber gerade bei diesen beiden Fotos war ich mir so sicher.
Je länger ich darüber nachdachte, desto unsicherer wurde ich. Er war drauf, Hundertprozentig. Da, neben dem Bett hatte er gestanden und ich hatte noch darauf geachtet, ihn ganz drauf zu kriegen. Unmöglich, dass er überhaupt nicht zu sehen war. Wenigstens ein Teil hätte doch.. Zweifel stiegen in mir auf, ob ich das denn nun nur gewollt oder auch tatsächlich gemacht hatte. Nein, er war drauf und zu diesem Zeitpunkt hatte ich bereits beschlossen, keine Fotos mehr zu kontrollieren. Also konnte ich es auch gar nicht gelöscht haben. Das Ganze artete wirklich in ein ganz großes Rätsel aus, das mich den ganzen Abend verfolgte und sogar Fragen meiner Eltern am Esstisch auslöste. So nach dem Motto, was ich denn hätte und ob es mir gut ging und so weiter. Ich erzählte etwas von einem gewissen Unwohlsein, womit ich dann auch meine Ruhe hatte.
Die hatte ich aber nicht mit mir selber. Zurück im Zimmer starrte ich immer und immer wieder die beiden Fotos an. Wieso war da so viel Platz, auf dem einen Foto rechts, auf dem anderen links? Im Leben lasse ich solche Lücken nicht in Fotos, das war völlig unlogisch.

Weil ich nicht einschlafen konnte wegen dieser Sache, beschloss ich in jener Nacht, anderntags noch mal zu dieser Ruine zu fahren. Weit war sie nicht weg und frei hatte ich den Rest der Woche auch.

Gedacht, geplant, getan; schon bei den ersten Sonnenstrahlen war ich aus den Federn. Dabei war mir inzwischen klar geworden, dass ich nur einen Grund gesucht hatte, um diesen Jungen wieder zu sehen. Auch wenn’s freilich völliger Quatsch war. Warum sollte er auch wieder dort sein? Egal, wenigstens etwas musste ich tun um mein Gewissen zu beruhigen. Wie genau, davon hatte ich auch noch auf der Hinfahrt keine Ahnung.

Die Tore der Ruine waren noch geschlossen, ich war eine halbe Stunde eher da als nötig, aber das war nicht weiter schlimm. Auch von außen gab das Gemäuer noch eine Menge Motive her, besonders im noch weichen Morgenlicht. Die Sonne krabbelte langsam hinter dem Berg gegenüber in den Himmel und tauchte die Zinnen der Ruine in ein goldenes Licht. Ich visierte eine dieser Zinnen an und zoomte sie soweit bei wie es das Licht zuließ. Verwackelte Fotos sollten mit der Kamera eigentlich kein Thema mehr sein, aber allzu arg durfte man es trotzdem nicht treiben. Also wählte ich mein Motiv und – da tauchte genau im Fadenkreuz ein Kopf im Sucher auf. Rasch nahm ich die Kamera herunter, um ein Livebild zu sehen. Aber so deutlich wie im Sucher war nichts zu erkennen, worauf ich erneut mein „Ziel“ anvisierte. Zweimal gucken und alle Zweifel waren ausgeschlossen: Das war der Junge vom Vortag. Da oben, am höchsten Punkt der Ruine trieb er sich herum und das, noch bevor die geöffnet hatten. Ich fummelte hastig an den Tasten, um die Serienbildfunktion einzuschalten. Klack, klack, klack.. Ich hatte nicht mitgezählt, wie viele Fotos durchgingen bevor der Kopf verschwand und ich meine Kamera wieder langsam sinken ließ. Ich hatte nicht bemerkt, wie sehr ich zitterte. Warum und wieso, keine Ahnung. Als erstes eine Zigarette rausfummeln und auf den Steinhaufen neben mir setzen. Langsam, fast bedächtig hob ich die Kamera an, um die gemachten Fotos anzusehen, als mich ein Geräusch aufschreckte. Es war noch ziemlich ruhig ringsum, Werktags war um diese Zeit noch nichts los auf dem Gelände.
Da kam er auf mich zu, direkt vom Eingang her steuerte der Junge in meine Richtung. Hastig zog ich noch mal an der Zigarette um sie dann verstohlen fallen zu lassen und auszutreten. Es war da überall Wald und rauchen.. Das konnte Ärger geben.

Der Junge hatte das Gleiche an wie am Tag zuvor, lässig die Händen in den Taschen schlenderte er bis zu mir. »Morgen. Schon so früh auf?«, fragte er.

»Ja«, versuchte ich ohne Stottern rauszubringen.

Er drehte sich um und betrachtete sich die Silhouette der Ruine. »Schön, nicht?«

»Ja.«

»Warum bist du wieder hier? Hat es dir Gestern so gut gefallen?«

»Ähm.. ja.«

Er lachte. »Ich wette dagegen, dass das nicht so ist.«

Sollte ich ihm von den Fotos erzählen? Dass mir das keine Ruhe ließ und er im übrigen auch nicht? Aber warum zum Teufel musste ich überhaupt Rechenschaft über mein Tun ablegen? Dass ich ihn hübsch fand konnte ich schließlich nicht einfach so zum Besten geben.

»Na, dann komm. Ich führ dich mal richtig durch das Gebäude.«

Mir klappte wieder die Kinnlade herunter. »Aber da ist noch nicht auf..«

»Oh, da mach dir mal keine Gedanken.«

Gut, dachte ich. Wenn er das meinte und zudem war mir das in jedem Fall hundert Mal lieber als mit einem Schwarm grölender Balgen im Geleit.

»Gehörst du.. irgendwie hierher?«, war meine durchaus berechtigte Frage.

Der Junge grinste. »Kann man so sagen, ja.«

Mehr Fragen wollte ich nicht stellen, vielmehr begann ich mich auf eine spannende Rundreise einzustellen.

Kurz vor dem Eingangstor bleib er stehen. »Würdest du bitte aufmachen?«

»Wer.. ich?«

Er lachte wieder. »Siehst du sonst noch jemanden?«

Klar, dumme Frage. Ich drückte die Klinke herunter und wider Erwarten ging die Tür auch auf. Warum nicht abgeschlossen war, das konnte er mir immer noch erklären. Auf jeden Fall änderte sich meine Gemütslage schlagartig, als die Tür hinter uns zufiel und wir nun alleine in dem riesigen Innenhof standen. Ein paar Singvögel waren zu hören, sonst nichts. Die hohen Mauern verschluckten jedes noch so kleine Geräusch von draußen und die Stille hatte etwas Unheimliches an sich.

»Komm, wir fangen da an, wo der Gestern aufgehört hat.«

Ich folgte dem Jungen. »Wie heißt du eigentlich?«

»Oliver.«

»Andreas«, stellte ich mich vor. »Welche Rolle spielst du hier? Ich mein, gehörst du zu den Besitzern?«

»Oh ja, das ganz bestimmt.«

Schön, dann waren wir zumindest nicht illegal auf diesem Trip. Ich zückte meine Kamera und endlich bekam ich die Gemäuer ohne störende Touristen auf den Chip.

»Schöne Kamera hast du da«, bemerkte Oliver, während wir durch eine Art Kreuzgang liefen.

»Na ja, was heißt schön. Sie macht aber ganz gute Fotos, ja.«

Wir bogen ab und stiegen nun uralte Steintreppen nach unten, steil nach unten. Es begann muffig und feucht zu riechen. Hier, das stand für mich fest, kam sonst nie jemand hin. Zumindest nicht der gewöhnliche Mob, von dem ich mich jetzt völlig getrennt fühlte. Ganz dicht blieb ich bei meinem hübschen Führer. Wie sicher er die Treppen hinabstieg.. Ich blieb einen Augenblick stehen, während Oliver weiterging. Lautlos. Der Junge erzeugte keinerlei Geräusche, die hier durch kleine Steinchen auf dem Boden erzeugt wurden. Von mir taten sie das jedenfalls, aber von ihm?
Das wurde mir höchst suspekt, aber Zeit, diesem Phänomen weiter auf die Spur zu kommen, blieb mir nicht.

»So, hier sind wir.«

Der schmale Gang mündete in einen größeren Raum. Von der Decke fiel durch ein kleineres Loch ein bisschen Licht hinein, so dass man gerade eben erkennen konnte, was sich in dem Raum befand. Er war – leer. Absolut leer.

»Schließt du bitte die Tür?«, bat mich Oliver und ich tat, wie mir geheißen. Dumpf war es anschließend, nur das leichte Sausen in den Ohren, erzeugt durch den Blutkreislauf.

»Was machen wir hier?«, fragte ich und war dabei zugegebenermaßen ziemlich nervös.

»Nun, das wirst du sehen.«

Ich sah aber nichts, der Raum war und blieb leer. »Und was?«

Oliver trat jetzt direkt vor mich. »Du hast doch Aufnahmen von mir gemacht, vorhin, auf der Zinne?«

»Ja.«

»Dann sieh sie dir an, die Fotos.«

Zitternd nahm ich meine Kamera hoch und schaltete die Vorschaufunktion ein. Allerdings ahnte ich bei dieser Handlung bereits, was mich erwarten würde.
Meine Befürchtung erfüllte sich. Auf der Zinne war niemand, auf sämtlichen Fotos nicht. Und es gab keinen Zweifel dass ich ihn gesehen hatte, diesen Oliver, da oben.

»Und?«

Ich hatte dafür keine Erklärung und zog deshalb die Schultern hoch. »Du bist nicht drauf.«

Oliver lachte, was in dem nackten Raum aus Sandstein komisch klang. »Klar bin ich nicht drauf. Aber das hast du ja geahnt, oder?«

»Ähm.. geahnt, ja. Aber nicht.. geglaubt.«

»Nun, jetzt weißt du es genau.«

Ich sagte nichts, er war dran mit einer Erklärung.

Oliver setzte sich im Schneidersitz auf den nackten Steinboden und im selben Augenblick sauste etwas zwischen uns herum. »Keine Bange, hier wohnen nur ein paar Fledermäuse.«

»Aha«, entwich es mir noch etwas erschrocken. Ich setzte mich Oliver gegenüber. Was für ein Spiel trieb dieser hübsche Bengel mit mir?

»Es ist nun mal eben so, dass man Gespenster – oder Geister, ganz wie du willst – nicht fotografieren kann.«

Es dauerte eine ganze Weile, bis ich diese Worte einigermaßen sortiert und in die richtige Reihenfolge gebracht hatte. Es gab bis zu diesem Zeitpunkt nichts, was dem entgegenstand. Kein Foto von ihm, ich musste Türen auf- und zumachen, er behauptete hierher zu gehören und er gab beim laufen keine Geräusche von sich. Nun war es nicht so dass ich mich je mit dem Phänomen Gespenster beschäftigt hätte, es gab sie für mich schlicht und einfach nicht. Aber in diesen Minuten musste ich ob der erdrückenden Beweislast meine Meinung revidieren. Zumindest war das eine Überlegung wert.
Ich entschloss mich zu einem Test. »Dann kann ich dich auch nicht berühren..«

Er streckte mir seinen Arm hin. Die Sonne schickte in dem Moment einen Strahl durch das kleine Loch in der Decke und leuchtete auf die Hand des Jungen. Ja, da waren sie, diese Klischees. Unheimlich, unecht, Gänsehauterzeugend. Aber echt?
Ich streckte meinen Arm ebenfalls aus und schob meine Hand langsam zu ihm hin. Millimeterweise kam ich seiner Hand näher, bis zu dem Moment, wo sich unsere Fingerspitzen berührten. Sollten.
Aber das taten sie nicht. Ich sah, wie meine Finger in seine Hand eintauchten, ohne dass ich den geringsten Widerstand spüren konnte. Rasch, erschrocken fast, zog ich meinen Arm zurück.

»Ähm..«

»Mehr Beweise hab ich nicht«, war alles, was Oliver dazu sagte. Aber das reichte mir, völlig.

So saßen wir eine Weile da. Sprachlos ich, Wortlos er. Wie konnte das sein? Träumte ich? Nein, dazu waren viel zu viel Details passiert. Die Fahrt, die Geräusche, Gerüche.. Es war kein Traum. Und doch.. Wie war das mit jenen Hologrammen? Saß da jemand an seinem Monitor und gaukelte mir das alles vor? Jemand, der diese Technik perfekt beherrschte? Es schien mir die einzig denkbare Lösung. Aber Hologramme können nicht reden. Nicht, dass ich davon gehört hätte.

»Ich weiß grad nicht was ich sagen soll..«

»Musst du auch nicht.«

Millionen Fragen brauten sich in meinem Kopf zusammen, drohten ihn zu sprengen. Aber ich musste das loswerden, und wenn ich Tage hier zubringen musste.

»Wie.. kommt’s.. ?«

»Nun, wie kommt’s.. Ich weiß es auch nicht genau. Wieso, das kann ich dir aber sagen.«

Ich nestelte mir eine Zigarette aus der Tasche. Ihm eine anzubieten war in dem Fall sicher Quatsch. Dabei war Oliver keinesfalls irgendwo durchsichtig oder so. Ich musste trotz allem grinsen.

»Was ist? Findest du es.. lustig?«

»Nein, Oliver, bestimmt nicht. Ich dachte eben nur, rauchen ist wohl nicht so deins..«

Er winkte ab. »Klar, das brauch ich auch nicht.«

Ich nahm zwei tiefe Züge und versuchte, gelassen zu bleiben. Kein Mensch würde mir das je glauben, darüber war ich mir schnell im klaren. »Okay, angenommen du bist ein Geist. Dann hab ich jetzt ein paar grundlegende Fragen, die mich immer schon beschäftigt haben – sofern ich mal an Geister dachte.«

»Und das wären?«

»Du kannst.. kein Material anfassen, stimmt’s?«

»Richtig.«

»Du kannst.. durch die Mauern.. gehen?«

»Kann ich.«

»Und wieso fällst du dann nicht durch den Boden nach unten auf die andere Seite der Erde und wieder zurück?«

Oliver lachte laut. »Gut gefragt. Weißt du, wir Geister können gar nicht wirklich auf dem Boden laufen. Es stimmt, wir würden nach unten verschwinden.«

»Ähm.. und warum passiert es nicht?«

Oliver stand auf. Ohne ein Wort zu sagen begann er zu schweben, bis unter die 4 Meter hohe Decke, dann kam er zurück. Das alles geschah lautlos, wie nicht echt. »Das wichtigste was Gespenster haben müssen, sind die Augen. Blinde Geister gibt es praktisch nicht.«

Okay, ich hatte tatsächlich noch nie von Geistern mit so einem Handicap gehört. »Und das heißt?«

»Wir müssen den Boden ständig im Auge behalten. Es ist der Winkel, verstehst du?«

»Der Winkel also.. «

»Ja, der Blickwinkel schräg nach vorn und unten. Mit der Zeit bekommt man ein Gefühl dafür, wann man sich mit den Füßen auf derselben Ebene wie der Boden bewegt. Das dauert eine Weile und sieht am Anfang komisch aus, aber nur so funktioniert es.«

Das reichte mir fürs Erste.

Oliver sah nach oben zur Decke und blinzelte zu dem Loch. Der Sonnenstrahl wirkte jetzt wie ein Finger, weil er die feinen Staubteilchen glitzernd reflektierte. »Ich bin der Sohn von Valerie.. Deshalb weiß ich es besser als alle die da droben. Erzählen bloß Dinge, die irgendwer irgendwann einmal erzählt hat. Die Nachfahren, denen das Gebäude gehört, sind erst Ende letzten Jahrhunderts hier aufgekreuzt und nun machen die ihre eigene Geschichte.. Na ja, solang es die Leute glauben..«

»Und.. wie lange bist du.. schon hier?«

»Seit Gestern.«

Ich verschluckte mich am Rauch. »Bitte?«

Oliver lächelte verbittert. »Ja, das ist wahr. Im Grunde bin ich schon immer da, aber erst Gestern ist etwas passiert hier, das mit einem Fluch belegt worden war und wenn es je in diesen Gemäuern passieren sollte, dann würde er sich erfüllen.«

»Und.. was war das?«

»Dazu komm ich gleich. Ich bin jedenfalls genauso tot wie alle anderen aus diesen Zeiten auch. Nur, ich bin keines natürlichen Todes gestorben..«

Ich wurde immer neugieriger. »Und was.. war.. passiert?«

Oliver räusperte sich. »Es ist ja egal ob du das weißt, aber damals, mit Neunzehn, hab ich mich in einen entfernten Verwandten.. verliebt.«

Ich horchte auf. »Verwandten?«

»Ja, über hundert Ecken verwandt, aber das war nicht das Problem. Pierre hatte sich auch in mich verliebt.. und das ging lange Zeit gut, bis wir erwischt wurden. Meine Tante Euphelia ertappte uns in Flagranti und die war nun mal eine von jener Grade, die sich keine Verbrennung entgehen ließ, egal wie verwandt man da war.«

»Oh je.. das heißt.. die haben euch.. verbrannt?« Ich fürchtete mich vor der Wahrheit.

»Ja, das heißt nein. Mich warfen sie auf den Scheiterhaufen, aber Pierre konnte fliehen, weiß der Himmel wie auch immer.«

»Mein Gott..«

»Es ging schnell, soviel ich noch weiß jedenfalls. Aber bevor es soweit war fluchte meine Tante, dass, wenn sich je hier in diesen Räumen jemand aufhalten würde, der so fühlte wie ich, dann sollte ich als sichtbarer Geist ein ewig unruhiges Dasein hier fristen.«

Ich schluckte. Ein Ammenmärchen, einen Bären wollte man hier aufbinden. Die Sache mit dem Hologramm war nun eindeutig, so einen Mist konnte einfach niemand glauben. Ich würde der Sache schon auf die Schliche kommen, es war eine Frage der Zeit. Aber zunächst spielte ich noch mit. »Der Auslöser.. war demnach ich?«

Oliver nickte. »Deine Gefühle waren so überdeutlich.. ich bin in den Sekunden sichtbar beworden, als du neben mir standest. Ich bin ja oft dabei, bei den Führungen. Aber nie konnte ich die Wahrheit ans Tageslicht bringen. Deswegen hab ich mich Gestern auch eingemischt.«

Ich schluckte. Nichts mit Hologramm, denn das konnte mit Sicherheit nicht in meinen Kopf gucken und sehen, dass ich oder wer auch immer schwul bin. Und so eindeutig, dass Oliver davon Wind hätte bekommen können, war ich bestimmt nicht.

»Was.. hast du denn all die Zeit.. getrieben?«

»Oh ich hab die ganze Welt gesehen. Zwar kann ich nicht fliegen, aber für mich war in jeder Maschine noch ein Plätzchen frei. Meistens vorne, im Cockpit«. Oliver lächelte verschmitzt und trotz dieser Unmöglichkeit war der Gedanke daran ziemlich amüsant. Damit kam ich zum Stichwort. »Und.. andere Leute.. ich mein, so in den Wohnungen..?«

Er lachte wieder. Nicht so höhnisch oder schaurig wie ein Geist, sondern wie ein ganz normaler Junge. »Ich denke, das willst du jetzt nicht wirklich wissen wollen.«

Oh doch, und wie. Unsichtbar zu sein, der Traum der ganzen Menschheit. In gewissen Momenten jedenfalls. »Sag mir nur noch eins: Wie bist du zu diesen Klamotten gekommen? Die gab’s damals sicher noch nicht und Material kannst du nicht anfassen..« So, jetzt hab ich dich. Aber ihn ließ der Triumph in meinen Augen kalt und meine Ernüchterung wuchs.

»Das stimmt. Eines Tages, ich weiß es noch genau, in Chicago. Da bin ich Nachts durch so ein Viertel, wo man als normaler Mensch niemals hinkommt. Hinterhofmilieu wenn du verstehst. Wo Mord und Totschlag Tagesordnung sind und sich keine Sau drum kümmert. Da ist ein Penner neben seinem Feuer, das er wegen der Kälte neben sich entfacht hat, eingeschlafen. Der Wind hat die Flammen auf seinen Schlafsack geweht und.. ihn angesteckt.«

Abenteuerlich. Egal wer das Hologramm steuerte, Fantasie konnte ich ihm bescheinigen.

»Es ist mehr als einmal grausam gewesen, zusehen zu müssen und nichts machen zu können. Nicht mal Hilfe rufen… nichts.«

Ich drehte meinen Kopf und versuchte, irgendetwas Verdächtiges in dem Raum zu erkennen. Aber nichts al nackte, kahle Wände um uns. Die einzige Möglichkeit war das Loch in der Decke. Klar, von da wurde das Hologramm eingespiegelt. Also machte ich weiter mit, denn ich hielt dies für die absolut einzige und auch logische Variante. »Und was war dann?«

»Der arme Kerl ging in Flammen auf, wie ich damals..« Oliver zog die Nase hoch. Gut gemacht an der Stelle, ich zollte dem Meister dieses Handwerks Respekt. Kurzzeitig fiel mir ein, wieso ein Hologramm nicht zu fotografieren war, aber dafür würde es auch einen Grund geben.
»Als seine Kumpels endlich kamen war der Kerl tot. Mausetot. Aber seine Klamotten, Schlafsack, alles war eigentlich verbrannt war, lag noch genauso da wie vorher. Und ich konnte diese Dinge anfassen.«

Hübsch ausgedacht, aber recht hanebüchen. Na gut, so langsam wollte ich der Sache das nötige Ende bereiten. »Aha. Gut. Und jetzt, mein Lieber, sag mir einfach wo du steckst. Ich hab nämlich Hunger und noch mehr Durst und ich fürchte, ich werde deiner Geschichte nicht weiter folgen können.«

»Wer wo steckt?«, fragte Oliver erstaunt.

»Der, der diese schöne Figur vor mein Gesicht projiziert. Ich hab schon von Hologrammen gehört, so ist das nicht. Ich hatte nur keine Ahnung, was man damit bereits alles anstellen kann.«

Oliver grinste. Aber diesmal war dieses Grinsen von einer anderen Sorte. Einer, die mir plötzlich zu denken gab. »Du glaubst also, ich bin eine projizierte Lichterscheinung?«

Ich nickte heftig. »Was denn sonst?«

Er rieb sich am Kinn und grübelte. »In der Tat, das könnte so sein und ich hab im Moment das Problem, dir diesen Irrglauben auszutreiben.«

»Ja nun, das ist aber ganz und gar nicht mein Problem. Ich muss langsam gehen, vielleicht sollte ich ja Morgen wiederkommen.. Zeit hätte ich.« Wenn ich auch keine Lust hatte, mit einer Projektion zu reden, so wollte ich wenigstens meinen guten Willen zeigen.

»Das ist eine gute Idee«, sagte Oliver plötzlich und lächelte sogar. »Gut, dann lass uns gehen.«

Wir traten hinaus ins Sonnenlicht und inzwischen hatten die Pforten der Sehenswürdigkeit geöffnet. Oliver begleitete mich zu meinem Wagen und es war schon verwirrend, dass er keinen Schatten warf. Aber niemandem fiel das auf in dem Trubel.

Er lehnte sich durch das Seitenfenster zu mir in den Wagen und sah sich darin um. »Hm, ich weiß nicht, wie viele Millionen Kilometer ich schon mitgefahren bin.. und niemals kann ich selber ein Auto fahren.. Na ja, man kann nicht alles haben. Ach und noch etwas: Wenn ich.. kein Geist wäre.. du bist hübsch. Ciao.«

Ich nickte ziemlich verwirrt und fuhr los. Weg von dort, Abstand gewinnen. Das war fast schon zuviel für mich und ich wollte wiederkommen, nein, ich musste. Rauskriegen wo dieser Computer stand und wer ihn bediente. Vielleicht ne ganz neue Anmachform.. Allerdings eine, die mir anfing, zu gefallen.

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