Markus – Teil 1

Markus

Da stand Torben nun an einem sonnigen Frühjahrstag in unserem Hausflur und sah mich schüchtern lächelnd an.

„Hey“, begrüßte ich ihn.

„Hey.“

„Wie geht es dir?“

„Hm, es ging mir schon ´mal besser, aber ich bin froh, dass ich jetzt hier bin und nicht mehr…“

Er beendete den Satz nicht und schaute zu Boden. Also musste ich wohl einspringen.

„Ziemlich unangenehme Situation, oder?“

„Kann man wohl sagen.“

Er schaute hoch und im nächsten Moment lagen wir uns in den Armen. Ich hatte Torben noch nie umarmt, bisher hatten wir uns höchstens die Hand zur Begrüßung gegeben, wenn überhaupt. In dieser Situation musste ich ihn allerdings einfach umarmen und die unsichtbare Barriere, die eben kurzzeitig da stand, hatte sich sofort in Luft aufgelöst.

„Ich bin froh, dass du hier bist.“

„Das bin ich auch.“

Ich ließ ihn los und betrachtete ihn genauer. Er sah viel ernster aus als früher und ich merkte, dass ihm das Lächeln nicht leicht fiel, auch wenn er sich wirklich freute, dass er bei mir und meinen Eltern bleiben durfte, bis die Schule auch für ihn wieder los ging. Mein Blick blieb an dem Rollkragenpullover hängen, den er heute trug, obwohl es draußen nicht mehr so kalt war. Doch ich wusste natürlich, wieso er gerade diesen Pullover anhatte. Das meiste von seinem Hals war von dem Pulli verdeckt, jedoch erkannte ich trotzdem leichte rote Striemen, dort wo der Pulli nicht mehr herreichte. Ich schluckte und mir lief ein Schauer über den Rücken. Weshalb nur hatte er das tun können, gerade er? Wo er doch von allen respektiert wurde. Er, der Spitzensportler, der für jeden ein offenes Ohr hatte und für jedes Problem eine Lösung wusste. Und das alles, weil Bettina sich nach knapp eineinhalb Jahren von ihm getrennt hatte.

Zu erst fiel niemandem etwas auf, nicht einmal Martin, Sandra und mir, und wir bildeten zusammen mit Torben und Bettina immerhin eine Clique, die jede freie Minute zusammen verbrachte. Irgendwann merkten wir drei dann aber doch, dass etwas anders war. Die Begrüßung zwischen Torben und Bettina fiel knapper aus als sonst: kein Küsschen mehr, kein Händchenhalten und keine Umarmungen oder andere Zärtlichkeiten. Torben erzählte uns dann, dass sie sich getrennt hätten, aber ansonsten alles so weiter laufen sollte wie bisher.

Für Martin, Sandra und mich war das der Schock schlechthin aber nicht nur für uns, sondern auch für alle anderen, die Torben und Bettina kannten, denn sie galten als das absolute Traumpaar der Schule. Die Mädchen waren auf Bettina eifersüchtig und die Jungs auf Torben und die Beiden interessierte das alles nicht die Bohne. Bis… ja, bis Bettina sich von Torben getrennt hatte, wobei wir das erst später erfuhren. Wir dachten immer, die beiden hätten sich im gegenseitigen Einvernehmen getrennt oder so.

Es dauerte nicht lange und alles, was männlich und nicht vergeben war, rannte Bettina hinterher und die Mädchen versuchten ihr Glück bei Torben. Während Bettina die Aufmerksamkeit um ihre Person ganz angenehm fand, ließen Torben die Avancen der Mädchen ziemlich kalt. Er war zwar freundlich wie immer, ließ sich aber auf keine Flirtereien irgendeiner Art ein.

Im Großen und Ganzen schien er jedoch mit der neu gewonnenen Freiheit klar zu kommen und niemand machte sich auch nur ansatzweise irgendwelche Sorgen. Ich sprach zwar einmal Martin an, ob Torben mit ihm über die ganze Sache geredet hätte als sie allein waren (ich muss dazu sagen, dass die beiden zusammen ein Zimmer im städtischen Internat teilten, welches ich als externer Schüler besuche) aber er verneinte und damit war das Thema gegessen. Alles lief weiter wie bisher. Wir trafen uns alle zusammen, redeten, gingen Shoppen… – alles was man als Clique halt so macht und alle waren zufrieden. Das dachten wir zumindest.

Kurz nachdem das neue Jahr und somit leider auch die Schule wieder begonnen hatte, schrieben wir eine Chemieklausur. Ich hasse Chemie aber Torben konnte machen was er wollte, er bekam in dem Fach laufend Einser. Egal, ob er im Unterricht aufpasste oder nicht. Jedenfalls schrieben wir diese Klausur und ca. fünf Minuten vor Stundenschluss stand Torben auf und gab seine Arbeit ab. Wie ich hinterher erfuhr, hatte er nicht eine Aufgabe gelöst.

Er ging schweigend aus dem Zimmer und wir anderen nutzen die restlichen Minuten und gaben dann auch ab. Da wir nichts davon mitbekommen hatten, machten wir uns natürlich keine Gedanken um Torben und seine unbeschriebene Arbeit. Unser Lehrer hingegen schon – glücklicher Weise! Er packte unsere Klausuren zusammen und beschloss mit Torben zu reden, was mit ihm los sei. Zu diesem Gespräch ist es jedoch nie gekommen. Als er Torbens Zimmer betrat, sah er ihn leblos an einem der Querbalken, die durchs Zimmer führten, hängen.

„Markus…? Markus…!“

„Was? Wie? Oh, entschuldige, ich hab wohl ein bisschen vor mich hingeträumt. Tut mir leid.“

Ich stammelte mir was zu Recht und sah auf meine Füße.

„Hm. Ok, dann lass uns in dein Zimmer gehen und meine Klamotten auspacken.“

Wir gingen gemeinsam nach oben. Ich wusste, dass er ahnte, woran ich gedacht hatte, aber ich war ihm dankbar, dass er nichts weiter sagte und so versank ich, während wir Torbens Anziehsachen in den Schrank packten, wieder in Gedanken.

Ja, er hatte am Balken gehangen und natürlich hatte mein Lehrer ihn sofort da runter geholt. Was im Einzelnen noch passiert war, wusste ich nicht. Jedenfalls hatte Torben verdammtes Glück, dass sein Genick nichts abbekommen hatte bei dem Ruck, der durch den Körper gegangen sein musste. Das einzige, was ich später bei einem Gespräch zwischen den Eltern unserer Clique mitbekam, war, dass Torben erstickt wäre, hätte er auch nur noch eine Minute länger dort gehangen.

Ich schüttelte mich und war wieder in der Gegenwart. Torben sah mich wissend an und mir kamen die Tränen.

„Hey, Markus, nicht weinen. Bitte nicht!“

Er nahm mich in den Arm und flüsterte mir beruhigend zu:

„Es ist alles gut. Ich lebe und es wird schon gehen. Es braucht jetzt einfach noch ein bisschen Zeit und dann bin ich wieder ganz der Alte.“

Ich nickte in seine Schulter hinein und konnte trotzdem nicht aufhören zu weinen. Er hielt mich so lange fest, bis ich mich dann doch beruhigt hatte.

„Was ich dich fragen wollte, Markus, kann es sein, dass deine Eltern es nicht so gerne sehen, dass ich jetzt noch einige Zeit bei euch bleibe bevor ich wieder ins Internat zurück gehe? Sie waren irgendwie so komisch vorhin, als sie mich abgeholt haben. Ich meine, wenn es ihnen zuviel ist kann ich auch sicher zu meiner Mutter…“

„Markus, deine Mutter ist schon wieder in Australien und arbeitet den ganzen Tag! Außerdem liegt es nicht an dir, dass sie so komisch waren, sondern an mir.“

Er schaute mich verwirrt an.

„Ja sie sind enttäuscht von mir. Sie haben was gesehen, was sie nicht hätten sehen dürfen.“

„Aha… und was?“

„Mein Tagebuch.“

Oh man, jetzt flüsterte ich schon fast.

„Sie haben doch nicht etwa drin gelesen?“

„Na ja, doch. Aber es war nicht ihre Schuld ich hatte es offen auf dem Tisch liegen, hab halt vergessen es wegzupacken und es war ja auch nicht als ein Tagebuch zu erkennen…“

„Jetzt spuck schon aus, was haben sie gelesen? Du kannst es mir sagen. Wirklich. Ich werde es niemandem erzählen, das weißt du.“

„Ich weiß, aber… es ist nicht so einfach. Torben ich… hab mich verliebt.“

„Ja und? Ist doch klasse, wer ist es de… Moment mal, ich ahne was. Du hast dich verliebt und davon in dem Buch geschrieben?! Und deine Eltern haben das durch Zufall gelesen und sind jetzt sauer auf dich?“

„Ja.“

Ich sah Torben schon wieder mit feuchten Augen an.

„Das versteh ich nicht. Warum sollten sie enttäuscht von dir sein, wenn du verliebt bist? Es sei denn… ist es ein Junge?“

Er fragte mich das ganz ruhig und ganz einfühlsam. Ich nickte und schon brachen bei mir wieder alle Dämme.

„Hey, das ist doch nicht schlimm, komm her. Ich hab mir so was schon gedacht, also, dass du eher auf Jungs stehst. Ich kann dir auch nicht sagen wieso, aber ich habe es geahnt. Jetzt beruhig dich wieder. Da ist doch überhaupt nichts Schlimmes dran. Im Gegenteil, wäre ja langweilig, wenn alle hetero wären.“

Ich sah ihn mit großen Augen an. Er sah zurück, grinste mich an und es war ein wirkliches Grinsen, so wie ich es von ihm kannte, und ich wusste, dass er es ernst meinte und mich genauso gern hatte wie immer.

„Danke.“

„Da nicht für. Deine Eltern beruhigen sich wieder. Du wirst sehen. Sie lieben dich und müssen das halt nur erst ´mal verarbeiten.“

„Hm, ich hoffe es.“

„Und?“

„Was und?“

„Sagst du mir wer´s ist?“

„Mario.“

„Ach du sch…“

„Ja, ich weiß. Es gibt in der ganzen Schule nicht einen, der unschwuler ist als er.“

„So in etwa hätte ich das jetzt auch formuliert.“

„Na ja, lass uns nicht mehr davon reden. Ich habe Hunger und brauch was zu essen!“

„Bin dabei.“

TORBEN

Man, war ich voll. So viel wie diesen Abend gab es für mich schon lange nicht mehr zum Abendbrot. Nicht, weil ich vorher nur wenig zu essen bekommen hatte, sondern einfach, weil es mir dort, wo ich war, nicht schmeckte.

Nach meinem Selbstmordversuch wurde ich natürlich ins Krankenhaus gebracht und als ich körperlich wieder wohl auf war, wurde ich in die Kinder- und Jugendpsychiatrie der Nachbarstadt verlegt. Dort hatte ich dann gute 2 Monate verbracht mit allem, was dazugehört. Sprich: Gruppensitzungen, Einzelsitzungen, verschiedene Therapieformen usw. usf.

Im Großen und Ganzen hat es mir glaube ich recht gut getan, dass ich einfach mal eine Zeit lang abschalten konnte, was jetzt hauptsächlich auf die Schule bezogen ist. Des Weiteren musste ich mich dort nicht mehr verstellen und konnte einfach zeigen, wenn ich schlecht drauf war. Es kannte mich dort niemand und ich müsste die Leute später nie wieder sehen, wenn ich das nicht wollte.

Die Anlage, das hört sich einfach besser an als „das Psychiatriegelände“, war ziemlich weitläufig. Es gab ein Haupthaus und mehrere kleine Nebengebäude. Drumherum erstreckte sich ein sehr schöner Park mit einem kleinen See und sowie es etwas wärmer wurde, konnte man dort täglich unzählige Eichhörnchen herumtollen sehen. Ich hielt mich während meiner ganzen Anwesendheit dort viel draußen auf. Zum einen, weil es mir tierisch auf den Senkel ging, mir das Elend dort drinnen mit anzugucken und zum anderen, weil ich Lust auf viele einsame Spaziergänge hatte. Außerdem konnte ich draußen ein bisschen Sport machen, Lauftraining etc.

Besuch bekam ich anfangs selten, wobei ich dazu sagen muss, dass ich das auch nicht wollte. Es war mir unangenehm, Freunden oder Bekannten gegenüber einzugestehen, dass auch mir mal was zu viel wurde und ich wollte sie nicht in dieser Umgebung wiedersehen. Lange Gespräche mit meiner Mutter und die Therapie halfen mir jedoch und ich ließ später Besuch zu.

Es war auch wirklich nicht so schlimm wie ich gedacht hatte. Meine Clique bekam mich oft besuchen und wir redeten viel über die Schule und alltägliche Dinge. Bettina war jedoch nicht dabei. Ich hatte Markus gesagt, dass ich es noch nicht ertragen könnte sie zu sehen. Sie war der Grund gewesen, warum bei mir die Sicherung durchgebrannt ist. Ich habe ein paar Wochen lang alles in mich hineingefressen. Mit Bettina war Schluss und mein Vater spukte mir auf einmal wieder in den Gedanken herum. Er war vor ein paar Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Und meine Mutter war Tausende Kilometer von mir entfernt in Australien, um dort für Ihre Firma als Dolmetscherin zu arbeiten. Ich fühlte mich schlichtweg von allen verlassen, obwohl das natürlich Blödsinn war. Meine Freunde und deren Eltern wären immer für mich da, das wusste ich. Nur war ich zu feige, Hilfe von ihnen anzunehmen oder mich ihnen auf irgendeine Weise mitzuteilen, die weniger endgültig war.

Irgendwann ging es jedenfalls soweit, dass ich täglich darüber nachgedacht habe, was wäre, wenn ich einfach nicht mehr da wäre. Ich besorgte mir ein Seil, denn Tabletten nehmen oder irgendwo runterspringen wollte ich nicht. Na ja, den Rest kennt ihr…

Jetzt war ich noch für ein paar Wochen bei Markus einquartiert, bis ich mich seelisch stark genug fühlte, wieder ins Internat zu gehen. Ich war wirklich sehr dankbar dafür, dass das möglich war. Es hatte viel Überzeugungsarbeit gebraucht, meine Mutter davon abzubringen, mich für immer mit nach Australien zu nehmen. Ich wollte nicht hier weg. Dies hier war meine Gegend, hier hatte ich meine Freunde und nur hier wollte ich leben. Markus unterstützte mich dabei, meinen Willen bei Mutti durchzusetzen und auch dafür war ich unheimlich dankbar.

Dass er schwul war störte mich nicht ein bisschen. Ich hatte sowieso schon immer so eine Ahnung gehabt und fand es gut, dass er es mir jetzt erzählt hatte. Dass er sich allerdings in Mario verliebt hatte, fand ich weniger gut, um nicht zu sagen: total daneben. Er war in meiner Klasse und blieb dann sitzen. Markus kennt ihn aus dieser Zeit nicht mehr, da er erst ein Jahr später aufs Internat und in unsere Klasse kam. Jedenfalls gab es vor Markus´ Zeit noch einen Jungen, der wie Mario in meine Klasse ging: Johannes. Er und Mario waren die besten Freunde und gingen zusammen durch dick und dünn.

Irgendwann hatte Johannes sich dann vor Mario geoutet und ihm gesagt, dass er nicht auf Mädchen stehen würde. Seitdem war es mit der Freundschaft vorbei und Mario tat so, als gäbe es ihn gar nicht. Das erfuhr ich allerdings erst, nachdem Johannes von der Schule gegangen war. Mario selbst erzählte es mir beim Fußballtraining und ließ sich darüber aus, wie ekelig Schwule doch wären und er wolle mit so einem Pack nichts zu tun haben. Johannes hatte es wohl einfach nicht mehr ausgehalten, dass sein ehemals bester Freund so kalt zu ihm war, und ist abgegangen.

Nun saß ich gerade mit Markus auf seinem riesigen Bett, und war dabei Markus diese Tatsache schonend beizubringen. Das kostete natürlich wieder ein paar Tränchen, aber im Großen und Ganzen fasste er es recht gut auf, da er sich schon gedacht hatte, dass Mario nicht schwul war.

„Weißt du was Torben?“

„Nee, was?“

„Ich hole uns jetzt Chips und Cola und dann besauf ich mich, bis mir schlecht wird.“

Ich grinste Markus an und nickte, so ein Colabesäufnis wirkte manchmal Wunder. Es dauerte nicht lange und dann war er mit Chips und Cola zurück.

„Torben ich hab da so einen Film. Na ja, den würde ich gerne sehen und…“

„Labere nicht, schieb ihn rein und gut is.“

Markus schenkte mir ein strahlendes Lächeln und schob die DVD in den Player. Ich schnappte mir inzwischen die DVD-Hülle, lehnte mich mit einem Kissen im Rücken gegen die Wand und las: „Sommersturm“. Okay, von dem Film hatte ich schon gehört. So weit ich wusste, handelte er von einem Jungen, der seine Homosexualität entdeckte. Ich legte die Hülle wieder weg und sah, wie Markus unschlüssig in der Gegend rum stand und mich beobachtete.

„Wenn du den Film gucken willst, solltest du herkommen und dich hinsetzen. So mit Hintern zum Fernseher wird das nichts.“

Er lachte, schmiss sich mit den Chips neben mich aufs Bett und wir sahen gemeinsam den Film an. Schmunzeln musste ich bei der Stelle, wo sich im Film zwei Jungs gegenseitig befriedigten. Ich schielte während dieser Szene zu Markus und konnte deutlich seine Beule in der Hose erkennen. Der merkte davon allerdings nichts, denn er war so in den Film vertieft, dass er nichts anderes mehr mitzukriegen schien.

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