Der Stoff, aus dem Leben gemacht ist – 10. Teil

Diese Geschichte und die darin handelnden Personen sind ein Produkt meiner Phantasie, wobei nicht auszuschließen ist, dass ähnliche als die darin beschriebenen Handlungen bereits passiert sind, oder sich künftig so zutragen werden. Eine Haftung dafür übernehme ich nicht.

Freitag, d. 30.08.2030 in Bilbao

Beinahe schwerelos scheint der Körper von Fabio, als Antonio ihn mit sicheren Schritten in Richtung Haupteingang des Krankenhauses trägt.

Kaum zu glauben, dass diese Gestalt in seinen Armen wirklich mein Freund ist, dieser schlaffe, wie leblos wirkende Körper, der noch vor Tagen so voller Leben war, dessen Glieder sich nun, statt vom eigenen Willen gelenkt zu sein, von den Kräften der Schwer- und Fliehkraft getrieben, kraftlos hin und her bewegen.

Nun sind seine sonst so lebhaften Augen von dunklen Rändern umgeben, das zwar immer noch schöne Gesicht wirkt fahl und die Wangen sind etwas eingefallen. Weit steht der Mund auf, ermöglichen ihm so ein leichteres Atmen. Die schmutzigen Füße wippen im Takt von Antonios Schritten.

Wie schlank er doch ist, so überaus zart gebaut, jedoch dadurch auch sehr verletzlich, ein wahres Wunder der Natur, geschaffen, um zu lieben und geliebt zu werden. Wird er stark genug sein, um den bösen Feind in seinem Körper, die Krankheit besiegen können?

Antonio dagegen wirkt wie ein Urquell von Kraft. Schon ist er, ohne mich zu beachten, im Eingangsbereich des Krankenhauses verschwunden.

Ich schlage die Autotür zu und will ihnen schon folgen, da wird mir plötzlich schwarz vor den Augen und ich muss mich am Fahrzeugdach abstützen. Mein Körper will mir nicht mehr gehorchen.

Unsere Entführung und die lange Pein im dunklen Loch, diese schlimmen Tage ohne Wasser, Nahrung und ausreichend Sauerstoff, dann endlich unsere Rettung. Die Hormone, welche als Schutzfunktion meines Körpers mir bisher einen Trance ähnlichen Zustand ermöglichten, haben ihren Dienst quittiert, die letzten Kraftreserven sind aufgebraucht und ich bin kurz vor dem totalen Zusammenbruch.

Mein Blick wird des Eisverkäufers gewahr, der an seinem Verkaufswagen stehend, noch auf späte Kunden wartet und mich interessiert mustert. So bekommt er auch mit, wie ich gezwungen bin, mich unverzüglich auf dem Boden hinzusetzen.

„Hallo, junger Mann. Kann ich ihnen helfen? Soll ich einen Arzt rufen?“

Ich kann nichts mehr sehen, hoffentlich versteht er mein Nicken.

*-*-*

„Hallo, wie ist ihr Name? Sind sie krankenversichert? Haben sie heute schon was gegessen? Leiden sie vielleicht an Diabetes…“, ein Sprechchor von Krankenschwestern ist um mich bemüht. Jemand hält meine Beine in die Senkrechte, während ich noch in der Horizontalen liege; diesmal aber nicht auf dem staubigen Erdboden, sondern ordentlich auf einem Krankenbett.

„Nein, ich habe heute nichts gegessen. Ich habe gar nichts gegessen, auch gestern nicht.

Bitte, wo ist Fabio, mein Freund, der vor kurzem hier eingeliefert wurde? Wie geht es ihm?“

„Jetzt denken sie lieber erst mal an sich und essen schleunigst was, sie machen bereits einen sehr geschwächten Eindruck. Der Krankenpfleger wird ihnen gleich was bringen. Zuvor müssen wir sie allerdings noch als Patient registrieren. Sie sind doch krankenversichert?“

„Ja, schon.“

„Gut.

In der Zeit ihrer Anwesenheit wurden bereits viele Leute in unserem Krankenhaus eingeliefert. Wie ist denn der vollständige Name ihres Freundes?“

„Fabio Ferre. … F a b i o  F e r r e. Er ist Neunzehn, das genaue Geburtsdatum weiß ich jetzt nicht.“

„Moment, ich schau mal in die Liste. …

Ferre? Nein, einen Ferre haben wir hier nicht. Sind sie sich des Namens und der Schreibweise auch wirklich sicher?“

„Vollkommen sicher. Ich habe doch selbst gesehen, wie er ins Krankenhaus getragen wurde! Und weglaufen kann der in seinem jetzigen Zustand nicht. Bitte, er muss hier sein!“

„Nun regen sie sich mal nicht so auf! Ihr Freund kann hier nicht verloren gehen, das ist vollkommen ausgeschlossen. Sicher ist nur ein Fehler bei der Aufnahme passiert. Ich kümmere mich gleich darum. Wie auch immer, Herr Ferre ist hier in sehr guten Händen.

So, nun essen sie erstmal was anständiges, danach geht’s ans Aufnahmeprotokoll.“

*-*-*

Samstag, d. 31.08.2030 in Bilbao

„He, was soll das! An den Füßen bin ich kitzelig.

Renato? … Renato!“ Mein Bruder ist da. Und er kann es mal wieder nicht lassen, mich zu ärgern. Ruckzuck hab ich ihn am Hals hängen. Was für eine herzliche Begrüßung!

Mit leuchtenden Augen und ganz leise flüstert er mir zu, „So was von geile Ferien habe ich noch nie erlebt! Ich erzähle es dir, wenn…“

„Es ist gut, Renato, Manuel ist nun wach. Ich freue mich zwar sehr, wenn ich sehe, wie gut ihr zueinander steht, aber dein Bruder braucht momentan noch etwas Schonung.

Hallo, Manuel. Du machst ja Sachen, hast uns einen schönen Schrecken eingejagt. Die Krankenschwester hat mich gestern Abend angerufen. Wie geht es dir?“

„Oh, Papá…“, statt Worte, kommen mir erstmal nur die Tränen. „Es geht schon wieder, mir ist ja weiter nichts passiert, aber Fabio geht es wohl nicht so gut. Wir wurden entführt und in einem dunklen Loch drei Tage eingesperrt!“

„Ist ja gut, Manuel, brauchst nicht zu weinen, das wird schon wieder mit ihm!

Ich weiß bereits darüber Bescheid, wie es euch ergangen ist, dein Freund Antonio hat mir alles erzählt.

Ihr habt euch gestern unglücklicherweise verpasst, als er Fabio in die Notaufnahme für schwere Fälle gebracht hat, während du in diese Abteilung eingeliefert wurdest.

Antonio war gerade noch bei dir, während du geschlafen hast und ist jetzt raus, weil er meinte, er würde uns nur stören. Übrigens, ein sehr netter, sympathischer Junge.

Fabio liegt auf der Intensivstation. Allerdings hat Antonio ihn mit seiner Chipkarte und Identität ausstatten müssen, weil Fabio nichts dabei hatte und man ihn sonst ungern aufgenommen hätte. Aber kein Problem, das bekomme ich schon wieder hingebogen.

Du könntest ja nachher mal versuchen, ob man dich zu ihm lässt, aber nur, wenn du dich dazu in der Lage fühlst. Dir fehlt ja gesundheitlich außer einer schweren Erschöpfung zum Glück weiter nichts. Aber erwarte nicht zu viel, er ist leider noch nicht ansprechbar.

Eigentlich sollte ich dich laut deiner Mamá gleich mit nachhause nehmen, aber so wie es aussieht, wird du wohl kaum mitkommen und Fabio in seinem derzeitigen Zustand alleine lassen wollen.“

Lautes Klopfen an der Tür unterbricht unsere Unterhaltung.

„Hallo, lieber Manuel! Wir sind gekommen, um dir eine gute Genesung zu wünschen und auch, dass du und Fabio bald wieder gesund und munter mit uns zusammen sein könnt!

Wir haben dir auch extra schöne Blumen mitgebracht.“ Nico, Krzysztof und Antonio sorgen für die nächste Überraschung.

„Hallo, Jungs. Schön, dass ihr meinen Sohn besucht, dafür danke ich euch sehr. Ich will mich dann mal eben um Fabio kümmern gehen.

Renato, du bleibst solange hier, bis ich zurückkomme; nicht, dass du mir hier noch verloren gehst.“

Gleich drei große Blumensträuße auf einmal vor dem Gesicht, werde ich fast von den ganzen Blumen und ihrem Duft erstickt. „Moment, Leute, ich kann doch schon wieder aufstehen, mir fehlt ja weiter nichts.“

Nacheinander werde ich nun von allen umarmt und auf die Wangen geküsst.

„Guten Morgen, meine Herren, jetzt ist Zimmerreinigung angesagt! Das Bett wird auch neu bezogen. Der Besuch muss leider solange das Zimmer verlassen.“

„Das ist ja wie im Irrenhaus hier! Kommt, Leute, wir suchen uns einen ruhigeren Platz.“

*-*-*

Die Kantine ist gerade nicht gut besucht, so dass wir uns einen einsamen Tisch in der Ecke ausgesucht haben. Endlich mal wieder einen Kaffee trinken!

Antonio klopft mit dem Löffel an seine Tasse und bittet um Gehör. „Nachdem du, Fabio, uns eine Menge erzählt hast, möchte ich endlich loswerden, was mir schon lange auf der Zunge liegt, ich mich bisher aber nicht traute, es euch zu erzählen, denn ich habe große Angst, dass ihr mich danach hassen und verstoßen werdet.

Ich bin nicht derjenige, für den ich mich die ganze Zeit ausgegeben habe. Ich bin nicht der arme Student, der froh ist, mit euch zusammen preiswert in einer WG wohnen zu können. Mein Vater ist ein bekannter Landbesitzer, den ihr den Gemüsebaron nennt.

Es ist leider so, dass ich mich vor etwa einem halben Jahr in Fabios Umfeld eingeschlichen habe, um als Spitzel für meinen Papá zu dienen. Der wollte nämlich unter anderem wissen, wer die Bewässerungsanlagen auf seinen Feldern sabotiert hat.

Wie der Zufall es will, hat Fabio recht schnell zu mir Vertrauen gefasst und so habe ich erfahren können, dass er derjenige war. Du, Nico, warst ja von seiner Aktion nicht gerade begeistert.

Ich habe Fabio und euch damals überhaupt nicht verstanden, habe euch sogar verachtet wegen euren Ansichten. So konnte ich dann Fabio ohne Gewissensbisse verraten.

Jedoch, die Versicherung hat den Schaden mehr als ersetzt und es ist danach nichts mehr passiert, die Sache war für mich mehr oder weniger schon vergessen. Es gibt wegen der schlimmen Trockenheit aktuell ganz andere Sorgen, um die meine Familie sich kümmern muss.

Leider war ich nicht über die Vorhaben meiner Brüder informiert. Nur gut, dass Fabio den Braten sofort gerochen hat, dort am Busbahnhof…

Übrigens, ich habe meine Ansichten mittlerweile total verändert, ich bin jetzt einer von Fabios vielen Bewunderern, hab mich sogar etwas in ihn verliebt. Er ist einer der großartigsten Menschen, die ich bisher kennengelernt habe.

Für meinen Verrat schäme ich mich sehr und es tut mir aufrichtig leid, dass du, Manuel und besonders Fabio wegen mir solche Probleme bekommen habt.

So, jetzt ist es raus. Meinetwegen haut mir jetzt eins in die Fresse. Ich jedenfalls packe heute noch meine Sachen und dann seht ihr mich nie wieder.

Nun, sagt doch was…“

Schweigen. Ich bin geschockt und möchte Antonio jetzt gleich an die Gurgel springen, jedoch bin ich wohl der einigste mit solchen Gedanken, denn die anderen sitzen weiterhin friedlich und gefasst immer noch auf ihren Plätzen.

„Es war gut, dass du es uns nun endlich mal selbst erzählt hast. Aber wer du wirklich bist, das wussten wir schon längst!

Du hast wohl geglaubt, wenn du deinen Luxusschlitten nur ein paar Straßen weiter parkst, damit du damit abends schnell und heimlich zu deiner Mami fahren kannst, dass uns das nicht mal auffällt…

Du hast es Fabio zu verdanken, dass wir dich nicht schon längst rausgeschmissen haben. Der meinte nämlich, dass es drauf ankommt, wie es im Herzen eines Menschen aussieht, und nicht auf seine Herkunft.

Dein heimtückischer Verrat war aber längst nicht so ausschlaggebend, wie du jetzt glaubst, jedoch, das ist aber eine ganz andere Geschichte; dir das jetzt auch noch anzuvertrauen, na ja, besser wohl nicht…

Und wie du jetzt mit Manuel verbleibst, das müsst ihr beide unter euch ausmachen.“

Krzysztof hat gesprochen und fast alle erheben sich. Meinem Bruder, der bisher neben Antonio gesessen hat und mich beim Aufstehen mitleidig und kopfschüttelnd ansieht, ist deutlich anzumerken, was er gegenüber Antonio fühlt, wie er auf Abstand zu ihm geht. ‚Du kannst Kumpels haben…‘, ist da noch die Untermenge. Nur Antonio und ich bleiben noch zurück.

Ihm haben wir das alles zu verdanken… Hätte ich jetzt die Möglichkeit, mir Antonios Pistole greifen zu können, ich würde es tun!

„Und jetzt habe ich sogar noch meine Familie verraten. Ich habe die Daten aus dem Büro meines Vaters ins Netz gestellt, sogar den Inhalt seines wichtigsten, geheimsten Notizbuches, was ich vorher eingescannt habe. Und ich habe mich gegen meine Brüder gestellt, als ich euch befreite.

Aber was sollte ich machen, ich hatte nur die beiden Möglichkeiten: Erstens, mich für meine kriminelle, mordende Familie zu entscheiden und somit gegen Fabio und dich, und zweitens, dass ich euch befreie und somit vor dem sicheren Tod rette, jedoch meine Familie zerstöre.

Den Rest kannst du derzeit überall in den Nachrichten sehen.

So, ich gehe dann. Du wirst mich nie wieder sehen.

Ich bin ein charakterloser Loser, der seine besten und einzigen Freunde ins Unglück gestürzt hat. Ich bringe mich um; ich kann mit dieser Schuld nicht mehr leben.“

„Hau doch ab, du Arsch! Ich will dich nie wieder sehen! Meine Empfehlung: Geh in die Wüste, grabe dir ein Loch und erschießt dich dort!“

„Manuel? Antonio? … Was ist denn hier los! Ich müsst jetzt beide mitkommen. Fabio will euch sehen.“

„Papá… Antonio wollte gerade gehen.“

„Beide, habe ich gesagt!

Merkt euch eines: Es gibt zwischen Himmel und Erde Dinge, dagegen ist euer Streit nur winzig klein und unbedeutend, ihr werdet es gleich verstehen.

Aber bevor ihr zu Fabio reingeht, wischt euch gefälligst noch die Tränen ab!“

*-*-*

Mein Papá hat uns während des langen Weges durch die Korridore an den Schultern umarmt. Antonio etwas fester, der nun sehr blass wirkt und nur widerwillig Schritt hält. Ich jedoch, in froher Erwartung, schon bald meinen Freund wiederzusehen, folge ihm gerne, ja, würde den ganzen Weg am liebsten sogar rennen, wenn ich nur wüsste, wohin.

„Sie können die Stühle vom Flur ruhig mit hinein nehmen, falls drinnen nicht genug sind und sie vielleicht länger bleiben wollen“, bekommen wir noch als Hinweis von einem freundlichen Krankenpfleger, da habe ich den Türgriff schon in der Hand und trete ein.

Ein großes, weißes Zimmer, dominiert von einem Bett, welches in der Mitte steht, davor ein Metallständer mit Überwachungsgeräten, die rhythmisch pulsierend blinken. Seitlich davon sitzen Nico, Krzysztof und mein Bruder, der sich auf seinen Knien abgestützt hat und die Hände vors Gesicht hält. Über dem Bett ist ein schwarzes Kreuz angebracht, das mir auf dem weißen Hintergrund sofort auffällt.

„Denkt daran, dass Fabio bei Bewusstsein ist und alles von euch hören kann, auch wenn es wohl nicht so aussehen mag“, flüstert Papá uns zu.

„Nein, das wollte ich nicht!“, bricht es aus Antonio heraus.

Nur zögernd nähere ich mich dem Bett. An Fabios Handgelenken sind Schläuche befestigt, seine Hände sind stark angeschwollen. Es riecht unangenehm nach frischem Urin. Seine Augen starren unentwegt nach oben, das Gesicht ist sehr blas, wirkt wie leblos, in die Nasenlöcher hinein sind Beatmungshilfen gesteckt.

„Fabio…“

Ich sehe und begreife langsam, verstehe, was ich gar nicht verstehen will, was nicht sein soll, aber wohl nicht zu ändern ist. Es ist ganz still im Raum.

„Manu, da bist du endlich…

Ich wollt nur noch mal deine Stimme hörn, noch mal in deine Augen sehn.

Bitte, komm zu mir.“

Ich nähere mich dem Gesicht von Fabio, schaue ihm direkt in seine bewegungslosen Augen.

Dass er mich erkennt, merke ich deutlich an den Tränen in seinen Augenwinkeln und den leichten Bewegungen seines Körpers.

„Verzeih mir bitte, dass ich dich schon verlasse. Ich liebe dich ja so…“

„Ich liebe dich auch, Fabio. Für immer und ewig, egal, was passiert.“

Nichts kann mich jetzt zurückhalten, ihn zu küssen. Über ihn gebeugt und seine Schultern berührend, spüre ich den Geruch des nahenden Todes. Es ist ein heißer Kuss, aber auf einem kalten Mund.

Wir geben uns ganz unseren Gefühlen hin. Wir genießen unser Beisammensein in dem Bewusstsein, nicht mehr lange Gelegenheit dafür zu haben. Wenn doch die Zeit extra für uns stehen bleiben könnte! Für die anderen im Raum nicht sichtbar, verknüpft uns ein unsichtbares Band der Liebe, gemacht aus einem Stoff, der stärker ist als alles sonst auf der Erde, dem Stoff, aus dem Leben gemacht ist. Niemals in meinem Leben würde ich diesen Moment missen wollen!

„Bitte, Manu, bleib bei mir und hilf mir“, flüstert er leise, wohl nur für mich zu verstehen. Dass er auch über Antonio sprechen möchte, kann ich nur erahnen.

„Ja, Fabio, ich bleibe bei dir, fürchte dich nicht…“

Dann kann ich nur noch sehen, wie sich seine Lippen bewegen, aber nichts mehr verstehen, denn die Stimme wird unhörbar, sein Atem schwächer. Ich bange und hoffe um ihn, fühle und erleide mit, was er erleidet, aber er mir nicht mehr mitteilen kann.

Alle merken deutlich, wie sich der Ausdruck auf Fabios Gesicht plötzlich verändert und springen instinktiv auf, versuchen, mit ihm noch einmal zu reden. Fabio wird berührt und gestreichelt, seine Hände zum Abschied gedrückt.

Fabio kämpft lange und verbissen, kämpft dabei vor allem auch um mich, aber er kann diesen Kampf nicht mehr gewinnen. Es ist aussichtslos – die Sepsis ist schon zu stark vorangeschritten und hat seinen Körper vergiftet.

Seine Hände berührend, spüre ich, wie ihn immer mehr die Lebenskraft verlässt. Sein Atmen wird schwächer und schwächer, bis ein letzter tiefer Atemzug vom Ende seines Lebens kündet.

Ich bin froh, dass er den langen, quälenden Todeskampf nun endlich überstanden hat, und dass ich in den Stunden seiner größten Not bei ihm war.

Sein Kampf hat auch in mir ganz deutliche Spuren hinterlassen. Meine Tränen benetzen sein Gesicht, als ich ihn zum letzten Abschied küsse.

*-*-*

31. August 2065, Villaabajo Verde

„Opa!“ … „Opa, wach doch endlich auf!“

Die buschigen, schwarzen Augenbrauen meines Enkels Felix stehen dicht über meinen buschigen, schwarzen Augenbrauen und bewegen sich nervös zuckend, als er versucht, mich wachzurütteln.

Mir entgeht nicht sein sorgenvoller Gesichtsausdruck, der in ein breites Lächeln übergeht, als ich endlich auf ihn reagieren kann.

„Ach, du, Felix! Danke, dass du mich geweckt hast.

Es ist weiter nichts, worüber du dir Sorgen machen müsstest, dein Opa hat nur wieder mal schlimm geträumt.“

Wieder dieser verdammte Traum, der mich in unregelmäßigen Abständen an die Geschehnisse meiner Jugendzeit erinnert. Und wieder war er so klar und deutlich in allen Details, als wenn ich es gerade erleben würde.

Ich bin fix und alle, fühle mich wie gerädert. Dabei wollte ich eine Siesta machen und mich erholen, denn die Woche war mal wieder nur der blanke Stress.

„Von was träumst du denn immer so, kannst du mir es nicht mal erzählen?“

„Ach, Felix, weißt du, vielleicht erzähle ich dir das mal, wenn du etwas älter geworden bist, denn ich glaube nicht, dass das schon so gut für dich wäre.“

„Aber Opa, ich werde im nächsten Monat bereits Fünfzehn! Ich bin doch nicht mehr klein! Bitte, erzähle es mir, bitte, bitte…“

„Felix, nun bedränge mich doch nicht so! Du weißt genau, dass ich dir kaum etwas ausschlagen kann, aber es gibt wirklich Dinge im Leben, womit auch ein fünfzehnjähriger, schon so großer Junge wie du sich nicht mit belasten sollte.

Bist du mal so nett und holst mir bitte mal eine Flasche guten Wein aus dem Keller? Es ist schließlich Freitag und das Wochenende steht vor der Tür. Du kannst dir ja eine Flasche Apfelsaft mitbringen.“

Erst mal was in Ruhe trinken, bevor mich Felix wieder für den Rest des Tages in Beschlag nimmt. Hoffentlich vergisst er die Frage nach dem Traum ganz schnell…

„Opa, ich gehe ungern in diesen dunklen Keller, der macht mir immer Angst. Kannst du nicht mitkommen?“

„Felix, Felix, erst alte Gespenstergeschichten aus meiner Jugend hören wollen, aber es im Weinkeller mit der Angst bekommen, du bist mir schon einer. Gut, dann gehen wir halt zusammen in den Keller.“

Ich war schon lange nicht mehr im Weinkeller, denn schon seit meinen frühesten Jugendtagen ist mir dieser Ort eher unheimlich und ich meide ihn daher, wo es nur geht. Auch entspricht der Umstand, dass wir schon seit Jahrzehnten hier immer nur Wein rausgeholt haben, statt auch mal wieder frischen einzulagern, nicht meiner wissenschaftlich geschulten Logik. Und wenn ich dabei noch an die vielen Feten meiner Eltern mit der Familie von Jorge zurückdenke, damals, als die noch lebten…

*-*-*

Vor mir die schlanke, noch sehr kindliche Gestalt von Felix, mich dabei an der Hand fassend, so bewegen wir uns vorsichtig die abgenutzten Stufen der alten Kellertreppe hinunter. Leider haben die vielen aufgespannten Fangnetze der Spinnen keine Türen vorgesehen, so wäre es weitaus besser gewesen, wir hätten uns vorsorglich alte Kittel übergezogen, denn die klebrigen Fäden sind ziemlich unangenehm.

Das Licht der einsamen Glühlampe oberhalb der Kellertreppe beleuchtet die gesamte Treppenlänge nur spärlich, und wir müssen sehr darauf achten, auf den glatten und rutschigen Stufen nicht auszugleiten.

„Langsam, Felix, dein Opa ist kein Schnellzug!“

Unten ist es plötzlich stockfinster, Felix hat die altmodische Glühlampe gelockert.

„Such mich mal! Du findest mich doch so und so nicht!“

„Na, warte, wenn ich dich erst zu fassen kriege!“ Der macht aber ganz schöne Spielchen mit mir, von wegen Angst, der hat es Faust dick hinter den Ohren…

Von irgendwo aus einer dunklen Ecke kann ich Flaschen klappern hören und Felix’s Lachen.

Besser, er kommt jetzt und wir können endlich wieder hochgehen. Die Luft ist unangenehm kühl und feucht, was ich gesundheitlich nicht recht vertrage.

Als endlich das Licht wieder leuchtet, verlasse ich fluchtartig den Keller.

*-*-*

„Schau mal, Opa, was ich für dich ausgesucht habe.“

Die zwei Weinflaschen, die er mir mit Stolz präsentiert, sind total verstaubt, genau wie jetzt auch Felix und ich muss ihn erst mal so richtig abklopfen.

„Danke für deine Mühe. Aber schau mal in den Spiegel, wie du jetzt aussiehst. Du musstest auch mal wieder in die dunkelsten Ecken rein kriechen. Am besten, du wäscht dich erstmal und ziehst dir ein frisches T-Shirt über.“

Den Apfelsaft hat er wohl vergessen, wobei… er hat ja auch nur zwei Hände.

Während Felix im Bad verschwindet, beschäftige ich mich mit den Flaschen. Kurz unter den Wasserhahn gehalten, schon glänzen sie wieder vor Sauberkeit und gewähren mir einen Blick auf deren Inhalt: Rotwein, hausgemacht und vom Feinsten. Die kaum erkennbare Beschriftung auf den total vergilbten Etiketten ist leider nicht mehr zu entziffern. Mit einem lauten Blob ist der Korken entfernt und gibt das kostbare Getränk frei.

Ich glaube, ein halbes Glas davon kann Felix nicht schaden, auch wenn unser selbst gemachte es ziemlich in sich hat. So mache ich mich mit der geöffneten Flasche und zwei Gläsern auf den Weg zur Veranda.

Felix hat sich dort bereits auf dem Gartenstuhl hingerekelt, hält eine Mappe vor sich und ist im Lesen vertieft. Die nackten Füße hat er auf der Tischkante abgelegt, was ich nicht so gern sehe.

Außerdem hätte er sich auch etwas mehr überziehen können. Nur mit einer weiten Turnhose bekleidet, wo man unten hindurchschauen kann, wenn man das will, sitzt er neben mir. Und ich, wie immer in voller Montur, in Schlips und Bilderbogen.

Aber ich schimpfe sehr ungern mit ihm, denn das erledigen seine Eltern schon zur Genüge, wie ich finde. ‚Du hättest aber, du solltest, schäm dich nur‘, all solche tadelnden Bemerkungen im Staccato, dass ich manchmal schon wütend aus der Haut fahren will, jedoch kaum mal ein Lob.

Zum Glück sind die jetzt nicht da und wir haben unsere Ruhe; irgend eine Kulturveranstaltung, die sie unbedingt besuchen wollen. Ich habe die Woche über genug davon.

„Möchtest du mal vom Wein kosten? Ich habe dir auch ein Glas mitgebracht.

Was liest du gerade schönes?“

„Das habe ich in einem alten Schrank auf dem Dachboden gefunden. War alles nur auf kleinen Zetteln geschrieben mit einer krakeligen Handschrift, darum habe ich’s für mich neu verfasst. Weißt du, wer das geschrieben hat?“

Gedichte über Gedichte, also etwas, was mich überhaupt nicht interessiert, aber meinem Enkel wohl um so mehr. Um ihn nicht mit meinem Desinteresse zu kränken, nehme ich mir für die letzte Seite etwas mehr Zeit.

Ziemlich alt, das ganze, denn oben ist als Datum der 25.08.2030 eingetragen und es ist ein Kindermärchen. Handelt von einem Traumprinzen, der in ein Tal kommt und einen einsamen Jungen von seinem miserablen Zuhause und der Einsamkeit erlöst.

‚Manu, mein Traumprinz, wann kommst du…‘ Plötzlich verstehe ich!

„Opa, warum weinst du jetzt?“

Es bricht aus mir heraus, wie schon lange nicht mehr. Ich laufe in den Garten, damit der Junge mich nicht so in Tränen aufgelöst sehen muss.

„Opa, warum weinst du nur? Ist es wegen mir, habe ich denn schon wieder etwas falsch gemacht!“

„Nein, du hast überhaupt nichts falsch gemacht, im Gegenteil!

Du bist ein wirklich toller Junge und ich bin sehr stolz auf dich! Du bist das Allerbeste, was ich habe!

Nur, was du gefunden hast, erweckt wieder alte Erinnerungen, genau wie mein Traum vorhin, alles ist miteinander verknüpft, und auch wohl mit dir.

Sag mal, welches Datum haben wir heute?“

„Heute ist der 31. August. Warum fragst du?“

„Ach so, darum heute der Traum und jetzt noch die alten Gedichte…

Ich glaube, es ist Zeit, dass ich dir alles erzähle. Dafür musst du allerdings mit zum Friedhof kommen. Bitte aber nicht so, wie du jetzt bist, so fast nackt. Es wäre sehr schön, wenn du dir vorher noch was überziehen würdest.“

*-*-*

Felix will unbedingt den Rucksack tragen, in dem selbstgebackener Kuchen und die Flasche Rotwein verstaut ist, welchen ich noch nicht mal gekostet habe, und auch eine Decke. Ich habe noch ein paar Blumen aus dem Garten zu einem Grabstrauß gebunden.

Ihn an seinen Schultern umarmend, marschieren wir auf der von hohen Bäumen flankierten Allee in Richtung Friedhof. Es ist für die Zeit des späten Nachmittags noch sehr heiß.

Nur mit Mühe finde ich das Grab wieder. Es liegt ganz am Rande und ist fast schon vom Gestrüpp überwuchert. Der Grabstein sieht aus, als wenn er hier bereits vor Jahrhunderten achtlos abgelegt wurde, weil niemand mehr die dazugehörige Person kennt. Die Inschrift auf dem kleinen Grabstein ist von Moos bedeckt.

„Opa, wer liegt in dem alten Grab, kennst du den?“

„Genau der, welcher die Gedichte verfasst hat, die du erst gelesen hast.

Hier liegt Fabio begraben, der mal mein allerbester Freund war und der leider schon mit Neunzehn gestorben ist.“

„Wie, bitte? Hier liegt dein bester Freund begraben, hier in diesem unordentlichen Gestrüpp! Man, Opa…“

Kopfschüttelnd begibt sich Felix auf die Suche nach geeignetem Werkzeug, welches an verschiedenen Gräbern immer reichlich deponiert ist. Da habe ich mich jetzt ganz schön vor meinem Enkel blamiert, ich bin manchmal so ein Idiot!

Mit vereinten Kräften machen wir uns ans Werk. Nach bereits einer halben Stunde ist das störende Blätterdach ringsum beseitigt und die Sonne kann wieder ungehindert durchdringen. Nun gilt es noch, das störende Unkraut am Erdboden zu jäten.

*-*-*

Von der ungewohnten Arbeit etwas erschöpft, sitzen wir auf Fabios Grab, mit dem Rücken am Grabstein angelehnt, dessen vergoldete Inschrift jetzt wieder in der Sonne leuchten kann. Als dann erst die Decke auf dem blanken Boden ausgebreitet ist, vor uns der selbstgebackene Kuchen und die geöffnete Flasche Wein, sieht mich Felix erwartungsvoll an.

Ja, wie erzähle ich es nun meinem Kinde, ist hier wieder die Frage. Ich habe wirklich keine Ahnung, was ein 14-jähriger Junge schon verstehen und vertragen kann, das ist wirklich nicht mein Metier.

Prüfend schaue ich in sein Gesicht. Seine schon so klug wirkenden, dunklen Augen erinnern mich sehr an meinen Vater, der aber genau wie ich nichts mit Gedichten anfangen konnte. Das traf eher nur auf Fabio zu.

Woher hat er eigentlich die kleine Narbe auf der Stirn, die mir jetzt im Gegenlicht der Sonne zum ersten mal auffällt, und was soll diese entstellende Grübelfalte in der Mitte… Kenne ich diesen Jungen überhaupt richtig?

Mir wird bewusst, dass ich in diesem Moment beginne, ihn als eigenständige, schon etwas erwachsenere Person wahrzunehmen, die bereits mit dem wahren Leben konfrontiert wurde, die Gutes und Böses erfahren hat und erste Narben einstecken musste.

Das Kind, welches ich in ihm noch immer sah, und welches sich auch noch in seinen weichen Gesichtszügen deutlich widerspiegelt, ist er so nicht mehr.

Dann los, es muss jetzt aus mir raus, er soll wirklich alles erfahren.

*-*-*

Felix ist sichtlich gerührt, als ich meine Geschichte endlich beendet habe. Während meines Erzählens ist er immer näher an mich rangerückt, so dass wir jetzt ganz eng zusammen sitzen.

Nach dem Motto ‚Einer trage des anderen Last‘, ist mir, als wenn ein großer Stein von meiner Seele genommen wurde, der mich viele Jahre meines Lebens bedrückte.

„Opa, wenn du später mal sterben musst, will ich auch bei dir sein und deine Hand halten können. Ich finde es ganz schlimm, wenn jemand ganz einsam stirbt, nur von Apparaten umgeben.“

„Danke. Ja, so ist es, aber das dauert noch…

Wie würdest du es finden, wenn ich demnächst viel mehr Zeit für dich hätte, wir vielleicht im Tal des Todes Fabios alte Lesestube ganz neu errichten würden?“

„Oh ja, bitte, das wäre toll!“

Ganz dringender Fall von Frühpensionierung. Ja, ich denke schon, ich weiß, was ich am Montag machen werde.

Jetzt zum Abschluss einen Schluck Wein, da müsste noch genug in der Flasche sein, jedoch falsch gedacht; Felix sein Kopf liegt auf meiner Schulter, dabei leise schnarchend. Ich fasse es nicht, Bursche! Auch mich überkommt jetzt die Müdigkeit.

*-*-*

Der Wind spielt vergnügt mit den grünen Blättern der Friedhofsallee, als er uns friedlich zusammen schlafen sieht.

Ende

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