Blutrausch – Teil 1

Oliver
„Wohin gehst du?“, fragte ich ihn.
Ich stand am Fenster und drehte mich während der Frage zu ihm um.
Es war tiefste Nacht, alles dunkel um uns herum. Er Raum wurde einzig und allein von einer kleinen Kerze auf dem Tisch erhellt.
„Weiß ich noch nicht. Es ist ziemlich weit, nicht gerade in der nächsten Stadt oder so. Aber du weißt genau, dass ich nicht anders kann. So eine Chance bekomme ich nie wieder.“
„Und was ist mit uns? Bin ich dir so unwichtig?“
„Hatten wir das nicht geklärt?“
„Nein hatten wir nicht. DU hast das alles für DICH geklärt und mir nicht mal eine Chance gegeben zu sagen, wie ich darüber denke. Immerhin geht es hier auch um mein Leben. Ich hatte für dich alles liegen und stehen lassen. Hab für dich alles aufgegeben.“
„Hey. Du stellst mich hier irgendwie als das Allerletzte hin. Das ist nun echt nicht fair.“
Alex versuchte mich in den Arm zu nehmen, doch ich entzog mich seiner Annäherung.
„Fair? Du redest von fair? Alex lass es einfach sein. So wie es aussieht, bin ich dir total egal. Und meine Gefühle scheinen dir auch egal zu sein. Alles andere ist wichtiger als unsere Beziehung. Die letzte Zeit war ich nur dein Freund, wenn ich dir in den Kram gepasst hab.“
Ich warf Alex einen sehr verbitterten Blick zu. „Aber das stimmt doch gar nicht. Ich war doch immer für dich da, wenn du mich gebraucht hast Oliver.“
„Wirklich? Wusstest du, wie es mir geht? Hast du es gemerkt, wenn ich mit dir reden wollte? Hast du mir zugehört? Hast du überhaupt eine Ahnung, wie ich meine Gefühle verstecken musste, weil jedes Mal, wenn ich mit dir reden wollte, der liebe Alex müde war oder lieber poppen wollte? Aber was genau in mir los ist, was ich seit Jahren in mich reinfressen musste, das weißt du nicht. Du hast mir lieber immer alles von deiner Rezeption erzählt. Wer, wann, wo, was gesagt hatte und solche Dinge. Gibt es bei dir nichts Wichtigeres im Leben?
Ich setzte mich auf die Couch und zog die Beine an den Körper.
„Hey, hör auf mit den Vorwürfen. Du weißt, dass das alles nicht stimmt. Du weißt, dass ich dich wahnsinnig gern habe. Mach es mir doch nicht so schwer.“
„Ach, ich mach es dir schwer? Wer von uns will denn weg? Denkst du, eine –Beziehung basiert auf gern haben?“, mein Ton war eiskalt.
„Entschuldige. Ich denke, es hat im Moment einfach keinen Sinn zu reden. Lass uns morgen weiterreden.“
„Keinen Sinn? Du hörst mir ja nie zu. Weißt du was? Mach doch was du willst“, meinte ich nur noch und sprang auf. Ich schnappte mir meine Jacke und stürmte aus der Tür, welche mit einem sehr lauten Knall ins Schloss fiel. Alex wollte noch etwas sagen, aber dieses Mal, das erste Mal in unserer bisherigen Beziehung, beachtete ich ihn nicht.
Es war kalt und der Regen nahm seit drei Tagen kein Ende. Der Wind zog durch meine Jacke und ließ mich zittern. Ich hätte doch die dicke Jacke, die ich letzten Winter gekauft hatte, nehmen sollen, doch bei meinem fluchtartigen Aufbruch wollte ich nur weg und hatte nicht darauf geachtet. In einer kleinen Gasse blieb ich an der Ecke stehen und suchte etwas Schutz vor dem Wind. Mir war nicht aufgefallen, dass sich noch jemand in der Gasse aufgehalten hatte.

Mir wurde eiskalt. Jeder einzelne meiner Muskeln fing an zu zittern. Ich musste kurzzeitig das Bewusstsein verloren haben. Als ich meine Augen wieder aufgeschlagen hatte, zuckte ich erschrocken zusammen. Ein Junge kniete vor mir und strich meine nassen Haare aus der Stirn.
„Hallo. Geht es dir nicht gut?“, fragte der fremde Junge.
Er war nicht älter als ich selbst, circa 20, vielleicht auch 21. Ich selbst war ja auch erst 21, hatte hellblonde Haare, die nicht so gefärbt waren und eisblaue Augen. Ich hatte, trotz Nichtbesuchen eines Fitness-Studios und keiner sportlichen Betätigung, eine ansehnliche Figur, bei der die Muskeln, warum auch immer, etwas ausgeprägter waren als normal üblich.
Die schwarzen Haare meines Gegenübers hatten jegliches Styling verloren. Er hatte fast schwarze Augen und was seine Statur betraf: Er war recht durchschnittlich.
Keine zu starken Muskeln, aber auch kein Hämpfling.
„Ähm…. Deine Blicke machen mich etwas verlegen“, meinte er mit seiner leisen aber trotzdem durchdringenden, sehr angenehmen Stimme. „Entschuldige. Ich war etwas in Gedanken. Mir geht es gut“, antwortete ich leise und versuchte aufzustehen, doch meine Beine hatten scheinbar anderes im Sinn und gaben nach.
Der Junge fing mich sofort auf und hielt mich fest, dabei betrachtete er mich mit einem, meiner Meinung nach, besorgten Blick. Genaueres konnte ich in seinen dunklen Augen im Dunkel der Strasse nicht erkennen. Der Unbekannte hielt mich mit einem Arm fest und legte seine Hand auf meine Stirn.
„Du hast Fieber“, murmelte er leise. Kaum hatte er dies gesagt, spürte ich eine unbändige Müdigkeit und verlor erneut das Bewusstsein. Diesmal für länger, denn ich merkte nicht, wie der junge Mann kurz mit weit geöffnetem Mund an meinem Hals roch, innehielt und kurz überlegte. Dann erst packte er mich, hob mich hoch und ging los.
Langsam spürte ich wieder Leben in mir. Ich dachte kurz an die dunkle Gasse, in der ich zusammengebrochen war und an den Fremden.
Erst hatte ich angenommen, es hätte aufgehört zu regnen, doch als ich meine Augen öffnete, erkannte ich, dass mich besagter Junge irgendwo hingebracht haben musste. Ich lag keineswegs mehr in der dunklen Gasse, sondern auf einem riesigen Himmelbett, welches sehr alt aussah. Neugierig ließ ich meinen Blick durch das Zimmer schweifen und entdeckte einige dunkle Möbel, welche ebenfalls sehr alt wirkten. Insgesamt war es sehr dunkel und wirkte auch ein wenig düster, was von den dunklen schweren Vorhängen noch verstärkt wurde. Sie schlossen jegliches Licht von außerhalb aus.
Erhellt wurde der Raum lediglich von ein paar Kerzen, außerdem roch ich einen unbestimmten süßlichen Duft, dessen Quelle ich nicht
Erst nach einigen Minuten fiel mir auf, dass sanfte, leise Klänge zu hören waren, deren Quelle ich ebenfalls nicht ausfindig machen konnte, bis ich sah, dass die Tür einen Spalt weit offen stand. Scheinbar hatte jemand im angrenzenden Raum Musik eingelegt, die verdächtig nach Mike Oldfield klang. Warum ich das so genau wusste? Nun, ich war seit Ewigkeiten ein großer Fan des Musikers und hätte ihn vermutlich noch aus einem Mix aus Heavy Metal, Punk und Techno heraushören können. Ich stand auf, nahm den Bademantel, der sorgsam gefaltet auf einem Stuhl neben dem Bett lag und zog ihn über. Kurz lugte ich durch den Türspalt und ging dann hindurch. Wie das Zimmer, in dem ich aufgewacht war, war auch dieses sehr dunkel gehalten und wurde nur durch Kerzenschein erhellt. Außerdem befanden sich auch hier kaum Möbel, auf dem ersten Blick konnte ich nur einen kleinen Schrank, eine Couch und einen Tisch ausmachen
„Na bist du wieder wach?“, fragte mich plötzlich jemand.
Ich drehte mich erschrocken um und sah dem fremden Jungen in die Augen.
„Du bist vorhin in der Gasse zusammengebrochen. Ich hab dich hergebracht, weil ich nicht wusste, wohin sonst. Aber bis auf das Fieber scheint es dir gut zu gehen.“
„Na ja, das dürfte relativ sein“, erwiderte ich und ließ mich auf der Couch nieder.
„Warum nimmst du einfach so einen dir fremden Jungen mit nach Hause?“
„Weil ich dich da nicht liegen lassen konnte, es regnet ununterbrochen. Du hättest dir den Tod geholt.“
„Vielleicht wollte ich das sogar“, meinte ich leise und schloss die Augen.
„Ich heiße übrigens Raijin. Wie ist dein Name?“
„Oliver.“
„Gut, dann hör mir mal zu, Oliver. Du wirst jetzt erst mal ein heißes Bad nehmen und dich aufwärmen und ich mach dir in der Zwischenzeit was Warmes zu essen.“
„Ich will nichts essen.“
„Na gut, dann bekommst du einen heißen Tee. So und jetzt komm erst mal mit“, sagte Raijin leise und nahm meine Hand, als ich keinerlei Anstalten machte, mitzugehen.
Er führte mich ins Bad und ließ Wasser in die Badewanne ein.
„Ziehst du dich allein aus, oder soll ich das auch noch machen?“, fragte Raijin noch immer leise.
Ich sah ihn verlegen an und schüttelte dann den Kopf.
„Ich mach das allein.“
„In Ordnung. Lass dir Zeit“, meinte Raijin nur noch und schloss hinter sich die Tür.
Ich lies mir den Bademantel am Körper entlang nach unten gleiten und sah mich auch hier um, während die Wanne voll lief.
Eigentlich sah es aus wie ein normales Bad, doch auch hier war das Fenster verhangen und alles wurde nur durch Kerzen erleuchtet, wenn auch nicht mit so vielen wie im Wohnzimmer.
Langsam stieg ich in die Badewanne und lehnte mich zurück. Ich hatte zwar nichts gesehen, doch ich wurde das Gefühl nicht los, dass Raijin irgendetwas ins Wasser gegeben hatte. Es roch süßlich und ließ mich ein wenig träumen. In mir kamen Erinnerungen hoch, welche ich vor langer Zeit sehr tief in mir begraben hatte.
Momente, in denen ich mit Alex alles andere vergessen hatte, nur noch wir beide waren wichtig gewesen. Der Moment unseres Kennenlernens kam mir in den Sinn. Der Moment, als Alex mich angesprochen hatte. Ich hatte wie so oft am Spielplatz im Park um die Ecke gesessen und war in meinen Gedanken versunken gewesen. Damals war Alex auf mich zugekommen und hatte mich gefragt, was denn los sei, weil mein Blick soviel Trauer und Unruhe ausgestrahlt hatte.
Bis heute wusste ich nicht, warum er das gemacht hatte, aber bis vor ein paar Tagen oder sogar Wochen hatte ich es nie bereut. Ich beschäftigte mich eine Weile mit diesen Gedanken, bis ich meine Augen wieder öffnete. Ich wollte nicht immer wieder Alex‘ Gesicht vor mir sehen, als er mir gesagt hatte, er werde die Stadt verlassen, egal ob ich mitgehen würde oder nicht. Stattdessen sah ich nun Raijin in die Augen, der mich besorgt ansah.
„Oliver? Alles in Ordnung?“
„Nein“, murmelte ich leise.
„Aber geht schon…muss ja.“, vervollständigte ich den Satz und versuchte zu lächeln.
„Na ich weiß nicht. Du bist mir hier eben fast eingeschlafen und außerdem hast du rote Augen und Fieber. Das erachte ich nicht unbedingt als ‚geht schon‘“, meinte Raijin und sah mich immer noch besorgt mit seinen dunkel funkelnden Augen an.
„Na komm! Raus mit dir, das Wasser ist schon kalt. Ich gebe dir Sachen von mir zum Anziehen.“
Raijin nahm ein großes Badetuch aus dem Regal und hielt es mir ausgebreitet hin. Ich musste ihn wohl sehr verlegen angesehen haben, denn Raijin grinste leicht.
„Na los, du hast nichts, was ich nicht schon mal gesehen hab.“
Ich zögerte noch einmal und stand dann doch auf. Raijin wickelte mir das Badetuch um die Schultern und strich mir ein paar Strähnen aus dem Gesicht.
„Möchtest du heute Nacht vielleicht hier bleiben? Ich möchte dich nur ungern so nach Hause gehen lassen.“
Ich brachte kein Wort heraus, also nickte ich leicht und sah nach unten. Ich konnte und wollte heute nicht mehr zurück in die Wohnung. Nicht zurück zu Alex. Nicht zurück zu dem Gefühl, unerwünscht zu sein beziehungsweise wie ein Gegenstand behandelt zu werden, den man nur aus dem Schrank holte, wenn man ihn brauchte.
„Okay.“
Raijin atmete erleichtert auf und ging ins Schlafzimmer zurück. Schon kurz danach kam er mit einem Pyjama ins Bad zurück und sah mich prüfend an.
„Müsste passen. Komm einfach rüber, wenn du fertig bist.“
Ich konnte nur ein leises „Ja“ hauchen.

Raijin

Ich ging aus dem Bad und ließ mich im Wohnzimmer auf die Couch fallen. Der Tee stand schon fertig zubereitet vor mir auf dem Tisch und dampfte vor sich hin. Ich ließ meinen Blick zu einer brennenden Kerze wandern und versank bei dem Anblick der Flamme für einen Moment in Gedanken.
„Ich bin fertig. Sollen die Kerzen brennen bleiben nebenan?“, riss Oliver mich zurück in die Gegenwart.
„Ja. Da passiert nichts, die stehen sicher. Komm bitte her.“
Ich deute auf den freien Platz neben mir auf der Couch und reichte ihm eine Tasse Tee.
„Möchtest du reden?“
Oliver schüttelte leicht den Kopf.
„Okay. Möchtest du Fernsehen?“
Oliver sah sich kurz um.
„Du hast keinen Fernseher“, sagte er verwirrt. Ich musste ein klein wenig lachen.
„Stimmt, hier nicht. Komm mit. Meine Wohnung hat zwar noch nicht viel, weil ich erst hergezogen bin, aber ich hab einen Fernseher, da kannst du dir sicher sein“, fuhr ich grinsend fort.
Ich stand auf und ging mit Oliver in ein anderes Zimmer.
„Mein eigentliches Wohnzimmer ist das hier.“
Ich ließ mich auf die große Couch fallen und bot Oliver einen Platz an.
„Du hast viele Kerzen stehen.“
„Ich hatte am Anfang noch keine Heizung an, weil…naja dazu später mehr. Sagen wir, es gefällt mir sehr gut.“
„Sieht auch gemütlich aus, aber wirkt ein bisschen düster vor allem durch die verhängten Fenster. Hat das einen Grund?“
„Ich weiß, aber um ehrlich zu sein, mag ich es auch ein bisschen düster.“
„Warum?“
„Ich bin oft allein und es ist … sagen wir mal, ich fühle mich einfach wohler, wenn es so aussieht hier. Das ist schwer zu erklären. Dazu müsstest du mich besser kennen, damit du es verstehst.“
„Ich versteh es auch so“, meinte Oliver leise und ging zum Fenster.
„Warum bist du so traurig?“, fragte ich vorsichtig und stellte seine Tasse auf den Tisch.
Oliver lachte kurz bitter, ehe er sich zu mir umdrehte und mir in die Augen sah.
„Weil mein Freund, ach halt, das ist er ja nicht mehr, zumindest nicht für mich,… weil mein Ex-Freund meint, er muss die Stadt wegen seiner neuen Arbeit verlassen und ich muss mitkommen. Beziehungsweise anscheinend ist es ihm total egal, ob ich das will oder nicht. Er hört mir ja nicht mal zu. Ich war anscheinend nur ein Spielzeug für ihn. Verdammt dieser Idiot.“
Oliver, der sich ziemlich in Rage geredet hatte, ließ sich auf den Boden unter dem Fenster sinken und zog die Beine an den Körper. Sein Gesicht vergrub er hinter seinen Händen. Ich setzte mich neben ihn und strich ihm durch die Haare, worauf er mich mit verheulten Augen ansah. An seinen Wangen rannen die Tränen noch immer entlang. „Es ist in Ordnung, wein dich erst mal aus, das hilft“, versuchte ich ihn zu beruhigen.
Ich zog ihn etwas näher an mich heran und hielt ihn so lange fest, bis Oliver vor Erschöpfung in Morpheus‘ Arme glitt. Vorsichtig legte ich ihn auf die Couch, damit er sich ein wenig ausruhen konnte, während ich mich in der Küche versuchen und etwas zu essen zaubern wollte. Das scheiterte jedoch an der gähnenden Leere in meinem Kühlschrank. Ein Blick in selbigen hinein reichte, um festzustellen, dass ich dringend einkaufen gehen sollte. Nach einem Blick auf die Uhr schnappte ich meinen schwarzen Ledermantel und schrieb eine kurze Einkaufsliste.
Schon wollte ich los, machte jedoch an der Tür noch einmal kehrt und ging in die Küche zurück. Dort schrieb ich einen kurzen Zettel für Oliver und legte diesen im Wohnzimmer auf den Tisch. Noch einmal strich ich Oliver sanft durchs Haar, ehe ich mich endlich auf den Weg machte und zur Kaufhalle ging.

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