Das Boycamp II – Teil 1

Nico rannte los, als hätte ihn der Teufel geritten, wurde immer schneller bis zum nächsten Baum. Gekonnt umrundete er den Stamm und sah keuchend in die Richtung aus der er gekommen war. Kurz darauf rannte ein Junge aus dem dichten Blätterwerk der Büsche auf ihn zu. Er lachte, übermütig.
»Ich krieg dich. Du kannst mir nicht entkommen!«, rief er Nico zu.

»Dann versuch es doch!«, schrie er keuchend und lachend zurück. Aber diesmal rannte er nicht weiter. Er wartete bis der Junge bei ihm war. Ungebremst prallte er mit Nico zusammen und beide stürzten in das raschelnde Laub.

»Du bist so verdammt schön«, hörte Nico den Jungen sagen, der jetzt mit seinem ganzen Körper auf ihm lag und seine Hände auf den Boden drückte.

»Du auch«, sagte Nico, noch immer nach Luft schnappend.

Der Junge senkte seinen Kopf und schloss langsam die Augen.
»Ich küss dich jetzt«, flüsterte er.

»Ja, Manuel.«

In dem Augenblick als Nico den Namen sagte, schreckte er hoch. Etliche Sekunden verstrichen, bis ihm dämmerte dass es nur ein wunderschöner, aber dennoch schrecklicher Traum war. Sein Herz klopfte wild, Schweiß stand ihm auf Stirn und Brust. Es war nicht das erste Mal, dass er von Manuel geträumt hatte, aber noch nie so wirklichkeitsnah wie an diesem frühen Morgen.

Langsam drehte er sich auf die Seite und schlug die Decke über seinen Oberkörper. Wann würde das vorbei sein? Das leise, gleichmäßige Atmen neben ihm wirkte beruhigend. Langsam legte er seine Hand auf die Schulter des Körpers, strich sanft darüber. Dann rückte er näher an seinen Nachbarn, drückte sich sanft an den Rücken und ließ seine Finger an der Schläfe entlang fahren. Winzige Bartstoppeln pieksten die Fingerkuppen und der Junge räkelte sich unter der sanften Berührung. Nico richtete sich auf und drückte ihm einen Kuss aufs Ohr.
»Morgen du Schlafmütze, aufstehen.«

Stefan rollte sich zusammen wie eine Kellerassel und zog die Bettdecke bis über den Kopf.
»Nein, nicht mitten in der Nacht«, seufzte er.

»Es ist nicht mehr Nacht, es wird schon Mittag«, flüsterte ihm Nico ins Ohr.

Stefan grummelte missmutig. »Egal, es ist Nacht. Tiefe Nacht.«

Nico zuckte mit den Achseln. Verständlich war die Reaktion seines Freundes schon, immerhin hatten ihre Spielchen bis weit nach Mitternacht gedauert, denn beide waren sie nach Liebe ausgehungert in einen wahren Rausch gestürzt. Zwar sahen sie sich praktisch jedes Wochenende, aber die letzten beiden Male klappte es nicht, weil familiäre Angelegenheiten dazwischen gekommen waren. So waren sie bereits Tags zuvor am frühen Abend übereinander hergefallen wie zwei Wilde, die schon Jahre keinen Sex mehr gehabt hatten. Und es war schön. Nico konnte sich in letzter Zeit nichts Schöneres vorstellen als in Stefans Nähe zu sein und mit ihm zu schlafen. Sollte sie das Schicksal zusammengeführt haben, dann würde er der Zeit im Camp ein Denkmal setzen.
Langsam steckte er seine Hand unter die Bettdecke und bekam Stefans feste Pobacken zu
fassen. Sofort reagierte sein bester Spielkamerad zwischen den Beinen auf diese Handlung und Stefan zuckte zusammen.
»Hm… Hast du noch immer nicht genug?«, raunte er unter der Decke.

»Wie sollte ich je genug von dir bekommen?«, antwortete Nico, entschied sich dann aber seine Hand wieder wegzuziehen.
Regentropfen klopften an die Fensterscheibe; ein grauer und ekliger Spätsommertag, wie dafür geschaffen im Bett zu bleiben. Und genau das befürchtete Nico dann auch. Ein betörender Duft nach Junge und Schlaf kitzelte seine Nase und begann ihn anzustacheln. Noch bevor er sich den aufsteigenden Gelüsten hinzugeben drohte, setzte er sich auf und streckte die Beine aus.
»Ich mach uns ´nen Kaffee«, sagte er, stand auf und trat ans Fenster. Nein, kein Wetter zum aufbleiben, und doch….

Er taperte in die Küche und brachte die Kaffeemaschine in Gang, setzte sich an den Tisch, angelte eine Zigarette aus der Schachtel, die noch vom Vorabend dalag und dachte nach.
Nachdem sie vor zwei Jahren aus dem Camp zurückgekehrt waren, begann eine lange Zeit der Bewältigung und nur langsam kam ihre Annäherung in Gang. Sie trafen sich täglich im Chat, telefonierten oft miteinander und nach zwei Monaten besuchte Nico Stefan das erste Mal. Damals ging es lange nicht über leidenschaftliche Küsse hinaus. Erst als sie später den Führerschein hatten und als Auszubildende eigenes Geld verdienten, begannen die regelmäßigen Besuche. Und da Stefan in einem kleinen Anbau seines Elternhauses wohnte, ging der Besuch immer in diese eine Richtung. Dort annähernd ungestört, manifestierte sich dieses kleine Anwesen zu ihrem Liebesnest. Es machte Niko nichts aus; hundert Kilometer zu fahren war zwar nicht um die Ecke; aber ihm war keine Strecke zu weit. Zumal sie sich mit jedem Mal besser verstanden – und fast schleichend eine heiße Liebe zwischen ihnen entbrannte.
Vor seinen Eltern hatte sich Nico vor einem Jahr geoutet, was nicht ohne Probleme vonstatten gegangen war. Vor allem sein Vater hatte massive Probleme, aber seit etwa sechs Monaten war das Verhältnis zwischen ihnen wieder auf gutem Niveau. Stefans Eltern wussten es schon länger von ihm und Nico war inzwischen schon so etwas wie ein Familienmitglied geworden. Auch unter ihren Eltern hatte sich inzwischen eine Freundschaft entwickelt und so war es nicht verwunderlich, dass die beiden Jungen den festen Plan fassten, nach Nicos Lehre zusammen zu ziehen. Noch aber zogen sich die Wochentage elend zäh dahin bis es endlich Freitagmittag war.

»Aha, doch noch eingesehen dass keine Nacht mehr ist?«, grinste Nico, als Stefan nur mit seiner Boxershort bekleidet, mehr in die kleine Küche schlurfte als ging. Nico schluckte. Wie sah sein Freund nur aus mit den verstrubbelten Haaren, dem Bartschatten und diesem unwiderstehlichen Schlafzimmerblick, wenn er noch halb am pennen war? Seine Gedanken setzte er sofort grinsend in Worte um. »Hase, du siehst zum anfressen aus.«

Als hätte er die Nacht durchgefeiert, ließ sich Stefan auf den Stuhl fallen und winkte ab. »Mann, hör bloß auf, ich bin eh schon kaputt.«

»Hier, damit du zu dir kommst«, sagte Nico und schob Stefan grinsend die Kaffeetasse hin, »und sag jetzt nicht, dass ich Schuld daran bin.«

»Klar hast du Schuld. Ich kann dir nur sagen – mein Arsch ist erst Mal zu nichts zu gebrauchen. Nicht mal zum sitzen.«

Nico lachte laut heraus. »Aber gejammert hast du nicht.«, worauf Stefan den Kopf leicht schüttelte und verschmitzt lächelte.

»Nanu?«, fragte er verwundert und beide sahen sich überrascht an, als die Türklingel ging. Stefan sah auf die Uhr. »Wer ist das denn am Samstag?«

Nico zog die Schultern hoch, während sich sein Freund auf den Weg zur Tür machte.

Stimmen wurden laut, Nico verstand zunächst nicht um was es ging. Offenbar war es Stefans Vater der geklingelt hatte. Dann wurden die Stimmen deutlicher.

»Ich kann dir eins mit Sicherheit sagen: Das werde ich nicht dulden. Was hat dich bloß dazu getrieben? Hast du nicht alles was du brauchst? Ich verstehe dich nicht. Aber das hat sofort ein Ende, hörst du? Und wo ist überhaupt dieses Früchtchen?«

Kaum hatte Nico begriffen dass er damit gemeint sein musste stand Stefans Vater in der Küche, die Fäuste in die Hüften gestemmt baute er sich vor ihm auf. Andreas Regmann war ein stattlicher Mann von fast zwei Metern und einem Kampfgewicht von gut 110 Kilo. Mit seinem dunklen Vollbart und der Brille wirkte er in dem Augenblick richtig bedrohlich.

»Ich hab’s mir eigentlich gedacht. Frag nicht warum, aber ich hatte ständig das Gefühl dass mit dir etwas nicht stimmt. Dass ihr schwul seid ist kein Verbrechen, dafür könnt ihr nichts. Aber dass ihr hinter meinem und dem Rücken meiner Frau Drogen konsumiert schlägt dem Fass den Boden aus. Das dulden wir hier nicht, verstanden?«

Nico hatte das Gefühl, als würde ihm der Boden unter den Füßen weggezogen. Was sagte der Mann da grade? Drogen? Er schluckte, ihm verschlug es zunächst die Sprache. Sofort suchte sein Blick Stefan, der hinter seinem Vater stand und einige Köpfe kleiner geworden zu sein schien.
»Andreas, ich verstehe nicht….«

»Ach, du verstehst nicht? Dann will ich dich mal aufklären. Ich war auch mal jung, ganz gewiss und ich hab auch mal ab und zu gekifft. Aber das waren zwei, drei Ausrutscher und die gebe ich unumwunden zu. Aber hier hab ich das Gefühl, das geht weit über das Maß hinaus. Zu weit. Nico, pack deine Sachen, ich will dich hier nicht mehr sehen. Zwar ist Stefan alt genug, aber ich nehme mir das Recht heraus ihm den Umgang mit dir zu verbieten.«

Nico hörte die letzten Worte wie durch einen Wattebausch, er spürte wie sich ihm die Kehle zuschnürte. Stefan stand noch immer ohne eine Regung hinter seinem Vater.

»Was wirfst du uns vor?«, traute sich Nico dann zu fragen und stand auf. So wirkte der Mann nicht mehr allzu bedrohlich.

»Ich wundere mich dass du das fragst, wo du doch offensichtlich sehr darauf bedacht warst, deine unsauberen Machenschaften von eurer Wohnung hier fernzuhalten! «
Um seine Worte zu unterstreichen, knallte er eine kleine durchsichtige Plastiktüte auf den Küchentisch.
»Vielleicht fällt dir ja jetzt ein, worum es hier geht!«

Ungläubig betrachtete Nico das Päckchen auf dem Tisch. Er war aufgeklärt genug um auch so zu erkennen was sich darin befand. Kleine, grüne Haschischblöckchen schienen ihm regelrecht in die Augen zu stechen.
»Das gehört mir nicht«, sagte er trotzig.

»So? Wem denn dann? Dem Heiligen Geist oder gar meinem Sohn vielleicht? Du hättest es nicht im Keller drüben auf das Wasserrohr legen sollen. Zufällig inspiziere ich nämlich regelmäßig die Leitungen, aber das konntest du ja nicht wissen.«

Nico bemerkte, dass Stefans Gesicht rot wurde. Der Kloß in seinem Hals wurde dick und drohte ihm die Luft abzuschnüren, denn hier war offensichtlich etwas im Gange das ihm auf einmal Angst machte. In Sekunden schossen ihm alle möglichen Gedanken durch den Kopf und sein Blick bohrte sich in Stefans Augen. War da etwas, von dem er nichts wusste? Nicht wissen durfte? Wie viel Vertrauen ging in diesem Moment verloren? Er konnte es nicht fassen. Stefan wehrte sich nicht, wurde stattdessen rot und verlegen.
Sofort entschied sich Nico, dazu keine Fragen mehr zu stellen. Er würde Stefan zumindest jetzt kein Wort mehr glauben können.

»Und damit du nicht glaubst, da mit heiler Haut davonzukommen: Ich habe bereits deine Eltern informiert. Wie du das mit denen regelst ist mir so ziemlich egal, Hauptsache du bist in ein paar Augenblicken von hier verschwunden.«
Ohne weitere Worte drehte sich Andreas Regmann um, schob seinen Sohn unwirsch zur Seite und verließ das Haus.

Ohne Stefan noch einmal anzusehen ging Nico ins Schlafzimmer, zog sich hastig sein T-Shirt über, schlüpfte in die Sneakers und zerrte tränenüberströmt seine Tasche aus dem Kleiderschrank. Er spürte wie ihn Stefan dabei beobachtete, drehte sich aber nicht um. Zu seiner Enttäuschung gesellte sich unendliche Traurigkeit und Wut. Er machte sich nicht die Mühe die Tränen abzuwischen, die in Strömen seine Wangen herunterliefen und auf die Wäsche in der Tasche tropften. Er wollte etwas sagen, aber schließlich ließ er es sein.

Am meisten schmerzte, dass ihn Stefan offenbar ins offene Messer hatte laufen lassen. Es interessierte ihn auch nicht, wie das mit dem Päckchen wirklich war. Wenn Stefan nichts damit zu tun hatte, warum verteidigte er sich und ihn dann nicht? Was er nun zu Hause erwarten durfte, darüber wollte er lieber nicht nachdenken.
Zornig drückte er die Wäschestücke zusammen und zog den Reißverschluss der Tasche zu. Er sah sich noch einmal kurz in dem Zimmer um, wobei sein Blick Stefan auswich. Er ignorierte seinen Freund, obwohl ihm das augenblicklich weh tat. Er hob die Tasche auf und ging ohne ein Wort an Stefan vorbei nach draußen.

Unter allen anderen Umständen wäre er jetzt kein Auto gefahren, aber er musste weg. Fort hier, auch wenn ihm die Angst vor zu Hause den Hals zuschnürte. Er drehte den Zündschlüssel um und gab Gas. Das trübe Regenwetter passte nun zu seiner Stimmung und erneut öffneten sich seine Tränenschleusen.

Immer wieder sah er Stefan vor sich, dieses sonst so unschuldige Gesicht. Nein, er wollte ihn nicht wieder sehen. Er fühlte sich ausgenutzt, hintergangen, hereingelegt. Und immer wieder fragte er sich, was seine Eltern sagen würden. Sein Vater hatte für sehr vieles Verständnis, aber dafür nicht. Hinauswerfen? Nico beruhigte sich etwas, da es schließlich keine Summe aufzumachen galt. Er kam sehr gut mit seinen Eltern aus, sie würden ihn anhören und sie würden ihm glauben müssen, dass er damit nichts zu tun hatte.
Nico hielt unterwegs an mehreren Rastplätzen an um sich besser auf die Fahrt konzentrieren zu können. Über zwei Stunden war er unterwegs, solange hatte er noch nie für den Heimweg gebraucht.

Sein Herz klopfte schmerzhaft in der Brust, als er die Wohnungstür aufschloss. Das Auto stand draußen, seine Eltern mussten zu Hause sein. Er rief nicht wie sonst ein „Hallo“ durch die Gänge. Wichtig war ein erster Blick in ihre Gesichter, dann konnte er meistens schon abwägen wie sie gelaunt waren. Meistens gab’s dafür ja keinen Grund, aber diesmal war es notwendig.

Nachdem er die Tasche abgestellt hatte, blickte er ins Wohnzimmer. Der Fernseher lief leise, seine Mutter las in einer Zeitschrift, der Vater verfolgte Nachrichten. Auf den ersten Blick die friedliche Familienidylle. Aber das konnte gerade heute täuschen, zumal ihnen sein Kommen sicher nicht entgangen war.

»Hallo«, sagte er dann zaghaft, wobei sich der Kloß in seinem Hals erneut festsetzte und sein Mund augenblicklich austrocknete.

Sein Vater drehte langsam den Kopf und sah ihn an, seine Mutter ebenfalls. So wie jetzt kannte er ihre Gesichter nur, wenn Sorgen im Verzug waren. Von Zorn oder Wut konnte er nichts spüren.
Er setzte sich langsam in den Sessel zwischen die beiden, die Finger ineinander verkrampft. An ein Donnerwetter glaubte er jetzt nicht mehr.

»Hallo Nico«, begann sein Vater. »Wie du dir sicher denken kannst oder gar schon weißt, hat mich Andreas angerufen. Deine Mutter und ich glauben nicht, dass du etwas mit all dem zu tun hast, aber gerade war die Polizei noch hier. Sie hatten auch gleich einen Durchsuchungsbefehl dabei, Stefans Vater hat wohl ganze Arbeit geleistet. Sie haben freilich nichts gefunden und all das ist erst Mal auch unwichtig.«

Nico blies die Luft aus. Wenigstens war das hier soweit gut gegangen. Aber er spürte, dass das nicht alles war. Irgendetwas kam noch, da war er sich sicher.

»Eigentlich spielt es keine Rolle ob du etwas damit zu tun hast oder nicht, es wird auf jeden Fall Gerede geben. Du kannst dir vorstellen wie die Nachbarn in der Straße gegeiert haben als das Polizeiauto hier vorgefahren ist. Und dann waren die fast zwei Stunden hier….«

Klar, diese ehrenwerte Straße…. Lauter elende Spießer, die jedem alles neideten, und sei es nur ein neuer Rosenbusch. Sie würden sich die Mäuler zerreißen – wenn sie es eh nicht schon getan hatten.

»Du hast ab nächster Woche Urlaub, wenn ich mich recht erinnere?«

Nico stach das Wort ins Herz. Was hatten Stefan und er nicht alles machen wollen in den drei Wochen, die auch er zu Hause wäre.
»Ja, und?«

»Bevor hier ein Kesseltreiben anfängt, solltest du besser untertauchen. Zu Stefan geht wohl nicht wie du es vorhattest…. nehm ich mal an? «

»Nein, sein Vater hat mich rausgeschmissen. Und Stefan«, Nico atmete tief durch »…. der ist an allem Schuld.«

»Gut, die Schuldfrage lassen wir weg, es geht uns im Prinzip nichts an. Aber ich mach dir einen Vorschlag zur Güte: Du gehst die drei Wochen am besten allem aus dem Weg. Nächste Woche beginnt eine neue Eingliederungsmaßnahme.«

Ohne dass es sein Vater aussprach, ahnte Nico bereits um was es ging. Schlagartig sprang er vom Sessel hoch.
»Du meinst jetzt nicht, dass ich wieder…. wieder in dieses Camp gehen soll?«

»Nun beruhige dich. Erstens kennst du das alles schon, zweitens bis du gut untergebracht und drittens….«

» Nein! Vater, dahin geh ich bestimmt nicht wieder zurück! « Nico spürte wie sein Blut in Wallung geriet, sah in Sekunden die ganzen Schreckensbilder jener Nacht. Der Sturm und Manuel, tot vor dem Wagen. Völlig aufgelöst sah er zu seiner Mutter, die bis jetzt kein Wort an der Sache verloren hatte. Aber ihr Blick sagte ihm alles. Sie hatten es beschlossen, noch ehe er auch nur im Traum daran hätte denken können.

Sein Vater beschwichtigte mit den Händen.
»Nico, bitte, hör mir zu. Du weißt dass hier in der Straße auch Leute wohnen, die für uns wichtig sind.«

»Wichtig für dich, Paps, nicht für uns. Und erst recht nicht für mich.« Er überlegte kurz. Ihm war schon klar, dass es hier um den Leumund ging und er selbst ja auch von diesem Status profitierte. Wichtige Geschäftspartner, deren Verdruss wegen so einer Sache empfindliche Folgen haben konnten. Wenn Vater ihnen sagen könnte, dass er sofort Gegenmaßnahmen ergriffen und seinen Sohn aus den Klauen zwielichtiger Gestalten gerissen hat, dann waren die beruhigt, vielleicht am Ende sogar voll des Lobes.
Er setzte sich wieder und nahm dankbar die Flasche Bier, die ihm seine Mutter jetzt reichte.
»Hier mein Junge, beruhige dich erst Mal.«

Er trank die Flasche fast auf einen Zug leer und zwang sich zur Ruhe. Wie viel schlimmer, als es bereits war, konnte es denn noch werden? Und war damals nicht viel zu viel auf einmal passiert?

»Ich weiß nicht.«, lenkte er schließlich ein. Trotz allem waren ja auch reichlich schöne Momente dabeigewesen.

»Ich hab mit Professor Roth gesprochen, du weißt, dieser Psychologe, der das Camp ins Leben gerufen hat. Ich soll dich herzlich von ihm grüßen, er hat damals deinen Bericht gelesen, den du danach noch aufgesetzt hast. Das Projekt läuft seit der Zeit ununterbrochen und ist ein sehr großer Erfolg. Sie haben eine Rückfallquote von zwanzig Prozent erreicht, vorher lag sie über Fünfzig. Und daran hast du – habt ihr – keinen unerheblichen Anteil gehabt.«

Nico wollte keine Einzelheiten wissen, fühlte aber plötzlich so etwas wie Stolz. Er versuchte sich mit dem Gedanken anzufreunden, drei Wochen da draußen zu verbringen. Vielleicht war es die beste Gelegenheit, Abstand von Stefan zu gewinnen, denn zu Hause würde er doch nur grübeln. Kurzfristig Urlaub zu buchen, dafür fehlte auch das Geld. Aber zustimmen wollte er noch nicht, die Sache sollte trotz allem gut überlegt sein.
»Lass mich drüber nachdenken, okay?«

Ein fast nicht sichtbares Lächeln huschte über das Gesicht seines Vaters. Der kennt mich genau, dachte Nico.

***

»Denk dran, es kann schon empfindlich kalte Nächte geben«, erinnerte ihn seine Mutter schon drei Tage vor der Abreise daran, dass der Sommer praktisch vorbei war. Es war Ende September, mancherorts würde es schon erste Nachtfröste geben. Ewig lange stand er vor seinem Kleiderschrank und rätselte was sein musste und was nicht. Im Grunde hätte er alle warmen Sachen einpacken können. Was ihm nun wieder in die Hände fiel war der Kampfanzug, den sie damals als „Andenken“ mitnehmen durften. Er hatte ihn nie wieder angezogen, zu sehr erinnerte er ihn an diese Nacht und Manuels schrecklichen Tod.
Aber jetzt, zwei Jahre danach, waren die Erinnerungen verblasst, kehrten nur ab und zu in diesen Albträumen zurück.

Er hob den Anzug hoch und hielt ihn vor den Spiegel an seinen Körper. Der passt noch, dachte Nico, und auch daran, dass er sich selbst kaum verändert hatte seither. Ein paar Härchen mehr auf der Brust, auch der schmale „Lustpfad“ von seinem Bauchnabel zu seinem Schamhaar war nun etwas dichter und ganz so dünn war er um Taille und Schulter auch nicht mehr. Ob sein Schwanz größer geworden war? Er hatte ihn früher nie nachgemessen, diese Entwicklung entzog sich darum seiner Kenntnis. Neugierig zog er seine Shorts herunter und betrachtete seinen besten Freund im Spiegel. Stefan hatte sich ja eigentlich nie beschwert und dem seiner war auch nicht viel größer…. Ein kleiner Stich ging durch sein Herz. Er hatte von Stefan nichts mehr gehört, seit er rausgeschmissen worden war. Aber zum Glück hatte die Trauer nicht lange gedauert. Die Wut und Enttäuschung überwogen bei weitem seine Gefühle, die er für den Jungen einmal gehabt hatte. Es war vorbei, basta.
Er drehte sich noch auf die Seite, begutachtete seine kugelförmigen Pobacken und insgeheim malte er sich bereits aus, wer denn alles auf das Camp kommen würde. Die Gesichter von damals tauchten auf, teilweise klar und deutlich. Vor allem Erkan drängte sich in den Vordergrund. Dieser geile Türke. Nico grinste, als sein Schwanz plötzlich in Regung geriet.
Als er den Anzug aufs Bett warf, bemerkte er etwas in der Seitentasche der Kampfhose. Er griff hinein und zog ein Foto heraus. Es zeigte die Gruppe auf dem Baumstamm, da wo sie Rast gemacht hatten. Nico erinnerte sich daran, das dass Foto von Falk Stein aufgenommen worden war. Damals hatte er es im Großformat entwickeln lassen und jedem eine Kopie nachgeschickt. Nico setzte sich auf das Bett und betrachtete die Aufnahme genau. Selbst jetzt, nach so langer Zeit, fiel ihm zu jedem Gesicht der Name wieder ein. Bei Stefans Anblick bekam er einen leichten Stich in die Herzgegend und auf Manuels Gesicht blieben seine Augen lange haften. Plötzlich schien ihm, das alles wäre Gestern gewesen.

***

Wie vorhergesagt schien die Sonne von einem wolkenlosen Himmel, als Nico drei Tage später in den Zug stieg. Mit einem Mal waren sämtliche Erinnerungen wieder da; jener Tag, als er schon einmal von hier losgefahren war.
Aus angeblich versicherungstechnischen Gründen war es den Teilnehmern nicht gestattet, mit dem eigenen Wagen anzureisen, aber offenbar wollten sie nur im Vorfeld schon verhindern, dass man sich so einfach in sein Auto setzen und abhauen konnte. Sein Vater wollte ihn fahren, aber Nico zog dann doch die Bahnfahrt vor. So hatte er die letzte Gelegenheit, sich völlig auf die kommenden drei Wochen ungestört vorbereiten zu können. Denn im Gegensatz zum ersten Mal wusste er nun ziemlich genau was ihn erwartete, er bestand nämlich darauf einen Dienstplan zu bekommen, so, wie ihn eigentlich nur die Betreuer dort benutzen durften. Sein Vater ließ sich dazu nicht lange bitten, schließlich war Nico freiwillig auf diesen Deal eingegangen.

Wie es wohl dort aussehen würde? Es war die gleiche Ecke, das hatte er aus den Unterlagen ersehen können. Immer wieder tauchten die alten Bilder vor seinem geistigen Auge auf.

***

Eine leichte Gänsehaut überzog ihn, als er aus dem Bahnhofsgebäude der Kleinstadt heraustrat. Und wieder zündete er sich eine Zigarette an, so wie damals. Tief holte er Luft und beobachtete die Leute, die nach und nach das Gebäude verließen und sich an der Bushaltestelle sammelten oder in eines der Taxis stiegen.

Nico setzte sich auf eine der Bänke, die sich auf dem Bahnhofsvorplatz befanden und versuchte, ganz ruhig zu bleiben. Fast genau zwei Jahre waren vergangen, er war reifer geworden und die innere Panik war längst nicht mehr vorhanden. Er musste grinsen als er sich an die ehemaligen Rückzugsgedanken erinnerte.

Jemand stellte ziemlich geräuschvoll seine Reisetasche neben die seine und schreckte ihn damit aus seinen Gedanken hoch. Er sah auf und blinzelte in das Gesicht des Verursachers. Da die Sonne hinter dem Kopf dieses Menschen stand, schirmte er mit der Hand an der Stirn das grelle Gegenlicht ab.

»Hm, eigentlich glaub ich es ja jetzt nicht, aber dich erkenne ich aus allen Menschen dieser Welt heraus«, sagte der Schattenmann, denn Nico erkannte den Menschen im Licht immer noch nicht. Aber Sekundenbruchteile später ließ ihn die Stimme stutzig werden.

»Erkan?«

»Hallo Nico.«

Er sprang auf, ein freudiges Lächeln huschte über sein Gesicht.
»Erkan. Das ist aber…. Mensch, freu ich mich.«
Ohne zögern legte er seine Arme um die Schulter seines alten Freundes und drückte ihn fest an sich. Erkan packte seine Hüften, doch etwas überrascht über diese Begrüßung.
So standen sie eine Weile da, ohne ein Wort. Erkan, dieser hübsche Türkenbengel. Nicos letzte Zweifel an der Aktion hier schwanden in Sekunden.
»Was du hier machst muss ich ja nicht fragen. Aber warum bist du hier?«, wollte Nico dann wissen.

»Hab Dummheiten gemacht, leider. Aber ich denke wir haben viel Zeit darüber zu reden. Vielmehr erstaunt mich, dass du hier bist.«

»Auch diese Geschichte ist lang, Erkan. Komm, lass dich ansehen.«
Nico schob ihn etwas von sich, um ihn fachmännisch begutachten zu können.
»Mann, du bist noch hübscher geworden«, gestand er seinem Gegenüber seinen Eindruck.

»Hey Nico, du hast dich ja auch nie zu verstecken brauchen, und jetzt erst recht nicht. Was ist mit Stefan? Seid ihr zusammengeblieben?«

Nico setzte sich wieder auf die Bank. »Komm, wir haben noch ein bisschen Zeit«, sagte er und wies auf den Platz neben sich.

Sie zündeten sich erneut Zigaretten an und als Erkan Nico Feuer gab musste er grinsen. »Weißt du noch, unter dem Schlafsack?«

Nico lachte. »Als könnt ich das je vergessen…. Ja, die Sache mit Stefan. Eigentlich ist er Schuld, dass ich hier gelandet bin. Aber es ist vielleicht ganz gut so. Ich weiß jetzt woran ich mit ihm bin und hier kann ich es sicher schneller vergessen.«

»Oh, nicht grad gut gelaufen, wie? Weißt du, ich denk oft an Manuel. So ein lieber Kerl…«, sagte Erkan leise und Nico blickte in seine Augen.

»Ich auch.«

Schon von weitem gesehen war beiden klar, dass der Bus, der die schmale Hauptstraße auf den Bahnhof zu fuhr, ihr Abholer sein musste.

Erkan nahm seine Tasche auf. »So, jetzt wollen wir mal sehen«.

Nico tat es ihm nach und sie gingen über den kleinen Platz zur Straße hin. Tatsächlich gab es nach einigen Sekunden keinen Zweifel mehr, denn hinter dem Steuer saß niemand anderes als Leo Meier. Die beiden Jungen lächelten als der Bus neben ihnen anhielt. Ohne zu zögern öffneten sie die Seitentür.

»Hallo Leo«, riefen sie fast gleichzeitig.

»Aha. Da sind sie also….« Leo Meier stieg aus und begrüßte die beiden mit seinem üblichen, kräftigen Handschlag. »Ob ich mich freuen soll dass ihr wieder hier seid weiß ich noch nicht, aber auf jeden Fall: Herzlich willkommen. «
Schließlich umarmte er beide noch kurz, dann luden sie ihre Taschen ein und Leo fuhr los. An ihm war scheinbar die Zeit stehen geblieben. Leo Meier hatte sich überhaupt nicht verändert. Das war schon richtig auffällig. »Die anderen sind schon alle da, einen Zug früher gekommen oder gebracht worden«.

»Ist noch jemand dabei den wir von damals kennen?«, wollte Nico wissen, während Leo den Bus aus der Ortschaft hinaussteuerte.

»Na ja, ich hab die mir nicht alle so genau ansehen können. Müsst halt abwarten bis wir da sind.«

Nico sah Erkan mit fragendem Blick an. Irgendwie hatte er den Eindruck, dass Leo ihnen etwas verheimlichte. Aber am Ende war es wirklich egal, sie würden es eh bald erfahren.

»Wie viele sind es denn diesmal?«, setzte Erkan nach.

»Wir haben die Anzahl eingeschränkt, außerdem gibt es keine so großen Altersunterschiede mehr. Alles in allem haben wir das Ganze nach dem Testlauf vor zwei Jahren überarbeitet. Solche Dinge wie mit…. Manuel dürfen sich auf keinen Fall wiederholen. Seitdem läuft es sehr gut, wir sind eigentlich ständig ausgebucht. Maximal zehn Personen pro Durchlauf, damit haben wir die besten Erfahrungen gemacht.«

Eine Weile herrschte bedrückendes Schweigen. So traurig es war, Manuels Namen hatte scheinbar niemand vergessen. Irgendwie schien es, als hätte ihm das Camp selbst ein Denkmal für alle Zeiten gesetzt. »Aber jetzt sind es echte…. Fälle? «, fragte Nico dann.

»Jep, alles Jungs die auf die schiefe Bahn geraten sind. Drum, ich möchte im Augenblick nicht wissen was ihr beide ausgefressen habt damit ihr wieder hierher geschickt worden seid, das wird sowieso alles aufgearbeitet.«

»Was meinst du damit?«

»Es gibt jetzt auch theoretische Teile während der Zeit. Gruppengespräche, wenn ihr wisst was ich meine.«

Nico wusste es, er hatte ja die Pläne gesehen, während Erkan stöhnte. »Ja, ich hab’s mir fast gedacht.«

Die Landschaft, die an ihnen vorüberzog, hatte sich kaum verändert. Nur ab und zu leuchteten erste bunte Laubbäume durch die Wälder, der Herbst war nicht mehr weit.
Den Rest der Fahrt schwiegen sie, Leo schien nicht besonders gesprächig und zudem machte sich erste Müdigkeit bemerkbar.

Der Waldweg, den Leo dann hinauffuhr, war noch immer mit Schlaglöchern und Wasserpfützen bestückt, da hatte sich nichts getan. Und wenig später tauchte auch die Hütte wieder auf. Äußerlich hatte sich überhaupt nichts verändert, selbst die Bankreihen unter den Bäumen standen da wie einst. Und dort saßen bereits die anderen Jungen in den bekannten Klamotten und musterten den Bus. Nico grinste. War es letzte Woche als er zum ersten Mal hier ankam? Allerdings musste er nicht lange zählen. Acht Jungen saßen da und machten reichlich bedepperte Gesichter. Nico fühlte sich ihnen irgendwie überlegen. Zum einen kannte er das alles schon, zum anderen wusste er was auf sie zukam. Wenn er jemandem von seinem Wissen berichten würde, dann war es eh nur Erkan. Und der sollte es auch wissen. Nico war froh dass er nicht alleine war…. … plötzlich, als der Bus auf dem Platz vor der Hütte anhielt, stockte sein Atem. Augenblicklich änderte sich seine Stimmung, begann sein Herz schneller zu schlagen. Zwei Gesichter erkannte er und die hätte er hier weder vermutet noch hätte er sie sich gewünscht. Wie erstarrt blickte er aus dem Fenster des Wagens hinüber, jederzeit bereit das Ganze als Albtraum abzutun. Aber es passierte nichts, er wachte nicht auf.

»Sag mal, sind das nicht Mirko und Stefan da drüben?«, fragte Erkan dann auch noch völlig unpassend. Denn beide Namen spielten in Nicos Vergangenheit mittlerweile eine Rolle.

»Ja, leider«, antwortete er daher nur und stieg zögernd aus dem Bus. Ohne die beiden eines Blickes zu würdigen nahm er seine Tasche von der Rückbank und folgte Leo ins Haus, als er sie darum bat.

»Wusstest du nicht dass Stefan auch hier ist?«

»Nein, Erkan, das wusste ich nicht. Und wenn, dann wäre ich jetzt nicht hier.«

»So schlimm?«

»Noch schlimmer. Aber egal jetzt, ich zieh das durch.«

»Hör mal, wenn Mirko auch nur Anstalten machen sollte, dich wieder…. den mach ich platt!«

»Erkan, bitte.«

»Doch, verlass dich drauf. Er wird sich dir nicht weiter als um zwei Metern nähern, dafür sorge ich.«

Nico schüttelte leicht den Kopf. Seine Aufregung legte sich langsam, denn was ihm Erkan gerade gesagt hatte beruhigte ihn. Mirko war um einiges stämmiger geworden seit damals und in Sachen Kraft würde er ihm nichts entgegenzusetzen haben. Aber mit Erkan als…. Bodyguard…. konnte er zufrieden sein. Was mit Stefan werden würde, darüber machte er sich zunächst keine Gedanken. Denn das nächste bekannte Gesicht saß jetzt vor ihnen an dem Schreibtisch und musterte sie. Rainer Bode stand auf als die beiden in den Raum gekommen waren und streckte ihnen die Hand entgegen. »Willkommen im Camp.«

»Hallo Rainer…. Herr Bode….«

»Hallo Nico, grüß dich Erkan. In beiderseitigem Interesse – wenn wir unter uns sind ist der Vorname kein Problem.«

Die beiden verstanden und nickten.

»Kommt, setzt euch. Ein paar Formalitäten, dauert nicht lange. Wobei, wenn ihr wollt rede ich mit jedem einzeln.«

Nico schüttelte den Kopf. »Ich glaub nicht dass wir Geheimnisse voreinander haben, oder, Erkan?«

»Nein, keine. Wir werden uns eh alles erzählen, deswegen…. ist es ja egal.«

Bode erkundigte sich dann wie es ihnen ergangen war nach dem Camp, was sie jetzt machten. »Ich weiß natürlich auch warum ihr hier seid. Nico…. die Sache mit dem Haschisch…. aber zu deiner Beruhigung, ich hab mit deinem Vater gesprochen. Von daher….«

Nico hakte nicht näher nach. Er kannte seinen Vater gut genug, er würde es genauso geschildert haben wie es wirklich war. Er fragte sich in diesem Zusammenhang, ob er hier einen Sonderstatus hatte deswegen. Wenn dem so war, würde er es sicher rechtzeitig merken.

»Tja, Erkan… du bist offenbar in falsche Kreise geraten…. Die Schlägereien in der Kneipe waren wohl richtig heftig. Und dann die Sache mit der schweren Sachbeschädigung…. ich bin echt gespannt was genau dich dazu getrieben hat. Aber du musst jetzt dazu nichts sagen, dafür habt ihr während der drei Wochen Zeit genug.«

Erkan spielte verlegen mit seinen Fingern auf dem Schoß. Wenn man ihn so sah, hätte man eher die Vermutung gehabt, dass er keiner Fliege etwas zu Leid tun konnte. Nico schwieg, denn er hatte wichtigere, dringendere Fragen an der Stelle. »Ich hab gesehen dass Stefan auch hier ist…. Sicher weißt du auch, warum«, setzte Bode fort.

»Ja, weiß ich. Dieselbe Geschichte mit dem Haschisch. Deshalb gehe ich davon aus, dass seine und meine Eltern da gemeinsame Sache gemacht haben.«

»Ja, Nico, haben sie. Ich hab durch sie auch erfahren dass ihr beide…. nun ja, dass ihr eine Weile zusammen wart. Aber das spielt hier keine Rolle. Vielleicht redet ihr mal miteinander, hier gibt’s trotz allem Zeit und Ruhe dafür.«

Dass Rainer Bode von ihrem Schwulsein wusste…. Nico fragte sich nicht nach Vor- oder Nachteilen dadurch. »Und was ist mit Mirko? Du weißt ja noch was er mir angedroht hat….«

Seufzend lehnte sich Bode zurück. »Klar, das stand ja in deinem Bericht. Er steht unter besonderer Beobachtung, ich denke nicht dass du etwas von ihm zu befürchten hast. Leider mussten wir ihn zum selben Zeitraum aufnehmen, es war noch Platz frei und nach solchen Dingen wird in der Verwaltung nicht gefragt. Allerdings…. du wirst mit ihm nicht viel zu tun haben. Aber darüber später mehr.«

Nico atmete hörbar noch einen Ton leichter aus, zudem bekam er einen zustimmenden Seitenblick von Erkan. Was immer Bode eben gerade gemeint hatte, es schien keine Schwierigkeiten mit Mirko zu geben. So gesehen war nur noch Stefan das einzig wirkliche Problem. »Aber ich muss mit Stefan nicht reden, oder?«

»Nein, das bleibt euch überlassen. Aber es wäre sicher nicht gut wenn ihr euch jetzt die ganze Zeit aus dem Weg gehen würdet. Das ist auch im Sinne der Eingliederung hier nicht gerade wünschenswert.«

Nico sah es zwar ein, war aber zumindest im Augenblick keinen Deut daran interessiert, sich Stefan auch nur geringfügig zu nähern. Denn trotz allen Vorsätzen: Der Schmerz war plötzlich wieder da. Wie er da draußen saß, fast in sich zusammengesunken wie ein Häufchen Elend. Nico schalt sich einen Narr, nur deswegen auf ihn zuzugehen. Selbst Schuld, dachte er. Die beste Lösung war die, ihm zwar nicht aus dem Weg zu gehen, aber auch nicht anzusprechen. Jedenfalls nicht auf ihre Freundschaft.

»So«, ergänzte Rainer Bode das Gespräch, »dann noch ein paar Rahmenbedingungen. Erlaubt hier draußen ist, wie ihr euch denken könnt, nicht allzu viel. Euer Handy dürft ihr behalten, aber nur für den Notfall. Telefonieren und SMS und diese Geschichten nach Feierabend. Das gleiche gilt für einen Walkman. Keinen Alkohol, das ist klar, Rauchen nur nach Absprache, im Wald ist es eh verboten. Eure Wäsche ist hoffentlich wie vereinbart mit Namensschildern versehen. Jeder hat dafür zu sorgen, dass gebrauchte Wäsche in die vorhandenen Säcke kommt, Herr Meier fährt jeden dritten Tag zur Wäscherei und bringt gereinigte Sachen wieder mit.«

»Feierabend…. Klingt ja ganz gut. Aber wann ist der und was machen wir damit? Und was ist an Samstagen und Sonntagen?«

Sie hatten nicht bemerkt, dass eine weitere Person in den Raum gekommen war und sich das Gespräch mit anhörte.
»Und noch etwas – mit dabei ist ein Hund. Mein Hund. Er wird nicht gefüttert oder übermäßig verhätschelt, okay?«, gab die Person von sich.

Die beiden Jungen sahen sich erschrocken um. In ihren Gesichtern stand plötzlich eine Mischung aus Überraschung, Enttäuschung und Fragen geschrieben.

»Tach, Herr Stein«, brachte Erkan zögerlich als erster heraus.

Nico schluckte. Wieder so ein Moment, in dem er nicht wusste was er davon halten sollte. War es gut oder schlecht dass Stein hier war? Sie hatten sich das letzte Mal gesehen, hier an der Hütte, als Stein in den Wagen des Staatsanwalts stieg. Wie das dann mit Manuel ausgegangen war, hatte er nie erfahren. Sicher war jetzt jedoch, dass Stein keine Schuld an all dem traf, sonst wäre er nicht hier. Nico hatte ihm viele Fragen zu stellen, aber nicht jetzt. Vielleicht war es gar nicht schlecht, denn er nahm an, dass Stein seine Lehren aus all dem gezogen hatte. »Hallo Herr Stein«, grüßte er nun auch.

Augenblicke später tollte ein Hund in das Büro. Auf den ersten Blick hätte man einen Wolf vermuten können. Fast automatisch klemmten die Jungen ihre Knie aneinander und beobachteten den Hund, der sie mit seinen eisblauen Augen musterte.

»Rick, Platz«, rief Stein bestimmt und sofort setzte sich der Hund neben sein Herrchen. »Er ist ein Sibirian Husky und wird ein bisschen aufpassen da draußen. Nicht, dass es notwendig wäre, aber wenn zu bestimmten Zeiten niemand im Camp ist, kann es nicht schaden. Und übrigens – nicht alle Huskys sind schwarz-weiß wie ihr sehen könnt.«

Mit diesen Worten kam Falk Stein auf die beiden Jungen zu und reichte ihnen die Hand. »Ich weiß, mit mir habt ihr nicht gerechnet. Aber wie das alles kam, das möchte ich euch später erklären.«
Er wandte sich Bode zu. »Rainer, ich fahr dann mal raus, du und Leo, ihr kommt ja nach mit den Jungs.«

Rainer Bode nickte und beobachtete Nicos und Erkans Mine.

Ohne weitere Worte verließ Stein den Raum, gefolgt von seinem Husky.

»Ja, also dann. Eure Klamotten findet ihr da hinten auf der Bank. Allerdings ist diesmal einiges mehr an Ausrüstung dabei, deshalb auch der große Tornister. Und noch etwas: Der soziale Status dieses Programms hat sich nun natürlich geändert. Wenn was fehlt oder kaputt geht müsst ihr dafür löhnen.«

Erkan grinste. »Tja, überall das gleiche: Abbau sozialer Leistungen….«

Wenig später traten sie aus der Hütte auf den Vorplatz. Stefan sah nur einen Moment zu ihnen hinüber, dann blickte er wieder zu Boden. Nico kämpfte gegen das aufkommende Mitleid. Nein, er würde hart bleiben, auch wenn es sehr schwer fallen würde.

Bode stand auf der Veranda der Hütte, in den Händen hielt er einige Papiere. »Okay, Jungs. Ihr wisst soweit Bescheid. Es wird zwei Gruppen geben, jede mit fünf Mann. Der Sinn liegt darin, dass eine Gruppe mit zehn Leuten schwerer zu betreuen ist. Ich rufe jetzt je fünf Namen auf, die ersten gehen zu dem Bus da drüben«, er zeigte auf das Fahrzeug, »die anderen zu dem auf der Seite hier. Verstaut eure Sachen und einsteigen. Wenn noch Fragen sind, bitte nicht während der Fahrt. Hebt euch das auf bis wir da sind. Also, da wären die ersten Fünf:
Roland Zauner, Bernd Lohmann, Daniel Laubenfelder, Mirko Engel, Klaus Brandt.«

Nico stellte fest, dass sich der Ton seit dem letzten Mal erheblich verändert hatte. Rainer Bodes Anweisungen klangen klar, deutlich und ließen offenbar keinen Widerspruch zu. Es würde schon einige Änderungen gegeben haben, fürchtete er. Positiv fand er aber auf jeden Fall, dass Mirko Engel nicht zu ihrer Gruppe gehörte. Negativ stieß ihm auf – Stefan war dabei.

»Die anderen Fünf nur der Vollständigkeit halber:
Erkan Yüslüm, Lutz Dierksen, Nico Hartmann, Raffael Pruschke, Stefan Regbach.«
Er ließ den Zettel sinken und stützte sich auf die Brüstung der Veranda.

Nico warf Stefan einen prüfenden Blick zu, aber er konnte überhaupt keine Reaktion erkennen. War es ihm so völlig egal? War er ihm so egal? Nico spürte eine plötzliche innere Unruhe und ein merkwürdiges Gefühl stellte sich ein. Das Gefühl, dass da bald noch etwas passieren würde. Eine Vorahnung, dessen war er sich bewusst. Er beschloss in diesem Augenblick, einen noch größeren Bogen um Stefan zu machen als er es eh schon vorhatte.

»Also, ein letztes Wort an alle: Das ist hier ist kein Kindergarten und kein Rentnerausflug. Ausnahmslos jeder, der in irgendeiner Form von Gewalt auffällig wird oder sonst gegen die Regeln verstößt, fliegt sofort raus. Und ihr wisst, dass das eine Auflage ist, für die meisten wenigstens. Wer hier nicht spurt und entlassen wird, wandert zum größten Teil zurück in den Knast. Das gleiche gilt natürlich für denjenigen, der eine rasche Abreise bei Nacht und Nebel vorzieht. Es gibt hier keinen Zaun und keine Bewacher, aber ich persönlich würde mir das sehr gut überlegen. Also, ihr könnt es euch aussuchen.«

Kaum hatte Bode sein Statement beendet, brauste ein Geländewagen aus dem Waldweg auf den Vorplatz und hielt mit knirschendem Bremsgeräusch vor der Veranda. Die Tür des Wagens flog auf und ein junger Mann, gekleidet wie alle Betreuer im Kampfanzug, stieg hastig aus. Ohne sich umzusehen steuerte er auf Bode zu.

»Tschuldigung, Rainer, ich….«

»Schon gut«, sagte Bode ruhig und winkte den Mann zu sich auf die Veranda. »Alle mal herhören. Leo Meier, Falk Stein und meine Wenigkeit kennt ihr nun schon. Vervollständigt wird das Team von diesem jungen Mann hier. Er wird sich euch kurz vorstellen.« Dabei zeigte er mit der Hand auf den Mann.

»Hallo zusammen. Mein Name ist Charles Rademann, ich bin Sozialpsychologe, ledig, keine Kinder und seit diesem Sommer im Team. Ich freue mich auf eine gute Zusammenarbeit und wünsche uns und euch einen trotz allem schönen und vor allem erfolgreichen Aufenthalt im Camp.«

Nicos Scanner ging sofort in Betrieb. Charles war zwar ein sehr ungewöhnlicher Name, aber der konnte nicht über eine gewisse erotische Faszination des vielleicht 25-jährigen hinwegtäuschen. Groß, drahtig schlank wie Bode und Stein, auf Taille gesetztes Hemd. Durchtrainiert bis zum Anschlag, dachte Nico und blieb an dem ziemlich hübschen Gesicht hängen. Braungebrannt ohne dabei unnatürlich zu wirken, glatte, ebenmäßige Haut. Er war zu weit weg um Einzelheiten erkennen zu können, aber das was er gerade sah reichte ihm. Dieser Mensch zog ihm magisch an und er musste sich schwer zusammenreißen. Immerhin war zu vermuten dass dieser Charles die Akten der Jungs hier kannte und daher musste er auch damit rechnen, dass er von seinem Schwulsein wusste.

Erkan piekte ihn mit dem Ellenbogen in die Seite und beugte sich zu ihm, um besser flüstern zu können. »Mann, was ´ne Sahneschnitte. Der hätte mal sein Alter ansagen können.«

Nico piekste grinsend zurück. »Ich schätz mal Mitte Zwanzig. Aber sag mal, bist du jetzt eigentlich schwul oder nicht? Kannst es mir ruhig sagen, ich krieg’s eh raus.«

»Ich hab mit beiden meinen Spaß….«

Nico verstand und nickte. »Dann müssen wir um den da vorne…. vielleicht Pokern?«

Erkan lachte. »Ne Ne, mein Lieber, du hast Stefan an Bord.«

»Ich hab keinen Stefan an Bord. Wer soll das sein?«, gab Nico giftig zurück. »Vergiss das alles ganz schnell.«

»Okay, hab’s ja nicht so gemeint.«

»So Leute, aufsitzen«, rief Bode in die Runde und beendete damit das zum Schluss unerfreuliche Gespräch der beiden Freunde.

Auf dem Weg zum Fahrzeug achtete Nico auf genügend Abstand zu Stefan. Direkt vor ihm lief Raffael. Nicht das, was er in seinen Träumen wieder fand, aber immerhin war er nicht hässlich. Etwas größer als er, stattliche Figur die jedoch nicht so sehr Hüftbetont war wie Nico das gerne sah, kurze, blonde Haare, Ohrringe. Seine Brust schien eine Tätowierung zu zieren, davon konnte man ein bisschen am unteren Hals erkennen. Eigenartigerweise ging von seinen Gesichtszügen etwas Brutales aus.
Dann war da Lutz. So groß wie Nico, braune, halblange Haare, etwas flippig in seiner ganzen Art. Allerdings hatte sein Gesicht nicht dieses kantige Aussehen, es war eher weich und zart. Obwohl Nico braungebrannte Typen bevorzugte, störte ihn Lutz’ fast durchsichtige Blässe nicht. Beide waren noch ziemlich jung, mussten aber mindestens schon 18 sein, denn das war in diesem Team das Mindestalter. Nico hatte die Unterlagen gut im Kopf….
Erkan und Nico nahmen auf der hinteren Rückbank des Busses Platz, vor ihnen Stefan und Raffael, Lutz setzte sich auf den Beifahrersitz. Stefan tat, als wäre Nico gar nicht anwesend. Ihm war es recht, so musste er nicht ständig auf der Hut sein wegen des weiten Bogens.
Zum Erstaunen aller Insassen setzte sich Charles Rademann auf den Fahrersitz.

»Hoffentlich fährt der so wie er vorhin angebraust kam. Dann sind wir schneller da als der Schall«, flüsterte Erkan wieder, »und ich hab Zeit ihn zu vernaschen.« Er bemerkte dann zwar dass ihn Rademann durch den Rückspiegel beobachtete, dennoch, gehört haben konnte er es nicht. Eigentlich. Erkan wurde leicht rot und Nico prustete in seine Hände. Sie bemerkten nicht, wie Lutz heimlich und verlegen in sich hineingrinste und gekünstelt aus dem Fenster sah, damit man seine aufsteigende Röte nicht wahrnehmen konnte.

Es war schwer abzuschätzen ob sie dieselbe Route fuhren wie vor zwei Jahren. Sicher war nur, dass es inzwischen keinen weiteren Zuwachs an Zivilisation da draußen gab. Es begann bereits zu dämmern als Rademann den Bus anhielt.
»So Leute, wir sind da. Aussteigen und Gepäck aufnehmen.«

Nico sah sich nach dem aussteigen um, von dem anderen Bus keine Spur. Die waren zwar eine Weile hinter ihnen hergefahren, mussten dann aber irgendwo weiter hinten abgebogen sein. Ein weiterer Pluspunkt. Damit dürfte Mirko außer Reichweite sein und auch bleiben.

Nun erkannte Nico den Baumstamm wieder, auf dem sie damals von Stein fotografiert worden waren. Es war also doch dieselbe Stelle. Nun gut, dachte Nico, ein paar Stunden nur und er würde sich hier wieder bestens auskennen.

»Kommt mir irgendwie bekannt vor«, sagte dann auch Erkan zu ihm.

»Tja, nicht nur dir«, sagte er grinsend zurück.

»Meinst du den Sanitärwagen gibt’s noch? Den hat’s ja schwer erwischt gehabt.«

»Keine Ahnung. Aber was mir einfällt: Was macht eigentlich dein Fuß?«

»Nichts mehr. War glatt gebrochen und nach sechs Wochen komplett vergessen.«

»So, keine lange Reden schwingen, bevor es ganz dunkel ist sollten die Zelte stehen. Alles mir nach,« befahl Rademann, und es klang tatsächlich wie ein Befehl.
Während er das Fahrzeug abschloss, gingen Nico und Erkan genau auf den Pfad in dem dichten Tannenwald zu. In einigem Abstand folgte ihnen Stefan. Lutz und Raffael sahen ihnen verdutzt hinterher.

»Ähm, wer hat gesagt dass das der Weg ist?«, rief Rademann ihnen zu.

»Niemand. Aber wo sollte es denn sonst hingehen?«

Charles Rademann war vielleicht doch nicht eingeweiht. Zumindest darin nicht, dass drei seiner Gruppe hier schon einmal waren. Er nickte und folgte ihnen, allerdings mit einem etwas überraschten Gesicht.

»Nicht so heiß wie seinerzeit«, sagte Erkan nach einer Weile Marsch durch den Wald.

»Nee. Es wird ja auch kein Unwetter geben dieses Mal.«

»Sicher?«

»Ja, sehr sicher. Es ist nicht mehr die Jahreszeit. Stürme sind drin, aber erst Anfang oder Mitte nächsten Monats. Außerdem haben wir zur Zeit ein schönes, fettes Hoch über dem Atlantik. Kein Tief kommt da dran vorbei. Wenigstens nicht in absehbarer Zukunft.«
»Ich hätte das ja jetzt keinem so abgekauft, aber dir glaub ich jedes Wort«, gab Erkan sichtlich beruhigt zurück.

Nico wusste Stefan weit hinter sich, aber genau das begann ihn zu beschäftigen. Sollte er denn jetzt jede Minute darauf achten dass er ihm nicht zu nahe kam? Das war unmöglich auszuhalten. Zumal der Name „Gruppe“ hier die größte Rolle überhaupt spielte. Er suchte nach Lösungen, aber außer mit Stefan zu reden fiel ihm nichts ein. Dennoch, genau das war es, was er nicht wollte.

»Halt da vorne!«, hörten sie Rademann rufen, »es geht links weiter.«

Erst jetzt bemerkten sie, dass es eine Abzweigung auf dem Pfad gab. Sie war neu, denn die hätten sie in Erinnerung gehabt.
Willig folgten sie der Anweisung und nun begann der Pfad anzusteigen. Nun rann doch Schweiß von den Stirnen der Wanderer, denn die Steigung hörte nicht auf, wurde zeitweise noch steiler.
Nach einer Weile blieb Erkan keuchend stehen und wischte sich mit einem Taschentuch über das Gesicht. »Mann oh Mann, ich werde mir dann doch mal das Rauchen abgewöhnen.«

Nico stützte seine Hände auf die Knie und atmete durch. Auch er spürte dass er nicht mehr die Kondition hatte wie damals.
Die Jungen hinter ihnen blieben ebenfalls stehen, nur Charles Rademann überholte die fünf Jungs und blieb vor Nico stehen. Er schien überhaupt nicht gelaufen zu sein; kein keuchen, kein hecheln, nichts. Nico hatte sich nicht getäuscht: Durchtrainiert bis zum Anschlag, eine kleine Kampfsau. Und eine geile dazu….

Dem Gefühl nach schienen sie in den Himmel zu steigen. Nico wusste, dass es im Grunde eine bergige Gegend war, nur waren sie vor zwei Jahren den Bergen aus dem Weg gegangen.

Im Halbdunkel kamen sie an eine kleine Lichtung. Auf ihr hätte gerade ein Bungalow mittlerer Größe Platz gehabt. Gegenüber am Waldrand stand ein flaches Gebäude, davor parkte ein Geländewagen.

»Klasse«, stöhnte Erkan, »und wir marschieren uns hier den Hals raus.«

»Das ist Absicht. War es damals doch auch. Da wird Meuterei im Keim erstickt, weil alle froh sind endlich da zu sein und im Nebeneffekt ist jeder todmüde. So wie ich jetzt, zum Beispiel.«

Von dem Gebäude aus rannte Rick auf sie zu, wurde nach wenigen Sekunden jedoch von einem scharfen Pfiff gestoppt.
»Rick, zurück!«, schallte dann Falk Steins Stimme durch den Wald.

Die Gruppe war stehen geblieben und sah, wie der wolfsfarbene Husky auf der Stelle kehrt machte und zu Stein zurücklief.

»Der hat den in der Hand«, flüsterte Erkan ehrfurchtsvoll.

»Ja, kann man sagen.«

»So, los, die paar Meter noch, immer auf das Gebäude zu«, drängte Rademann die Jungen.

Der Platz, den sie überquerten, war mit niedrigem Gras bewachsen, insgesamt sah es aus als wäre hier ständig jemand unterwegs, so dass die Gräser nicht Hochwachsen konnten. In der Mitte der Fläche eine Feuerstelle. Schon länger schienen hier keine Flammen gelodert zu haben, es roch nach kalter, feuchter Asche. Um die Stelle herum Baumstämme als Sitzgelegenheiten. Kein Papier, keine Kippe, nichts. Nico überkam ein komisches Gefühl, aber er ignorierte es sogleich wieder. Kurz bevor sie an dem flachen Gebäude ankamen, vernahm Nico ein unnatürliches Knistern in der Luft. Instinktiv blickte er in die Richtung, aus der das Geräusch kam und Augenblicke später bestätigte sich sein Verdacht. Nur wenige Meter über den Baumwipfeln tauchte rasend schnell ein Schatten auf und kam auf sie zu. Der Kampfjet der Bundeswehr donnerte so niedrig über sie hinweg dass man das Hoheitszeichen ohne Probleme lesen konnte. Sofort zogen alle die Köpfe ein, als der Donner über sie hinwegrollte.

»Mann oh Mann. Tiefer geht’s nicht«, kommentierte Erkan das Geschehen.

»Ein Tornado. Wusste gar nicht dass hier Tieffluggebiet ist«, ergänzte Nico.

Stein stand an seinem Wagen und rauchte. Sein Hund saß vor ihm und schien ihm bei der Aktion zu beobachten. Ein wunderschöner Hund, dachte Nico. Und er passte irgendwie zu Stein.

»Nabend Leute«, rief er der Gruppe zu, die völlig am Ende ihrer Kräfte zu sein schien. »Der Flieger muss sich wegen was anderem hier aufhalten. Ein Tieffluggebiet ist das hier nämlich nicht. Aber okay, zu anderen Dingen. Es ist üblich, dass ihr die erste Nacht in dem Hauptgebäude verbringen werdet. Es ist übrigens eine moderne Ausführung des Sanitärwagens….« Beim letzten Wort sah er Erkan und Nico an. Weitere Fragen erübrigten sich somit, Lutz und Raffael schienen das gar nicht registriert zu haben. Nur Stefan, der als Letzter angekommen war, verstand noch was Stein damit meinte.
»Da ist alles drin was der Mensch so braucht, aber eben nur für die eine Nacht. Ihr werdet hier eure Mahlzeiten zu euch nehmen und die Gruppenstunden finden ebenfalls hier statt. Alles andere draußen. Übrigens können wir uns trotz knappen Etats einen Koch leisten, denn das war im Lauf der Zeit doch eher ein Dilemma.« Stein grinste, was ihm gut stand. Insgesamt wirkte er längst nicht mehr so streng und von sich eingenommen. Nico rätselte, ob ihm der Ehering damals nur nicht aufgefallen war oder ob Stein inzwischen geheiratet hatte. Vielleicht machte das etwas aus.
»Kommt, einfach mir nach«, sagte Stein und die Gruppe folgte ihm.

»Wo ist der andere Teil des Teams?«, wollte Nico von Stein wissen.

»Die sind nicht sehr weit von hier, aber sie haben die gleiche Ausstattung. Es gibt nur ein paar Aktionen wo das ganze Team zusammen ist. Ansonsten bleibt ihr unter euch.«

Diese „Aktionen“ waren im Dienstplan nicht vermerkt, aber das spielte keine große Rolle mehr. Mirko war weit genug weg, und darauf kam es ihm an.

Das Hauptgebäude, wie Stein es nannte, erinnerte in seiner Größe und Form an einen der unzähligen Kindergarten-Gebäude. Ein Flachbau, dessen weiß getünchte Wände das Nachmittagslicht fast rosa zurückwarf. Die vordere Front bestand aus mehreren hohen Fenstern, durch die man wegen der zugezogenen Vorhänge nichts erkennen konnte. Der Eingang lag etwas zurückgesetzt, daneben befand sich eine einfache Holzbank. Sonst fiel an dem Bau weiter nichts auf, abgesehen von dem etwas überdimensionierten, rechteckigen Kamin. So war das Gebäude in seiner Bauweise einfach und nicht gerade ansprechend.

Nacheinander betraten sie das Quartier. Es roch irgendwie nach Gekochtem und die Jungs beschlich sogleich das Gefühl, eine regelrechte Jugendherberge zu betreten. Nico musste grinsen, als er Stein mit einem Herbergsvater verglich, aber das hätte im weitesten Sinn noch auf Leo Meier gepasst.
Nach dem sie eingetreten waren, sah man auf dem Gang mehrere Türen, die mit grünen Schildern auf die jeweils dahinterliegenden Räume hinwiesen. Der Zigarettenautomat im Eingangsbereich sorgte für allgemeines Aufsehen, denn damit hatte hier keiner gerechnet.

Hinter der Tür durch die sie jetzt gingen, gab es einen größeren Raum, auf dessen Boden Isomatten lagen. Irgendwie erinnerte das Ganze an einen Gymnastikraum. Den Schildern an den Türen nach gab es Duschen und Toiletten, auf der anderen Seite des Raums Aufenthaltsräume, ein Büro und die Küche.

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