Das Boycamp III – Teil 1

Langsam drehte Nico Hartmann die Lautstärke seines Autoradios etwas weiter auf und räkelte sich in seinem Fahrersitz. Die leichte Unterhaltungsmusik passte zu den sanft geschwungenen Hügeln, den grünen Weidewiesen, zwischen denen sich das Auto bewegte und zu dem Himmel, der sich über all das spannte wie eine riesige, dunkelblaue Kuppel. Gelassen steuerte Nico den Wagen durch die leichten Serpentinen, die sich unter dichten Laubbäumen immer weiter den Berg hinaufschlängelten.
Ein einsamer Waldparkplatz tauchte in einer Kurve auf und kurzentschlossen steuerte Nico seinen Golf darauf zu, stellte den Motor ab und atmete die frische Waldluft tief ein. Offene Seitenfenster und das Schiebedach hatten ihn schon vor einer Stunde mit der würzigen Luft bekannt gemacht.

Obwohl Nico die Straßenkarte dieser Gegend schon etliche Male studiert hatte, nahm er sie nun erneut zur Hand. Wenn ihn nicht alles täuschte, dann müsste er in einer Stunde sein Ziel erreicht haben.
Nun stieg er aus dem Wagen und setzte sich auf eine der Holzbänke auf dem kleinen Parkplatz, zwischen denen ein wurmstichiger, aus Baumstämmen gezimmerter Tisch stand. Hohes Gras wucherte um diese Stelle und es durfte lange her gewesen sein, dass hier jemand eine Pause gemacht hatte. Kein achtlos weggeworfener Müll, wie das oft zu beobachten war und selbst der Papierkorb war leer.

Geräuschkulissen bildeten hier oben nur brummende Insekten und einige Vögel, die an diesem heißen Sommertag piepsend in den Kronen der Bäume und in den Büschen herumhuschten. Nico schabte mit seiner Schuhsohle über den Waldboden.
Er dachte an einen Artikel in der Zeitung, in die er an diesem Morgen beim Frühstück noch einen letzten Blick geworfen hatte. Eine Hitzewelle, wie es sie in Deutschland noch nie gegeben hatte, lastete wie eine schwere, dicke Kuppel über dem Land.
Seit Wochen hatte es nicht geregnet und nur in einem Schwimmbad war es einigermaßen auszuhalten, alles andere wurde fast zur Qual. Der Wetterbericht fiel zu dieser Zeit sehr spärlich aus, er war im Prinzip nur noch eine Wiederholung der letzten Tage und Wochen und auch die Aussichten für die nahe Zukunft verhießen keine Änderung.
Und so war der Boden unter seinen Füßen: trocken, staubtrocken. Je höher jedoch die Landstraße hier in die Berge führte, desto erträglicher wurde wenigstens die Luft.

Nico hatte noch Zeit, viel Zeit. Er war schon sehr früh losgefahren, denn Unpünktlichkeit war ein Wort, das er schon immer hasste. Lieber eine halbe Stunde früher ankommen als zu spät.
Strapaziös war die Fahrt bisher nicht gewesen und so hatte er schon unterwegs Zeit gehabt, sich auf das Kommende vorzubreiten. Klar, das hatte er vor Wochen schon getan, aber nun, am entscheidenden Tag, war das Gefühl doch ein anderes.

Aber immer wieder gab es dazwischen auch kurze Rückblenden aus seinem Gedächtnis, teilweise viele Jahre zurück. Vieles war nur noch vage in seiner Erinnerung geblieben, manches jedoch lief vor seinem geistigen Auge so lebhaft ab, als wäre es Gestern gewesen. Aber trotz all diesen Bildern: niemals wäre er damals darauf gekommen, unter welchen Umständen er jetzt wieder auf diesem Weg war. Auf einem Weg, der Teil seiner Zukunft und seiner Vergangenheit gleichermaßen sein würde.
Natürlich standen bei all dem auch noch Fragen im Raum. Zum Beispiel danach, was Richtig und was Falsch gewesen war. Was er in der Zukunft tun wollte, um Fehler, wie sie nun mal passiert waren, zu vermeiden. Antworten bekam er darauf nicht immer, viele Dinge hatte das Leben geschrieben; Dinge eben, die er gar nicht beeinflussen konnte.
Ganz sicher aber war nichts von dem wiederholbar oder gar rückgängig zu machen. Das erfüllte ihn einerseits mit einer gewissen Trauer, andererseits mit einer gewissen Freude.
Was er nie so richtig steuern konnte war seine Beziehung zu Stefan. Ihre als schicksalhaft beglaubte Begegnung, ihre schöne und schlimme Zeiten. Nico verstand diese Freundschaft immer als Symbiose; der eine konnte ohne den anderen nicht leben oder überleben.
Aber diese Ansicht verblasste mit der Zeit. Eintönigkeit begann sich in ihr Leben zu schleichen, das anrüchige Wort Zweckgemeinschaft machte sich unbemerkt, aber dennoch sicher breit. Das Feuer wurde eben schwächer, brannte herab zu einer Glut.

Als Nico damals, wenige Monate nachdem sie aus dem Camp zurückgekehrt waren, den Entschluss fasste, das Abitur in einem Fernstudium nachzuholen, da bereits begann diese Abkühlung. Statt zusammen zu ziehen, wie er und Stefan es vorhatten, blieb es eine Wochenendbeziehung.
Nico stürzte sich ins Lernen und das fiel ihm besonders am Anfang nicht leicht. Ihre Beziehung litt mehr und mehr darunter und sie stritten deswegen häufig, aber für Nico gab es keine Alternative. Er sah es als eine Art Erfüllung, anderen Menschen zu helfen, Unterstützung zu geben wenn sie nicht mehr weiterwussten.
Sicherlich war der Auslöser dafür im Camp zu suchen. Ob es Berufung war, das wusste Nico bei der Entscheidung zum Studium noch nicht, aber er war sicher, dass es eine Verbindung zum Camp gab, welcher Art auch immer.

In seiner Absicht, die Lehre nach dem Abitur abzubrechen und Soziologie zu studieren wurde er damals gestärkt, vier Wochen nachdem sie vom Camp zurückgekehrt waren. Da wurden alle Betreuer und Teilnehmer des Camps von Tobias’ Familie eingeladen.
Die Eltern zeigten sich unendlich dankbar, dass sie ihren kleinen Sohn unbeschadet zurückbekommen hatten. Falk Stein erhielt dort überraschenderweise eine Auszeichnung, ausgehändigt von Professor Roth.
Stein wollte das nicht, denn seiner Ansicht nach hatte er viel weniger mit dem glücklichen Ende der Entführung zu tun als „seine“ Jungs. Aber es nutzte nichts, immerhin hatte er den Vorgang im Auge gehabt und die Aktion aus dem Hintergrund gesteuert.
Die finanzielle Belohnung wurde schließlich unter allen gerecht aufgeteilt und jeder war mit dieser Dankbarkeitsgeste zufrieden. Die Presse berichtete ebenfalls noch groß über den Fall und die Jungs verfassten damals einen Bericht, welcher durch die Veröffentlichung allen Beteiligten zusätzlich einige Euros in die Taschen brachte.
Wenig später hatte Nico seinem Freund gegenüber eröffnet, dass es genau das war, was er machen wollte. Stein wurde Vorbild und Idol zugleich und Stefan war von Anfang an gegen Nicos Entscheidung.
Dabei war es nicht das Camp, gegen das Stefan Front machte, sondern ganz einfach der räumliche Abstand zu ihnen beiden. Er verstand nie, warum sein Freund ein Studium in einer Stadt begann, die weiter weg war als ihre Wohnungen auseinander lagen.
Eines Tages kam dann, was über kurz oder lang kommen musste.
Beide wussten schon lange, dass es so nicht weiterging, aber an eine endgültige Trennung wollte keiner weder denken noch glauben. Genau betrachtet empfanden es beide nicht als wirkliche Trennung. Eher an eine Pause, eben der ganzen Sache Zeit zu geben. Zeit für beide, über alles nachzudenken, Fehler zu suchen.
Einem Neuanfang gaben beide eine Chance, aber sie legten sich nicht darauf fest. Sie machten keine Zeit aus, planten nichts. Den Dingen zunächst ihren Lauf zu lassen, unter dieser Prämisse gingen sie dann vor fast drei Jahren auseinander. Es gab keine Tränen, kein Geschrei, keine bösen Worte. Und es gab kein Leb wohl, sondern ein Auf Wiedersehen. Eine Trennung auf unbestimmte Zeit.
Danach blieben sie Anfangs in einem losen Kontakt, meist per Email oder auch mal im Chat. Doch die Kontakte wurden seltener, jeder begann seinen eigenen Weg zu gehen und nun war es Monate her, dass sie das letzte Mal etwas voneinander gehört hatten.
Nico lenkte sich ab, in dem er sich in sein Studium stürzte oder öfter mit Erkan telefonierte. Der junge Türke, der auch nach der Zeit im Camp ein guter, wenn auch weit entfernt wohnender Freund geblieben war, half ihm auf seine Art über manch einsame Stunde.
Richtig losgelöst von allem, das hatte sich Nico erst vor etwa einem halben Jahr.
Das war etwa zu dem Zeitpunkt, als er von zu Hause auszog. Zum einen wollte er ein unabhängiges Leben führen, zum anderen lag ihm viel an der Nähe zur Universität. Zu guter Letzt ließ er mit seinem Zimmer auch eine Menge Erinnerungen an Stefan zurück.
Nicht, dass er oft bei ihm war, aber alles was sie an Höhen und Tiefen in dieser Freundschaft erlebt hatten, hing wie unsichtbare Bilder in diesem Zimmer. Zum Beispiel die wenigen Nächte, die Stefan bei ihm verbracht hatte.
Manchmal schien noch Tage danach der betörende Geruch seines Freundes in diesem Raum zu schweben und gerade diese Dinge versuchte Nico, hinter sich lassen. Nicht im Gram oder in verletztem Stolz. Eines Tages, so war er sicher, käme all das zurück.
Einen neuen Freund wollte er deshalb nicht, nicht einmal das Abenteuer suchte er, auch wenn sich auf dem Campus mehr als eine Gelegenheit dazu bot. Er beschränkte sich auf gelegentliche Kneipenbesuche mit Kommilitonen oder auch auf den Besuch eines Konzerts.
Schon zu Beginn seines Studiums war Nico klar, dass er das anstehende Praktikum zumindest versuchen würde, im Camp zu absolvieren. Die Idee, Falk Stein einfach einmal anzurufen und zu fragen, erwies sich als goldrichtig. Vor einigen Monaten nahm Nico Kontakt mit ihm auf und Stein hatte nicht den geringsten Zweifel daran.

»Nico, das ist doch kein Thema. Lass mich die Sache in die Hand nehmen, du hörst von mir.«

Nachdem Nico den geplanten Zeitraum durchgegeben hatte, eröffnete ihm Falk Stein, was zwar irgendwie bekannt war, aber dennoch etwas überraschend kam: »Ich werde aber nur die erste Woche während deiner Anwesenheit dabei sein, mein Posten in Köln ruft.«

Nur einen Tag später bekam Nico einen weiteren Anruf, der ihn ziemlich verwirrte. Schon, weil er an so etwas gar nicht gedacht hatte. Professor Roth rief ihn höchstpersönlich an um ihm mitzuteilen, dass diesem Praktikum nichts im Wege stehen würde und wünschte Nico bereits zu diesem frühen Zeitpunkt viel Erfolg.

»Du weißt, dass Falk Stein eine Stelle freimacht..«, war in dem Gespräch zu hören.

Der Professor war schlau genug, Nico keine feste Zusage zu machen, aber diese Andeutung hatte ihren Reiz.
Außer dem Starttermin und dem Ort hatte Nico von Professor Roth nicht vielen Informationen bekommen. Erst recht nicht, welche Aufgaben in den drei Wochen im Camp auf ihn zukamen. Lediglich, dass er sich am ersten Tag in der Hütte, jenem Sammelpunkt im Wald, einfinden sollte und weder um Kleidung noch sonstige Sachen kümmern müsste.
Roth hatte auch noch erklärt, dass das System weiter verfeinert geworden wäre, aber auch, dass sich Vorfälle wie in der Vergangenheit nicht wiederholt hätten. Allerdings nahm er einem Anflug von Vorwurf sofort selbst den Wind aus den Segeln. »Wir haben allen Grund, stolz auf das zu sein, was ihr geleistet habt.«
Nico erinnerte sich dabei auch an Manuel. Ja, er musste zugeben, dass er oft an den Jungen dachte. Längst hatte er ein Denkmal in seinem Kopf.
Außer zu Erkan hatte Nico keine Kontakte mehr zu den Jungs von damals. Sie würden nun entweder ein ganz normales Leben führen – oder auch nicht. Es war auszuschließen, dass er nochmals einem der Jungen begegnen würde, sie hatten nun jene Altersgrenze erreicht, in der das Camp für sie kein Thema mehr war.

Die kurze Ruhepause hatte Nico doch gut getan. Er stieg in seinen Wagen und fuhr langsam los, zum Mittagessen würde er da sein und war mächtig gespannt auf die Betreuer, vor allem auch auf die neuen, die Stein in ihrem Gespräch kurz erwähnt hatte. Nun war er im Grunde selbst einer der ihren und das erfüllte ihn mit einem gewissen Stolz.
Viele solcher Praktikumplätze gab es nicht und ein paar seiner Kommilitonen hatten ihn schon als Glückspilz eingestuft. Dabei war ihm die Stelle nur bombensicher, weil der Professor und Falk Stein dahinter standen. Logischerweise erwähnte er die beiden jedoch mit keiner Silbe.
Nico ließ es sich nicht nehmen, in der letzten Ortschaft vor seinem Ziel einen Stop einzulegen. Langsam fuhr er die Hauptstraße entlang, steuerte auf den kleinen Bahnhof zu und parkte den Wagen rückwärts im Schatten einer Linde vor dem Bahnhofsvorplatz.
Ja, da war sie, die Bank.
Etwas verwitterter als beim ersten Mal, als er hier auf Leo Meier gewartet hatte. Wie hieß der Junge gleich, der dann mit ihnen gefahren war? Oliver. Oliver Klein. Nico musste breit grinsen. Was aus dem kleinen, rothaarigen Jungen wohl geworden war? Und beim letzten Mal stand hier Erkan plötzlich vor ihm. Eine herzliche Begrüßung, die in einer dicken Freundschaft endete. Erkan wusste, dass Nico hier war und hatte ihm etliche Grüße für die Betreuer mit auf den Weg gegeben.
Zeit für eine Zigarette blieb allemal und so stieg Nico aus seinem Wagen und setzte sich auf jene schicksalhafte Bank. Es war, als kämen dadurch kleinste Kleinigkeiten ins Gedächtnis zurück.
Doch lange währten diese Erinnerungen nicht, denn nun kamen Leute aus dem Bahnhof und lenkten Nicos Aufmerksamkeit auf sich. Einer der wenigen Züge, die am Tag hier hielten, war wohl angekommen.
Nico kniff die Augen zusammen. Unter den Menschen erkannte er eine Gruppe junger Männer und er war sicher nicht der einzige hier im Ort, der nur eine Sekunde brauchte um das Ziel dieser Jungen zu kennen.
Ja, das waren zweifellos die Teilnehmer der neuen Therapieeinheit und da feststand, dass er mit einigen von ihnen die kommenden drei Wochen zusammen sein würde, musterte er sie noch genauer, als er das bei jungen Männern sowieso schon immer tat.
Die acht Jungs trugen luftige Sommerklamotten; T-Shirts, Shorts und Sandalen, einige hatten eine Reisetasche mit, andere trugen einen wesentlich praktischeren Rucksack. Scheinbar waren sie erst hier zusammengetroffen, eine rege Unterhaltung in dem Sinn fand nicht statt.
Aber womöglich bremste die allgemeine Aufregung eine rege Konversation.
Er sah nun etwas genauer hin, was er aber als legitim empfand; denn immerhin war er nicht zu seinem Vergnügen hier. Es konnte nichts schaden sich schon vorab wenigstens aus dieser Entfernung etwas genauer mit ihnen zu beschäftigen.
Vom Alter her schätzte sie Nico zwischen 18 und 20, bunt gemischt die Haarfarben, sie reichten von tiefschwarz bis hellblond, die Körpergrößen von etwa einssiebzig bei einsneunzig.
Die meisten der Jungs waren recht kräftig, hier und da waren Tätowierungen zu erkennen. So richtig bedrohlich allerdings wirkte keiner von ihnen.
Nun schallte doch ein Lachen zu ihm herüber und auf der Stelle wurde Nico eines bewusst: Diesmal war er auf der anderen Seite. Kein Spaß mit ihnen, keine Sexspielchen in Waschräumen oder Zelten. Diese Jungs hatten einen ganz anderen Status: sie waren schlichtweg seine Arbeit. Und leicht, das hatte sich Nico diese Art von Arbeit nie vorgestellt.
Es könnte sogar Auseinandersetzungen geben, Anfeindungen. Er hatte in seinem Studium bereits eine Menge über Gewalt und den Umgang damit gehört und gelesen, dennoch war er schon aus seinen eigenen Erfahrungen heraus darauf eingestellt, dass es sich im Hörsaal um nichts als reine Theorie handelte.
Doch die Praxis stand dort, zwanzig Meter von ihm weg, auf einem Haufen. Nico wusste, zu was eingeschworene Jungs wie die dort drüben imstande waren. Man durfte sie niemals unterschätzen und – man musste sie ernst nehmen.
Das Wichtigste überhaupt war, ihnen zuzuhören und sich in ihre Lage hineinzufühlen. Nicht die Sichtweise der Betreuer zu den Dingen lag an erster Stelle, sondern die der Teilnehmer. Nico sah sich darin im Vorteil den anderen Betreuern gegenüber.
Denn egal was die auch schon an Erfahrung gesammelt hatten, was wirklich abging, sozusagen hinter den Kulissen, das wusste Nico wesentlich besser.

Es war aber auch klar, dass er in diesen Wochen nur einen winzigen Einblick bekommen konnte. Erst nach dem Ende des Studiums folgte die Zeit, in der er richtig lernen musste. Aber die Chance, die sich ihm hier bot, die wollte er auskosten, jede einzelne Minute. Er versprach, erwartete und erhoffte sich nichts. Es musste seinen Lauf nehmen, mehr Plan gab es im Augenblick nicht.

Und es nahm seinen Lauf, als zwei Fahrzeuge die Straße herunterkamen. Nico hörte sie und wusste, wem sie gehören ohne hinsehen zu müssen. Die Wagen parkten in die Parkbuchten ein und die Entfernung war zu groß, als dass die Fahrer Nico erkennen konnten. Zielgerichtet steuerten sie, nachdem sie ausgestiegen waren, auf die Gruppe zu.
Es waren tatsächlich Leo Meier und Rainer Bode. Über Nicos Gesicht huschte ein Lächeln. Hatte er sich hierher gesehnt? War dies alles hier am Ende das tatsächliche Leben, das er sich insgeheim erhoffte? Er nahm die Sonnenbrille ab und wischte sich mit einem Taschentuch verstohlen über die feuchten Augen. Ja, das ist mein Leben, hier gehör ich hin, sagte er überzeugt zu sich selbst.
Begrüßung, verhaltenes Hallo. Nico registrierte jede noch so kleine Bewegung der Jungen. Eines der Hauptaugenmerke vor allem zu Beginn waren Gestik und Mimik; die Körpersprache in ihrem Ganzen.
Ebenso Wichtige Dinge wie Stimme, Stimmlage und Atmung konnte er auf die Entfernung natürlich nicht festhalten, dennoch fühlte sich Nico dieser Aufgabe so gewachsen wie nie zuvor. Letzte Zweifel räumte er schon jetzt beiseite, die hatten zumindest in den kommenden drei Wochen keinen Platz.

Die Gruppe setzte sich nun in Bewegung und auch Nico verließ seinen schattigen Platz auf der Bank. Er musste ihnen nur folgen, dann kam er ins Camp ohne noch einmal in die Karte sehen zu müssen.
Er wartete, bis die beiden Fahrzeuge an seinem Wagen vorbei waren. Gerade als er losfahren wollte und im Rückspiegel sicherte, fiel ihm aus dem Augenwinkel im Seitenspiegel etwas auf. Er stoppte kurz und drehte sich, um aus dem Heckfenster sehen zu können.
Ja, da waren ganz ohne Zweifel noch ein paar Jungs übrig geblieben. Wo die gesteckt hatten?
Nico parkte den Wagen wieder zurück und stieg aus. War es klug, zu den dreien hinüber zu gehen? Er blieb einen Moment unschlüssig. Meier und Bode konnten ja schließlich zählen und Nachzügler gab es auch immer.
Wenngleich schleierhaft war, woher die drei jetzt erst gekommen waren. Sollte er wirklich zu ihnen hinüber, sich vorstellen, sie einfach einladen und mitnehmen? Gleich zu Beginn ein relativ naher Kontakt konnte Folgen haben. Dabei dachte er weniger an die körperliche Seite, sondern ganz allgemein. Was sollte er ihnen erzählen?
Nein, das Risiko schien ihm zu groß, er hatte darin noch keine Erfahrung und wollte es sich nicht schon in der ersten Stunde verscherzen. Zumal, wie viele fehlten überhaupt noch? Nico wusste nicht einmal die Anzahl der Teilnehmer. Er beobachtete, dass zwei von den Jungs auf den dritten einzureden schienen. Das konnte durchaus als Streit angesehen werden, dennoch wartete Nico ab.

Plötzlich beugte sich einer der Jungen nach vorne und hielt sich den Bauch. Ohne dass die beiden anderen hätten eingreifen können, sackte er in die Knie und schließlich fiel sein Körper auf das Kopfsteinpflaster.
Angefasst hatten die beiden den Jungen nicht, sein Sturz musste einen anderen Grund gehabt haben. Sofort hechtete Nico los. Er kniete sich neben den am Boden liegenden Jungen, dessen Augen halb geöffnet waren und der von Krämpfen geschüttelt wurde.

»Was ist mit ihm?«, fragte Nico und sah zu den beiden hoch.

»Keine Ahnung, wir haben ihn erst mal suchen müssen. Gleich nachdem der Zug gehalten hat, war er plötzlich verschwunden«, antwortete einer der Jungen.

»Ihr seid zusammen gefahren?«

Die beiden nickten.

»Hat er getrunken?«

Nico zog diesen Umstand zwar in die engere Auswahl, wobei ihn die Krämpfe in seiner Vermutung aber eher unsicher machten. Inzwischen waren weitere Passanten dazugekommen und betrachteten schweigend die Szene.

»Ich brauche einen Arzt«, rief Nico in die Menge.

»Doktor Gebhard. Die Praxis ist gleich da drüben«, antwortete eine ältere Frau und zeigte zu dem Gebäude am anderen Ende des Platzes.

Nico traute sich nicht, den Jungen zu transportieren, auch nicht, ihn alleine zu lassen.

»Kann jemand versuchen, ihn zu holen? Es eilt. Bitte.«

Ohne Antwort lief ein junger Mann los, begann schließlich zu rennen. Trotzdem entschied sich Nico, die Rettung zu rufen. Vielleicht zählte jede Minute und man konnte nicht wissen, wie lange dieser Doktor brauchte.
Nico nahm sein Handy, wählte den Notruf und gab die wichtigen Informationen durch. Dann beugte er sich wieder zu dem Jungen hinunter und fuhr ihm durch die Haare.

»Hallo? Verstehst du mich?«

Viel Erfahrung mit Drogen hatte Nico nicht, alles reine Theorie. Aber dieses Augenrollen, der kalte Schweiß auf der Stirn, den er jetzt fühlen konnte; alles Anzeichen, die darauf schließen ließen. Schlussendlich konnte es auch die Hitze gewesen sein, jedenfalls reagierte der Junge auf seine Frage nicht.
Er war schmächtig von der Figur her. Seine dunkelbraunen Haare klebten auf dem Kopf, auffällig die Augenringe, wie man sie gelegentlich von durchgemachten Nächten bekam. Sehr blass war seine Haut und das hellblaue T-Shirt völlig durchschwitzt.

»Wie heißt er, weiß das einer?«, richtete Nico seine Frage an die beiden anderen Jungen.

»Joachim,« antwortete der eine, der andere nickte. »Mehr wissen wir nicht.«

Es dauerte nur wenige Minuten, dann eilte der Arzt mit einer Tasche über den Platz.

»Geht doch aus dem Weg«, schrie Nico, da sich inzwischen eine Menge Leute um die Gruppe angesammelt hatten und neugierig glotzten.

Nico hasste Sensationslust und es fiel ihm nicht leicht, die Ruhe zu bewahren. Es war ihm nur völlig schleierhaft, woher die Gaffer plötzlich kamen.
Trotz seiner Bitte musste sich der Arzt einen Weg durch die Menge bahnen. Wenig später kniete er neben dem Jungen, im selben Augenblick war die Sirene des Rettungswagens zu hören.
Der Arzt begann mit seiner Untersuchung und Nico rastete nun doch beinahe aus.

»Mensch Leute, geht weiter, hier gibt’s nichts zu sehen.«

Mag es an seiner Erziehung gelegen haben, dass er keine niederträchtigen Flüche aussprach, obgleich ihm sehr danach war. Dann wandte er sich wieder an den Arzt.

»Er heißt Joachim. Seine Kumpels hatten ihn nach der Ankunft ihres Zuges vermisst.«

Nico hütete sich, dem Arzt seine Vermutung zu äußern. Allzu schnell geriet man durch solche Mutmaßungen in Schwierigkeiten.

»Wie lange liegt er schon hier?«, wollte der Arzt wissen.

»Zehn Minuten, ungefähr.«

Nachdenklich nahm er das Stethoskop von der Brust des Jungen.

»Gut, dass der Rettungswagen hier ist.«

Eine Diagnose gab er hier nicht ab, aber wozu auch? Sie würden über kurz oder lang eh erfahren, was passiert war.

Nun waren doch deutliche Stimmen zu hören, die Sanitäter kannten sich aus mit Gaffern und machten ihrem Unmut auch sehr deutlich Luft. Der Notarzt des Rettungsteams unterhielt sich kurz mit dem Doktor und Nico konnte die Sorge des Mannes aus dem Gesicht lesen.
Zwar fielen einige Worte, die Nico verstand, aber das meiste waren wohl medizinische Fachbegriffe und da musste er passen. Die Sanis trugen Joachim, den sie rasch auf eine Trage geschnallt hatten, zum Wagen. Kurz darauf brauste er mit Blaulicht und Martinshorn die Straße hinunter.

Nur langsam löste sich die Menge auf und Nico hielt dem Arzt die Hand hin.

»Mein Name ist Nico Hartmann, ich mache ein Praktikum als Betreuer, oben, im Camp.«

Das ernste Gesicht des Mannes hellte sich etwas auf und er reichte Nico ebenfalls die Hand.

»Oh, vom Camp.. War.. ist das einer eurer Jungs?«, fragte er und sah dem davonfahrenden Rettungswagen nach.

Mit letzter Sicherheit konnte das Nico gar nicht beantworten und wandte sich deshalb an die beiden Jungen, die etwas Abseits standen.

»Ihr wollt doch sicher ins Camp, oder?«, fragte er sie.

Die beiden nickten. »Ja. Es hieß.. man würde hier angeholt.«

»Durch den Zwischenfall haben sie die Transporter versäumt«, ergänzte Nico die Antwort.

Der Arzt nahm Nico am Arm und zog ihn außer Hörweite der beiden.

»Also, dem Augenschein nach.. hat der Junge Drogen konsumiert. Da es eine ganze Palette davon gibt, kann ich nicht sagen, welche. Möglicherweise kommt auch noch Alkohol dazu, dann die Hitze. Sein Kreislauf ist ziemlich instabil, hoffen wir dass das gut ausgeht.«

»Wo bringt man ihn hin?«

»Marienkrankenhaus. Ich bin ja seit einiger Zeit betreuender Arzt im Camp, ich werde Sie informieren.«

Das war neu. Dabei fiel Nico ein, dass sie eigentlich nie einen Arzt im Camp gebraucht hatten. Kleinere Blessuren, das war ein Fall für Rainer Bode oder Leo Meier gewesen.
Wichtig war im Augenblick, wie es mit den beiden Jungs weiterging. Kurzentschlossen zog Nico sein Handy aus der Tasche, Falk Stein hatte ihm seine Nummer für den Fall der Fälle gegeben.

»Hallo Herr Stein, hier ist Nico.«

»Oh, freut mich. Ist.. etwas passiert?«

Stein hörte wohl schon aus Nicos Stimme heraus, dass etwas nicht stimmte. Der erklärte ihm den momentanen Sachstand.

»Okay. Leo ist schon wieder losgefahren, er wird jeden Augenblick am Bahnhof sein. Gibst du mir kurz Doktor Gebhard?«

»Herr Stein möchte Sie sprechen«, sagte Nico und reichte dem Arzt das Telefon. Er wandte sich etwas ab, so dass Nico das Gespräch nicht mitbekam. Aber wie auch immer, sein Part war damit erledigt.
Noch während der Arzt mit Stein sprach, wandte sich Nico den beiden Jungen zu. Unter diesen Umständen war es quatsch, den Geheimnisvollen zu spielen.
»Mein Name ist Nico Hartmann. Ich bin ab heute für drei Wochen im Camp. Allerdings.. ich studiere Soziologie und mache dort mein Praktikum.«

Mit diesen Worten hielt er seine Hand hin. Die beiden Jungen zucken etwas zusammen, aber Nico kannte das. Bei den ersten Begegnungen mit den Betreuern war es ihm und den anderen auch nicht anders ergangen.
Was die beiden jedoch eher verblüfft haben konnte, war Nicos Aussehen. Zwar ging er schon auf die Dreiundzwanzig zu, aber das sah man ihm nicht an. Manch einer vermutete ihn sogar noch unter Zwanzig und nun passte das natürlich nicht ganz zusammen.

Der erste gab ihm die Hand. Er war etwas größer als Nico, ziemlich kräftig. Kurze, blonde Haare und ein Ohrring. Wache Augen, denen nichts entging und irgendwie vermittelte er auch den Eindruck, die Konfrontation zu suchen. Geschätztes Alter: Um die Zwanzig.

Typisch Quertreiber, kam es Nico in den Sinn. Er wusste, dass das nur sein rein subjektiver Eindruck war, aber er spielte in letzter Zeit gerne mit solchen Mutmaßungen. Es war einfach ein Test, ob er mit seinen Vermutungen Recht behielt.

»Ich heiße Held. Patrick Held..«

»Marco Serrolas «, folgte der andere.

Es folgte fester, fast schon schmerzhafter Händedruck. Marco war so groß wie Nico, normale Figur. Er trug seine dunkle Haare länger, ein Pony fiel in seine Stirn und vermittelte so irgendwie den Typ Lausejunge. Schmale Lippen und blaue Augen. Er dürfte um die Achtzehn gewesen sein, aber bei Typen wie ihm konnte man sich auch schon mal gehörig verschätzen. Keinerlei Körperschmuck, zumindest nicht sichtbar.
Nico spürte etwas, das von diesem Jungen ausging und vor genau diesem Gefühl hatte er Angst gehabt. Es war nicht greifbar und dennoch vorhanden. Es gibt eben Menschen auf dem Weg durchs Leben, die nimmt man wahr, mehr nicht.
Und es gibt welche unter ihnen, die das Interesse wecken; von denen man einfach mehr wissen möchte, weil sie einem auf Anhieb sympathisch sind. Zu dieser Sorte zählte Marco Serrolas. Nico war sich schon sehr früh bewusst, auf was er sich hier einlassen würde.
Dass alle Jungs im Camp nur grobschlächtige Haudegen sein könnten, das hatte er früh abgehakt; dafür sprachen einfach seine früheren Erfahrungen im Camp. Damals, als er sich für dieses Praktikum entschloss, da war er gar nicht sicher ob man ihm das überhaupt genehmigen würde.
Immerhin bestand die Gefahr, dass ihm sein Schwulsein in die Quere kommen könnte. Letztlich war seine Neigung ja nicht unbekannt geblieben und Betreuer, die etwas mit den Jungs anfangen, die würden wohl einen Tag später weg sein vom Fenster.

„Zu dir hab ich vollstes Vertrauen“, hatte Stein unter anderem in ihrem Telefongespräch gesagt. Womöglich war das eine Anspielung darauf, Steins Worte konnte man sehr oft so oder so auslegen.
Trotzdem musste Nico an der Stelle darüber nachdenken. Insgeheim hatte er gehofft, dass es durchschnittliche Teilnehmer sein würden. Keiner dabei, der ihm auch nur annähernd gefährlich werden könnte.
Doch bereits zu dieser frühen Stunde geriet Nico aus seinem vermeintlichen Gleichgewicht und Eines war ihm sofort sicher: Vor diesem Jungen musste er sich vorsehen und den bestmöglichen Abstand halten.

Leo Meiers Transporter holte ihn aus seinen Gedanken. Zügig kam der alte, klapprige VW-Bus auf die kleine Gruppe zu.

»So, erst Mal vielen Dank«, sagte Doktor Gebhard und reichte Nico das Handy.

»Wir sehen uns ja wahrscheinlich noch. Ich muss wieder rüber in die Praxis.«

Er gab Nico die Hand.

»Und, dann mal viel Erfolg da oben.«

Ein kurzer Wink zu Leo Meier hin, dann ging der Arzt über den Platz zurück.
Nico überzog ein breites Grinsen, als er Leo Meier auf sich zukommen sah. War es gestern? Vorhin? Merkwürdig, die Zeit zwischen ihrem letzten Wort und jetzt schien gar nicht sattgefunden zu haben.
Und Meier grinste noch breiter. Nico überlief ein leichter Schauer, er konnte die Freude des Betreuers förmlich spüren. Ja, er war willkommen hier, diesen Eindruck hatte er ja schon von Stein bekommen.

Leo Meier breitete seine Arme aus und fiel Nico fast stürmisch um den Hals. Leo hatte sich kaum verändert. Das Camp war sein Leben, gab ihm alles was er brauchte. Nico dachte, wenn dieses Projekt eines Tages sterben würde, warum auch immer, dann würde Leo Meier das auch.
»Mensch Nico, was freu ich mich. Tach auch. Hattest ne gute Fahrt? Ja, komm, lass dich anschauen.«

Meier überschlug sich beinahe mit seinen Worten, zu denen Nico gar nicht erst kam.

»Gut siehst du aus. Und damit nehm ich mal an: Dir geht’s auch gut?«

Nico lachte.

»Ich weiß ja auch nicht, aber je näher ich dem Camp komme, desto besser geht es mir.«

Da standen sie einige Augenblicke und sahen sich an.

»Wir haben uns wohl ne Menge zu erzählen«, beendete Leo die Schweigeminute.

»Aber jetzt komm, fahr los. Es gibt bald Mittagsessen und du wirst sicher Hunger haben.«

Nico schüttelte fast unmerklich den Kopf. Wer betreute denn wohl wen in den kommenden drei Wochen? Leo Meier würde wohl eine Weile brauchen, bis er sich darüber im Klaren war, dass Nico nicht mehr zu den Teilnehmern gehörte. Er war jetzt im Team; seit heute, seit eben.

»Okay, ich fahr dir hinterher. Dann brauch ich nicht lange suchen.«

Meier grinste wieder.

»Nico, wenn keiner den Weg da hoch findet.. du findest es doch blind.«
Dabei zwinkerte er.

Nico winkte noch kurz, dann lief er zu seinem Wagen. Leo hupte als er an ihm vorbei in Richtung Camp davonfuhr.

Das war also dein Einstand, dachte Nico und fuhr los. Ein Lächeln umspielte seine Lippen: Noch keinen Fuß ins Camp gesetzt und schon war etwas los..

Leo Meier war schon weit vorausgefahren. Nico hatte extra so lange gewartet um selbst zu sehen, ob ihn allein sein Gefühl zum Camp führen würde.
Die Richtung von hier aus wusste er noch genau; vorbei an der alten Brauerei, dann an der Kreuzung geradeaus. Etwa ein halber Kilometer später musste der Waldweg rechts reinführen und dann den Berg hoch.
Aufpassen musste er nur, weil es da einen weiteren Waldweg gab. Der führte nach einigen Minuten an eine Schranke und war somit falsch. Nico zündete sich eine Zigarette an und drehte die Musik lauter. George Michaels „Outside“ verlangte nach Lautstärke.
Wie oft hatten er und Stefan dieses Lied zusammen gehört? Unzählbar eigentlich. Und es war die Zeit, in der sie eben sehr glücklich gewesen waren. Lange dauerte sie nicht, aber jede Minute hatte sich in Nicos Hirn gebrannt.
Wehmut, ein bisschen Traurigkeit mischte sich in seine Gefühlswelt. Immerhin hatten sie sich ewige Liebe geschworen, bis zu ihrem letzen Tag. Wie vergänglich Schwüre und Eide doch waren. Wie das Wasser des Bachs, der wohl noch am Camp entlang fließen würde.
Warm war der Wind, der Nicos Haare durch das offene Seitenfenster umspielte, nicht mehr heiß. Aber dennoch, hier und da waren dem Wald und den Wiesen die Dürre anzusehen. Besser als Matsch, sinnierte Nico und drehte den Player noch ein Tick weiter auf.
Dann kam die leichte Biegung der Kreisstraße, gleich dahinter der Abzweig. Ja, da war er, der Waldweg. Nico bremste und setzte den Blinker. Als die Reifen knirschend den trockenen Waldboden berührten, war es Nico, als würde er durch ein Tor hindurchfahren.
Ein Tor, von einer Welt in die andere. Hinter ihm lag seine Wohnung, die Zeit mit Stefan, der Campus. Mit jedem Meter, den er nun den holprigen Weg entlang fuhr, entfernte er sich von jener Welt. Er war nicht alleine hier und dennoch kam es ihm so vor.
Es war eben eine besondere Form des Alleinseins. Er glaubte nicht an minutiöse Einteilung seiner Zeit, an Stress ohne Ende. An Streitereien und Machtgerangel unter den Jungs. Es würde möglich sein, sicher, aber er würde es nicht näher an sich heranlassen als das nötig war.
Eine Art Zufriedenheit schien ihn zu umgarnen, wie die Blätter der Laubbäume über ihm. So fühlt sich ein Mensch, wenn er zu Hause ankommt, dachte er. Ich bin zu Hause. Gleich.
Die ärgsten Schlaglöcher waren mit Ziegelbruch aufgefüllt worden, weshalb Nico etwas schneller als Schritttempo fahren konnte. Dann kam die dichte Baumreihe, die er sofort wiedererkannte. Sein Herz begann nun doch schneller zu schlagen. Neugier vor allem trieb es dazu an. Es gab einfach zuviel, was ihn erwarten könnte.
Nico hielt an und stellte den Motor sowie den Player ab. Alles war ihm durch den Kopf gegangen, jedem dieser Meter hier war er bereits in seinem Geiste gefolgt, aber so hatte er es sich doch nicht vorgestellt.
Die Gefühle, die er jetzt spürte, konnte man nicht durchspielen. Tief holte er Luft, schnupperte die Mischung aus welkem Laub und Harz. Hatte er es vermisst? Die ganze, lange Zeit schon? Ja, es gab keinen Zweifel.
Stimmen. Von weiter vorne trug der leichte Wind Stimmen zu ihm hin. Er konnte kein Wort verstehen, allerdings hatte er nicht gedacht, schon so nah an der Hütte zu sein. Jene Hütte, von der aus es dann zu dem Camp ging. Oder besser zu den beiden Camps.
Stein hatte ihm berichtet, dass sich im an all dem im Prinzip nichts geändert hätte.
Nico erinnerte sich an das erste Mal, als er mit dem kleinen Oliver dort drüben vorfuhr. Die Jungs saßen schon da auf diesen Bänken; und beim zweiten Mal der Schreck, als er Stefan und Mirko erkennen musste.
Immer wieder tauchte da auch Erkan in seinen Gedanken auf. Schade, der wäre hier auch sehr gut aufgehoben. Und zu zweit… nein, lieber nicht. Das würde kaum gut gehen, denn ob sich Erkan an alle Regeln als Betreuer halten könnte, das war schon etwas Zweifelhaft.
Nun trennten ihn nur noch wenige Meter von diesen drei Wochen, von denen er sich soviel versprach. Und zum ersten Mal tauchte er als Betreuer auf, nicht als Teilnehmer. Rasch kontrollierte er seine Kleidung, denn der erste Eindruck war und ist der Wichtigste.

Er ließ den Motor an und fuhr ganz langsam auf dem Weg weiter. Nun kamen die Bänke in Sicht… die Hütte, die Autos.
Die Jungs saßen tatsächlich auf den Bänken. Schnell verschaffte sich Nico einen groben Überblick. Da hinten erkannte er Stein, auch Meier wuselte auf der Veranda der Hütte herum. Und Rainer Bode. Der hatte Nicos Auto bereits bemerkt und sah zu ihm herüber.
Natürlich wussten alle dass er kam, einen Überraschungseffekt gab es deshalb nicht.
Rainer Bode ließ seinen Blick nicht von Nico und kam ihm mit großen Schritten entgegen. Stein hatte Nico nun ebenfalls bemerkt, auch er setzte sich in Bewegung.
Traf er hier eigentlich Kollegen, oder waren das in gewissem Umfang nicht schon Freunde? Eine Mischung aus beidem, beschloss Nico dann für sich, obwohl es doch schon eher in Richtung Freundschaft tendierte. Man würde eben sehen, wo genau die Grenze lag.
Sein Herzklopfen galt nicht nur dem Wiedersehen mit den Betreuern, vielmehr auch den Jungs, die nun alle zu ihm hinstarrten. So wie es aussah hatten sie bereits ihr Equipment empfangen, somit dürfte auch die Vorstellungsrunde der Betreuer schon gelaufen sein. Demnach würde man Nico separat vorstellen, so wie Charles Rademann seinerzeit. Der war auch zu spät gekommen.. Aber Nico war nicht zu spät. Es war kurz vor Zwölf, genau die abgemachte Zeit.

Er fuhr bis fast zu der Hütte und hielt an, als er bei Bode und Stein angelangt war. Freudige Gesichter.. keine Zweifel. Dennoch, Nico schielte an den beiden vorbei. Hin zu den Bänken. Dort saßen ja die Hauptdarsteller in diesem Film, ohne sie wäre keiner der Betreuer hier.
Alle starrten zu ihm hin und das Gefühl, das ihn in diesen Momenten vereinnahmte, war schwer zu beschreiben. Im Augenblick zumindest stand er im Mittelpunkt.
Nico blieb sitzen, als Stein an die Fahrertür kam. Wie immer, dachte Nico. Schlank und rank, ein bisschen brauner noch als damals. Aber sonst.. unverändert.

Er reichte Nico die Hand.

»Willkommen im Club.«

Sekunden später drängte Rainer Bodes Hand zu ihm vor.

»Ja, herzlich willkommen. Schön dass du gekommen bist.«

»Ich.. freu mich auch.«

Jetzt war sich Nico sicher, dass er wirklich zu Hause war. Egal was kommen sollte, er würde sein Leben geben für diese Gemeinschaft.

»Komm, ich stelle dich den Jungs vor. Und.. keine Angst, hier beißt keiner. Keep cool.«

Stein zwinkerte und öffnete Nico die Autotür. Er wusste schon, wie Stein das gemeint hatte. Nico konnte seine Aufregung nur schwer verbergen und die beiden spürten das eh schon auf hundert Meter.

Langsam stieg er aus dem Wagen, wonach ihm Stein freundschaftlich seinen Arm um die Schulter legte. Welcher Art diese Geste auch gewesen sein mochte, Nico empfand sie weder als peinlich noch übertrieben. Sollten die Jungs dort rechtzeitig wissen, mit wem sie es hier zu tun hatten.
Plötzlich, wie aus dem Nichts, sprang etwas an Nico hoch, so dass er beinahe gestürzt wäre.

»Rick“«, rief Nico entzückt und kniete sich nieder.

Er drückte den Husky an seine Brust. Ja, auch an ihn hatte er gedacht, sehr oft sogar.
Ein Seitenblick zu den Jungs ließ ihn neidische Blicke erkennen. Ob das gut oder schlecht war, spielte in diesem Moment keine Rolle. Rick konnte sich kaum beruhigen, immer wieder sprang er an Nico hoch.

»Macht er das nur, weil Sie jetzt dabei sind oder..?«

»Nein, Nico. Wenn ein Husky einen Menschen erst einmal anerkannt hat, dann wird er den nie wieder vergessen. Aber nun komm, es wird Zeit.«

Stein führte Nico zu der Veranda und er spürte, wie seine Beine weich wurden. Seltsam, auch das hatte er bereits in seine Überlegungen mit einbezogen und doch war es plötzlich völlig anders.

»Wieso gibt es eigentlich immer noch diese Hütte hier? Camp eins und zwei haben doch große Gebäude.«

»Gut Frage, Nico. Tatsächlich war im Gespräch, die Hütte hier aufzugeben. Aber zum einen will sie niemand haben, sie ist zu groß, zum anderen fungiert sie gelegentlich als relativ einfache Unterkunft. Wir haben in letzter Zeit öfter Leute hier, die sich für das Camp – Projekt interessieren und die dann oben unterzubringen, das wollte ich nicht. Es stört den Ablauf. Und zudem liegt sie zentral.«

„Die Treppen zum Schafott“, schoss es Nico kurzzeitig durch den Kopf. Er musste leicht grinsen über diesen Vergleich. Immerhin, es war der erste Kontakt mit den Jungen und er hatte sich dafür auch schon die richtigen Worte zurechtgelegt.
Dennoch, im selben Moment ahnte er, dass ihm von diesen Worten kein einziges mehr einfallen würde. Aber es gab keine Möglichkeit des Rückzugs. Lange genug hast du dich darauf vorbereitet, sagte er sich und versuchte, seine Unsicherheit zu verbergen.
Wenn die da unten so etwas spürten, könnte er gleich wieder abfahren. Wichtig war ihm, Präsenz zu zeigen. Sich nicht hinter Stein oder Bode oder sonst wem unter den Betreuern zu verstecken.
Sein Professor an der Uni hatte ihn mehr als einmal über seine Fähigkeit gelobt, die richtigen Worte an der richtigen Stelle zu finden und seine Überzeugung zum Ausdruck zu bringen. Er musste jetzt nur nichts anderes tun als das, was er schon etliche Male geprobt hatte. Standhaftigkeit war oberstes Gesetz und Selbstsicherheit spüren zu lassen von größter Wichtigkeit.

Nun standen sie oben auf der Veranda und Stein senkte leicht den Kopf. Er sagte nichts, kein Wort, aber Nico verstand auch so. Die Sekunde war gekommen.
Nico drehte sich, dann wanderte der Platz vor ihm in sein Blickfeld. Alle Augen waren auf ihn gerichtet.

»Also Leute, hört mal zu«, begann Stein dann doch und Nico atmete auf.

Es blieben ihm wohl noch ein paar Augenblicke um sich zu sammeln. Einzelheiten nahm er nicht wahr, nur das Gesamtbild, das sich ihm bot. Rasch versuchte er zu zählen, was ihm bei zwölf Personen nicht schwer fiel. Einmal hatte er ein Referat im Hörsaal gehalten, da waren es zehnmal so viele. Diese Erkenntnis nahm ihm dann auch ein Großteil seines Lampenfiebers.

»Ich möchte euch Nico Hartmann vorstellen. Er studiert Sozialwissenschaften an der Uni Göttingen und wird hier ein dreiwöchiges Praktikum abhalten. Herr Hartmann kennt sich im Camp übrigens sehr gut aus und hat automatisch alle Befugnisse wie die anderen Betreuer hier auch. Ihr könnt euch mit Problemen genauso an ihn wenden wie an uns. Ich denke, das war’s erst Mal von meiner Seite. Nico, du hast das Wort.«

Nico räusperte sich.

»Guten Tag zusammen. Im Grunde hat Herr Stein schon alles gesagt. Was ich mir wünsche ist, in diesen drei Wochen viel über euch zu erfahren und auch, dass wir gut miteinander auskommen. Alles Weitere wird sich ja dann ergeben. Vielen Dank erst mal.. und auf gute Zusammenarbeit.«

Klopfen auf Holz, der eine oder andere Pfiff. Aber Nico empfand es nicht als auspfeifen.

Leo Meier kam nun hinzu.

»So, ich denk es ist genug geredet. Komm erst mal, wird Zeit zum essen. Es gibt nen leckeren Eintopf.«

Damit ging Nico im Geleit mit Stein, Bode und Meier in die Hütte. Er wusste ja, dass es personelle Änderungen gegeben hatte und so wunderte er sich nicht über zwei weitere Männer, die die ganze Zeit etwas Abseits auf der Veranda gestanden hatten. Die beiden kamen ihnen jetzt entgegen.

Stein stellte sie vor.

»Das ist Michael Korn. Er ist seit einem Jahr im Kader und kam für Charles Rademann. Er ist übrigens auch unser Ergotherapeut.«

Nico gab dem etwas kleineren, aber kräftigen Mann die Hand. Er schätze ihn um die Dreißig, hatte schon beträchtliche Geheimratsecken und trug eine Brille mit Silbergestell. Aber unübersehbar die wachen Augen, denen bestimmt keine Fliege an der Wand entging und der kräftige Händedruck. Auf den ersten Blick nicht unbedingt der Kumpel – Typ, aber das hatte Nico eh nicht erwartet.

»Freut mich«, sagte er, »dann ist aus dem alten Schuppen doch noch eine Werkstatt geworden.«

Korn nickte.

»Ja, hab schon gehört dass du… ich darf doch du sagen?«

Wovor Nico am meisten Bammel hatte war, dass ihn zumindest die neuen Betreuer hier siezen würde. Am liebsten hätte er gleich kundgetan, dass sie ihn bitte mit Du anreden mögen, aber anscheinend erledigte sich das nun von alleine. Bei Leo und Rainer gab’s eh keine Fragen, einzig sein Verhältnis zu Stein, das würde auf der Ebene Vorgesetzter im weiteren Sinn bestehen bleiben.
Müssen.

»Nein, nein, ich hab nichts dagegen, im Gegenteil«, machte er damit deutlich.

Korn nickte und rückte seine Brille zurecht, was Nico als eine Art Unsicherheit betrachtete. Allerdings, man konnte sich gerade bei diesen Männern auch sehr täuschen. »Ja, also hab gehört dass du schon zweimal hier warst. Find ich gut, dann weißt du ja was hier so läuft. Die Werkstatt ist seit fast zwei Jahren in Betrieb. Wir haben sogar schon Projekte für Spenden..«

»Lass mal gut sein, Mike. Ihr habt jede Menge Zeit, euch drüber zu unterhalten.«

Korn schien durch Steins Unterbrechung in keinster Weise beleidigt oder sonst irgendwie betroffen. Aber so wie er darüber redete, schien er ziemlich Stolz auf diese Einrichtung zu sein.

»Hier haben wir noch Felix Gröbner«, stellte Stein den anderen Mann vor.

»Er ist in erster Linie Koch hier. Na ja, und für Sachen, die eben noch so anfallen.«

Felix Gröbner war schon vom Aussehen her keinem anderen Job hier zuzuordnen. Einen guten Kopf kleiner als Nico, dafür der doppelte Umfang. Sein Haarwuchs konnte man als spärlich bezeichnen und dominant an dem ganzen Mann war die dicke Hornbrille.
Entfernt dachte Nico an einen zu klein geratenen Heinz Erhard. Gröbner dürfte schon in den Vierziger sein, schätzte er. Aber auch er ein freundliches Gesicht, ein fast spitzbübisches Lächeln. Auf den ersten Blick ein Mann zum Pferde stehlen.

»Zwei Mann fehlen jetzt noch, aber die sind drüben im Camp zwei. Irwin Probst ist unser Dolmetscher, da sind wir einfach nicht mehr drum herum gekommen. Zusammen ist er mit Leo und Gerd Hagen, der auch neu ist, für das andere Camp verantwortlich. Gerd und Irwin Probst sind schon hochgefahren ins Camp zwei, da sind noch ein paar Arbeiten zu erledigen bis die Jungs kommen. Du wirst sie später kennen lernen.«

»Und was ist aus Alexander geworden?«, musste Nico an dieser Stelle unbedingt wissen.

»Kommt erst mal rein, zum essen«, unterbrach sie der Koch und zusammen betraten sie den kleinen Raum, in dem sie gerade eben Platz hatten. Aber Nico wusste ja, dass diese Hütte nur Übergang war. Zentraler Stützpunkt, Lager und Kleiderkammer.
Sie setzten sich willkürlich an den kleinen, runden Tisch und es roch bereits verführerisch nach Essen. Erst jetzt spürte Nico richtig Hunger aufkommen.

»Ja, der Alex«, antwortete Stein, während Gröbner Gläser und Wasserflaschen auf den Tisch stellte.

»Er ist vor einem Jahr weg von hier. Ach.. Moment..«

Stein stand auf und ging an die kleine Ablage, auf der eine Aktentasche lag. Er suchte in der Tasche herum, fischte etwas heraus und gab es Nico.

»Hier, die Karte ist letzten Monat gekommen.«

Nico betrachtete das Foto der Ansichtskarte, dann drehte er sie um und las den Text.

„Hallo zusammen. Sind grade in Miami an Land, fahren dann weiter nach Kuba. Liebe Grüße, Alexander.“

»Was.. macht der denn in.. Amerika?«, fragte er erstaunt.

»Alex ist jetzt Schiffskoch auf einem Luxusliner.«

»Was? Dieser.. Klasse. Das freut mich für ihn. Wie kam er denn dazu?«

»Ein Bekannter von mir hat das eingefädelt. Ja, also ich find’s auch toll.«

»Und Charles Rademann?«, knüpfte Nico direkt an.

Stein räusperte sich.

»Nun ja, Chip hat es wohl aus privaten Gründen in den Osten verschlagen. Aber weg aus der Materie ist er nicht. In der Nähe von Klingenthal ist ein Camp geplant und wenn alles glatt geht, tja, dann wird er dort wohl sein Wissen und Können demnächst an den Mann bringen.«

Schöne Aussichten, fand Nico. Chip würde auch so einer sein, der sich wie Stein und am Ende wie er sich vielleicht selbst gar kein Leben ohne Camp mehr vorstellen konnte.

Der Koch stellte die Schüssel mit dem Eintopf auf den Tisch, dann noch einen Korb mit Brot. »So, Leute, jetzt wird gegessen und nicht gefaselt«, sagte er in einem gespielt herrischen Ton.

»Dann guten Appetit«, rief Stein in die Runde.

»Leo, denkst du dran dich bei Uwe nach dem Jungen zu erkundigen? Ich muss schnellstens seine Eltern benachrichtigen, aber das kann ich erst wenn ich Genaueres weiß.«

Leo Meier nickte.

»Klar, Falk.«

Nico wusste sofort um was es ging. Langsam aber sicher schlich sich der Job zu ihm hin, wahrscheinlich blieb ihm gar nicht so viel Zeit, hier anzukommen.

»Du warst ja von Anfang an dabei. Was hast du denn mitbekommen?«, wollte Stein von ihm wissen.

»Hm, nicht viel. Nur dass er zusammengebrochen ist. Ich hab ja gleich den Arzt rufen lassen.«

»Und mal ehrlich, was meinst du was da passiert ist?«

Stein wollte es wissen und Nico kannte ihn; er würde sich nicht mit irgendwelchen Vermutungen zufrieden geben.

»Ich hatte den Eindruck, der war mit Drogen vollgepumpt«, gab er dann auch als Antwort.

Kein „ich glaube“ oder „ich denke“. Es war seine Sichtweise und im Moment war es unrelevant was andere darüber dachten.

»So was Ähnliches hab ich mir gedacht. Glaubst du nicht, dass er nur betrunken war?«

Nico schüttelte den Kopf.

»Schüttelfrost nach Alkohol.. wohl eher nicht.«

Stein nickte und Nico lief eine Gänsehaut über den Rücken. Genau das hatte er hören wollen, und sonst nichts.

»Was passiert jetzt mit ihm?«

»Na ja, für ihn ist das hier gelaufen.«

»Kann man solche Lücken nicht füllen, also jemand anderen für ihn einspringen lassen?«

»Nein, in der Regel sind die Termine fix. Es ist auch schwer möglich, praktisch jemandem von Jetzt auf Nachher zu sagen, er soll drei Wochen hierher. Wir haben es mal mit Quereinsteigern versucht, also Jungs ins laufende Programm aufzunehmen. Aber das klappt nicht, meist gibt es keine richtige Integration mehr.«

»Und wie viel Teilnehmer sind nun da?«

»Nun sind es zwölf, nachdem Joachim Schnell ausgefallen ist und wenn du richtig rechnest, wäre es einer mehr als üblich. Aber den einen Jungen mussten wir zusätzlich aufnehmen, Befehl von oben, sozusagen. Frag mich nicht, aber das wird seine Gründe haben. Damit sind in Camp eins sechs, im anderen sieben Personen.«

Es stand für Nico außer Zweifel, dass Stein wusste, warum er diesen einen Jungen aufnehmen musste und genauso wenig zweifelte er daran, dass er selbst diesen Grund irgendwann erfahren würde.
Felix Gröbner hatte inzwischen die Jungs draußen verköstigt, die waren nun zur Abfahrt ins Camp bereit.

»Nico, du kannst in deinem Auto nachfahren. Besser, es steht da oben«, sagte Stein, als sie auf die Veranda traten.

»Ich bin wohl.. in Camp eins, oder?«

Stein nickte. »Klar. Ich denke, wir beide werden uns heute Nachmittag in meinem Büro einschließen, denn ich habe dir viel zu sagen. Komm, es wird Zeit.«

Nico interessierte zunächst nicht, wer von den Jungs in welches Camp gebracht wurde. Er dürfte so oder so früh genug erfahren, mit wem er es in den drei Wochen zu tun haben würde.

»Ich fahr mit Nico!«, rief Stein den Kollegen plötzlich zu und winkte.

Diese Entscheidung hatte er scheinbar in derselben Sekunde getroffen.

»Oh, Sie wollen meine Fahrkünste testen?«, lachte Nico und stieg in sein Auto.

Stein öffnete die Beifahrertür und mit einem Satz sprang Rick auf die Rückbank.

»Hast ja nichts gegen einen zweiten Beifahrer«, schmunzelte Stein und Nico schüttelte heftig den Kopf.

»Nein, natürlich nicht.«

Er drehte sich nach hinten.

»Darfst natürlich nicht fehlen.«

Kurz nachdem er losgefahren war, reichte ihm Stein die Hand.

»Ich denke, wir kennen uns nun wirklich schon lange genug. Leider nicht mehr lange, aber für diese Zeit.. Falk.«

Nico schluckte. Es hatte ihm von Anfang an nicht gefallen, dass Falk Stein nur eine Woche nach seiner Ankunft das Camp verlassen würde. Diese Geste war einerseits die Krönung, andererseits machte ihm das den Abschied nicht leichter.

»Ähm.. ja«.

Er musste lachen.

»Nico. Danke.«

Er drückte Falks Hand fest, fester als das üblich war. Vielleicht strömte so etwas von der Energie zu ihm herüber, dachte er. Dieses Du hatte weit mehr Gewicht für ihn, als Stein vielleicht dachte.

»Darf ich Musik machen?«, fragte er, nachdem sie eine Weile auf der Kreisstraße gefahren waren.

»Klar. Sag mal, wie ist das denn mit Stefan und dir? Seid ihr noch zusammen?«

Stein durfte alles wissen. Er musste es sogar. Längst hatte er bei Nico den Status eines Freundes inne, nach diesem Du erst recht. Nico musste jede verbleibende Minute mit ihm ausnutzen, wobei dieser Tag nach Falks Angaben eh dafür reserviert war. Aber das würde eher geschäftlicher Natur sein und so erzählte er alles, was ihn und Stefan betraf, Stück für Stück, Teil für Teil.

»Dann ist ja noch nicht alles endgültig?«, fragte Stein anschließend.

»Nein, nicht wirklich. Wir haben uns einfach Zeit gegeben. Wenn es so sein soll, dann wagen wir einen Neuanfang.«

»Und du weißt nicht, wo er jetzt ist?«

»Nein, keine Ahnung. Anlaufstellen sind nach wie vor unsere Eltern, die immer wissen wo wir sind. Wenn es ihm oder mir danach ist, stehen wir nach höchstens einem Tag in Kontakt. So sind wir verblieben. Allerdings, es ist nun schon eine ganze Weile her. Ich habe ihm gestern Abend noch eine Mail geschickt und mitgeteilt wo ich bin. Sicher wird er darüber alles andere als begeistert sein, aber na ja.«

»Und zu den anderen Jungs, hast du da noch Kontakt?«

Nico grinste.

»Ja, zu Erkan ab und zu. Der weiß übrigens auch dass ich hier bin und.. autsch.. hab ich ganz vergessen: Er lässt euch alle ganz herzlich grüßen.«

»Erkan.. schon ein toller Bursche, irgendwie. Übrigens, im letzten Jahr hatten wir noch einen Jungen hier aus dem ersten Camp.«

Das erste Camp.. Nico wurde nachdenklich. Er hatte nicht mehr viel Erinnerung daran, der Zahn der Zeit hatte auch daran genagt.

»Und wer war es?«

»Lucas. Lucas Finzer. Er war wohl auch mehr oder weniger in übles Fahrwasser geraten.«

Rasch erinnerte sich Nico an den langen, dünnen Lucas. Und er sah ihn in diesen Sekunden längelang hinschlagen, oben im Stroh.. Er musste grinsen, sagte aber darauf nichts. Er hatte noch so viele Fragen, aber die mussten warten.

Rainer Bodes Transporter stand schon am Hauptgebäude, als sie aus dem Wald auf das Gelände zufuhren.
Es lag wieder in gleißendem Sonnenlicht, von außen praktisch völlig unverändert. Nur das Werkstattgebäude, das sie damals anfingen herzurichten, lugte in neuem Glanz hinter dem Gebäude hervor. Sonst stellte Nico keine Veränderung fest. Nun kam es ihm erst recht so vor, als wäre er erst Gestern hier gewesen. Sein Blick ging über den freien Platz hinüber zur Sammelstelle, wo sie gegrillt hatten und von der aus der Pfad durch den Wald ins Camp führt.

»Ist der Zeltplatz noch dort wo er war?«

»Ja, da hat sich nichts verändert. Du kannst, wenn wir nachher fertig sind, ja mal einen Rundgang machen.«

Das ließ sich Nico nicht zweimal sagen. Nun jedoch parkte er den Wagen vor dem Gebäude und sie stiegen aus. Rick rannte sofort ins Gebäude.

»Der hat Durst, wie ich. Wie sieht es mit dir aus?«, fragte Stein.

»Keine schlechte Idee.«

Dabei beobachtete Nico die Jungen, die jetzt aus dem Gebäude kamen, mit Leo und Michael Korn im Geleit. Sie zündeten sich Zigaretten an und erzählten. Die erste Nacht fand ja im Gebäude statt und Nico musste kurz grinsen, denn das kleine Schäferstündchen mit Erkan im Waschraum fiel ihm ein. Die Webcam, Stefans geklaute Unterwäsche.

»Komm, lass uns ins Büro gehen. Es gibt vieles, was du wissen musst.«

Nico seufzte. Im Augenblick war er sich nicht sicher wo er jetzt lieber wäre. An dieser Stelle oder in der kleinen Gruppe, auf die sie nun zuliefen. Wieder sahen alle zu ihnen hin, dabei meinte Nico zu erkennen, dass sie hauptsächlich ihn musterten. Aber da war er ja vorgewarnt worden: Auf ihn würden sie ein besonderes Augenmerk haben.
Er folgte Stein und sie gingen dicht an ihnen vorbei. Ein kurzer Blick.. das waren sie also, die sechs Jungs, mit denen er es zu tun haben würde.
Im Büro war es angenehm kühl, fast schon zu kalt. Allerdings dürfte das nur ein eher subjektives Empfinden gewesen sein, in Anbetracht der Hitze die draußen herrschte. Die Klimaanlage am Fenster war auch das einzig Neue in dem Raum, sonst hatte er sich nicht verändert. Die Pokale, die Medaillen, alles an seinem Platz. Ringsum schien die Zeit stehen geblieben zu sein.
Stein bot ihm einen Platz.

»Warte, ich hol uns was zu trinken und dann reden wir.«

Kurz darauf kam er zurück und stellte zwei Wasserflaschen auf den Schreibtisch.

»So, mein Lieber. Dann wollen wir mal.. Vielleicht kommt dir das jetzt alles ein bisschen schnell vor, aber wie du weißt haben wir nicht ewig Zeit.«

»Schon klar.« Nico schraubte eine Flasche auf und füllte die Gläser.

»Also, Unterkunft für dich ist Alexanders Zimmer. Felix und Rainer wohnen unten im Ort, die sind sozusagen Heimschläfer. Unter anderem gibt’s eine Anordnung, die ist seit letztem Jahr bindend. Das Camp darf nicht mehr unbeaufsichtigt bleiben, vor allem Nachts nicht.«

»Oh, gab’s einen Grund?«

Nico trank sein Glas auf einen Zug leer.

»Nun, im Grunde schon. Einer der Jungs bekam nachts Probleme. Wir wussten nicht dass er einen kalten Alkoholentzug hinter sich hatte und prompt bekam er einen epileptischen Anfall. Du weißt vielleicht dass das Lebensbedrohlich sein kann.«

Nico hatte viel über Drogen gehört und gelesen. Alkohol gehörte dazu und so wusste er auch, dass man mit kaltem Entzug jenen Vorgang meint, in dem sich ein Alkoholiker selbst dem Stoff entzieht; ohne ärztliche Betreuung und Medikamente.
»Ja, ich weiß.«

»Bis der Arzt dann kam war es knapp. Seitdem steht er uns rund um die Uhr zur Verfügung und es muss immer ein Betreuer in der Nähe des Camps sein. Zumindest innerhalb fünf Minuten erreichbar – wenn’s mal nötig sollte. Die Jungs bekommen die Nummer des Diensthandys, außerdem ist es angebracht, wenn wir die Nummern ihrer Privathandys haben. So kann man im Notfall in beide Richtungen Alarm schlagen und dafür gibt’s jetzt den Bereitschaftsdienst. Wir haben nebenan ein Zimmer eingerichtet, das dient als Aufenthaltsraum. Im Grunde nur ein Bett, Tisch und Stuhl. Spartanisch halt noch, aber vielleicht kann man es ja mal wohnlicher einzurichten.«

Da hörte Nico das erste Mal „man“ im Zusammenhang mit dem Camp. Nicht „wir“, wie es Stein sonst formulierte.

»Ich finde es gut. Ist das derselbe Arzt, den ich im Ort kennen gelernt habe.. dieser Doktor..«, lenkte Nico ab.

Er fürchtete, Falk Stein könnte sich jetzt in die Zukunft verirren. Die Zukunft, die hier ohne ihn stattfinden würde.

»..Uwe Gebhard, genau«, ergänzte Stein.

»Und ist es vorgesehen, dass ich auch Bereitschaft mache?«

»Es gibt eigentlich keinen Grund, warum du das nicht machen kannst. Ich habe auch schon mit den anderen darüber gesprochen und die hätten nichts dagegen. Aber es ist deine Entscheidung, denn – in diesem Zusammenhang: Du wirst hier zu nichts gezwungen. Übrigens haben wir es uns zur Gewohnheit gemacht, nachts ab und zu nach dem Camp zu sehen. Einmal hatten die doch tatsächlich eine Party da drüben veranstaltet.«

Stein musste trotzdem grinsen und Nico war sicher, dass es kein Riesendonnerwetter gegeben hatte.

»Und wie sieht so mein Tagesablauf aus, in etwa?«

Nun ging es in die Einzelheiten und Nico wartete gespannt auf Falks Instruktionen.

»Hier.«

Stein stand auf und ging an die Tür, auf der sich ein großer Wandkalender befand.
Nico ging zu ihm, um einen kurzen Blick darauf zu werfen. Jeder Tag der kommenden drei Wochen war mit Informationen beschrieben.

»Das ist der Dienstplan. Wir halten es noch immer so, dass die Jungs erst am Morgen nach dem Frühstück erfahren, was am Tag anfällt. Sie haben hier nichts zu versäumen und brauchen keine Planung. Sollte es etwas geben, was sie am anderen Tag benötigen, schriftliche Ausarbeitungen oder so, dann wird ihnen das am Tag davor mitgeteilt. Ansonsten ist dieser Plan Top Secret, sozusagen. Eigentlich halten wir das ja schon lange so, es hat sich eben bewährt. Es ist ziemlich sicher, dass der Krankenstand enorm ansteigt, wenn die vorher wissen was auf sie zukommt.«

Nico schmunzelte.

»Das erscheint logisch.«

Stein ging zurück zu seinem Schreibtisch und öffnete eine Schublade, aus der er ein braunes Buch herausnahm. Er blätterte kurz darin und reichte es Nico.

»Hier. Da sind alle Aktivitäten eingetragen, analog zu dem Plan. Auf der rechten Buchseite hast du Platz für deine Eintragungen. Zwar nehm ich jetzt an, dass du ein Notebook dabei hast, aber da draußen ist es nicht ganz so praktisch.«

Freudig nahm Nico das Buch.

»Vielen Dank. Ja klar, mein Lappi ist dabei, aber in der Tat – mitnehmen kann ich’s wohl kaum.«

Rasch blätterte er in dem in braunem Leder gebunden Kalender. Alle Dienste waren auf der linken Seite eingetragen, mit der Aktivität, dem Ort und der Uhrzeit. Nico freute sich darüber, denn er hatte sich schon Gedanken gemacht, wie er die nötigen Aufzeichnungen festhalten konnte.

»Hinten, im Einband, ist noch etwas«, sagte Stein und Nico fand in einer Lasche eine Diskette. »Da ist alles noch mal in Tabellenform. Nicht besonders schön, aber Zweckmäßig.«

Nico setzte sich wieder auf seinen Platz.

»Also, ganz wichtig – der Umgang mit den Jungs. Wir Betreuer wissen, dass du schwul bist, es war im Vorfeld wichtig, dass sie sich auch die Neuen auf dich einstellen können.«

Nico schluckte. Darauf war es so nicht gefasst gewesen, aber richtig überlegt war es okay. Keine Fragen, keine Andeutungen, keine Mutmaßungen. Falk, Rainer und Leo wussten es eh, die anderen waren ihm nicht so wichtig.

»Es gab übrigens überhaupt keine Diskussion deshalb. Also kannst ganz beruhigt sein.«

»Aber du hast das jetzt abgeleitet.. wegen den Jungs?«

»Ja. Ich denke du weißt, dass es die da draußen nicht erfahren dürfen. Es wäre ziemlich schlecht, für uns alle. Das ist ein Umstand, der leider nicht besser zu lösen ist und du bist ja intelligent genug, das nicht auf deine Person zu beziehen.
Die Jungen suchen sich automatisch Schwachstellen unter uns und du kannst es glauben, sie nutzen alles was ihnen zum Vorteil gereicht. Du musst dir eine Regel einhämmern: Die beobachten dich. Dauernd, ständig, immer; auch wenn du es nicht vermutest. Und sie versuchen, uns untereinander auszuspielen.
Das ist völlig normal und eine rein altersbedingte Eigenschaft. Allerdings gibt es eben dazu die positive Seite: Wenn sie merken, dass eine Sache gut ist, versuchen sie das nachzuahmen. Der Lerneffekt eben. Die meisten sind aus der Pubertät, aber erwachsen – das sind sie im Sinne des Wortes deswegen noch lange nicht. Vergiss auch nie, dass die meisten aus zerrütteten Familien stammen. Gemeinschaftssinn, Treue, Vertrauen und auch Gehorsam – vielen ist das einfach fremd. Es ist nicht unsere Aufgabe, Erziehungsfehler aus dem Elternhaus glatt zubügeln, das können wir schlicht nicht leisten und kommt für die meisten eh zu spät. Aber wir hätten nicht den Erfolg, wenn sie am Ende nicht doch etwas von dem, was wir ihnen bieten, annehmen würden.«

Nico spitzte bei jedem Wort die Ohren. Das war keine Moralpredigt, sondern genau das, worauf es in den nächsten drei Wochen ankam. Dadurch, dass Falk auf sein Schwulsein gekommen war, wurde ihm die Botschaft auch ohne direkte Worte klar: Die hieß nämlich Abstand.

»Im Gegenzug muss ich sie aber doch genauso beobachten.«

»Ja, Nico. Dabei bist du naturgemäß klar im Nachteil: Alle Augen sind auf dich gerichtet, gleichzeitig, aber du kannst immer nur einen beobachten. Mit anderen Worten, du musst sechsmal schneller sein als sie. Mag jetzt pathetisch klingen, ist aber so.«

Damit kam Stein auf den Punkt.

Wachsamkeit war sicher das oberste Gebot. Nico waren die Grundzüge bereits bekannt, aber jetzt, fernab der grauen Theorie, bekamen die Dinge ein anderes Gewicht.

Stein rückte einen Stapel Papiere vom Schreibtischrand in die Mitte und legte eine Hand drauf.

»Das sind die Akten der Jungs, natürlich nur von denen, die hier im Camp eins sind. Es wird dir nicht viel anderes übrig bleiben, als sie wenigstens einmal kurz zu überfliegen. Es ist einfach wichtig, dass man schon vorher etwas über sie weiß. Dass du unter der Schweigepflicht stehst, erwähne ich jetzt bloß der Form halber.«

Das ehrte Nico, jede Minute mehr spürte er mehr von der Verantwortung, die auf ihn zukam. Man brachte ihm Vertrauen entgegen und er durfte an keiner Stelle enttäuschen.

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