Über den Wolken – Teil 1

„Moin, moin die Damen.“, tönte eine fröhliche dunkle Stimme durch den Passagierraum der Boeing 747, die in weniger als einer Stunde nach Singapur starten würde, und wie ferngesteuert richteten sich die Augen der vier Stewardessen auf die imposante Erscheinung am Eingang. Daniel strahlte übers ganze Gesicht, obwohl er gerade einen anstrengenden Flug aus Kenia hinter sich und nur wenige Stunden Schlaf bekommen hatte. „Wie ich sehe, bin ich mal wieder spät dran, aber ihr habt es ja auch ohne mich prima im Griff. Oder Mädels?“, bemerkte er frech grinsend und lehnte sich relaxed mit der Schulter an die Kabinenwand.

Alle in dieser FF vorkommenden Firmen und Institutionen des realen Lebens gehören bedauerlicherweise nicht mir. Deshalb habe ich mir ihre Namen für diese FanFiction nur geborgt. Ich verdiene mit ihrer Nennung auch kein Geld.

„Hi, Daniel, was machst du denn hier?“, entgegnet ihm eine der Stewardessen überrascht und drückte ihm rechts und links ein Küsschen auf die Wange. „Sollte nicht eigentlich Madlen mit uns fliegen?“ Dann zog die junge Frau in eine kurze Umarmung. „Kiky, mein Herzblatt, dass ist ja schön, dass wir uns mal wieder sehen.“, erwiderte er die herzliche Begrüßung und drehte den Kopf leicht in Richtung der anderen Crewmitglieder, um die Frage nach dem Verbleib der eigentlich für diesen Flug geplanten Chefstewardess zu beantworten.

„Also ich verrate jetzt hoffentlich kein allzu großes Geheimnis“, schmunzelte er, „aber eure Frontfrau ist schwanger und darf ab sofort nur noch als Bodenpersonal arbeiten. Ich hab das selber eben erst erfahren und wenn ich es richtig verstanden hab, dann werden wir wohl jetzt öfter das Vergnügen miteinander haben.“ Daniel löste sich nun vollständig aus der Umarmung und begrüßte auch die anderen Kolleginnen, die er alle schon von früheren Flügen her kannte und für die er jetzt als Chefsteward die Verantwortung übernehmen würde. Er sah auf seine Armbanduhr und tippte leicht mit dem Finger darauf. „Ladys, wir haben leider nicht mehr allzu viel Zeit für nen ausgiebigen Plausch. Ich denke, jeder weiß, was er zu tun hat. Kiky und Sarah übernehmen bitte den Einlass an der Tür und der Rest sieht zu, dass sich die Passagiere so schnell wie möglich auf ihre Plätze sortieren.“ Daniel drehte sich um, verstaute sein Gepäck und war schon auf dem Weg in die Küche, um die Essentrolley zu kontrollieren, als ihm etwas Wichtiges einfiel. „Ach und was ich noch fragen wollte …“, wandte er sich noch einmal an die Kolleginnen. „Ich hatte noch keine Zeit in die Papiere zu gucken. Mit wem fliegen wir heut überhaupt?“

„Oliver Besson.“, antworteten zwei der jungen Damen gleichzeitig und fingen sofort an, über diesen Zufall zu kichern.

„Hmm“, verzog Daniel fragend den Mund und runzelte die Stirn. „Oliver Besson? Hab ich noch nie gehört. Der muss wohl neu sein, hört sich aber irgendwie französisch an.“ Daniel griente. „Französisch find ich ja nicht schlecht, wenn ich es nicht unbedingt sprechen oder schreiben muss.“ Kiky, die in der Küche direkt neben ihm stand und die Servietten für die erste Klasse faltete, wieherte amüsiert auf.

„Du bist unmöglich, Dan, aber ich glaube nicht, dass der deine Kragenweite wäre. Ich bin erst einmal mit ihm geflogen und er ist…“ Kiky linste um die Ecke den Gang entlang und versicherte sich, dass sie ungehört sprechen konnte. „… ein totaler Arsch.“, vervollständigte sie ihren Satz leise, aber deutlich genug, dass Daniel es verstehen konnte.

„Aha“, schmunzelte Dan. „Wollte er dir an die Wäsche oder wie kommst du darauf?“

„Pff, an die Wäsche.“, flüsterte Kiky weiter. „Den würd ich nicht mal an mich ranlassen, wenn ich nen Asbestanzug anhätte. Der hat den Charme einer Klapperschlange und um mit dem zu flirten, müsstest du ihn erst mal auftauen. Bis jetzt hat er es wohl noch auf jedem Flug geschafft, einen von der Kabinencrew fertig zu machen, und letzte Woche soll sogar ein erster Offizier heulend das Cockpit verlassen haben.“

„Ach ehrlich?“, hakte Daniel erstaunt nach. „Wer denn?“

„Du müsstest ihn eigentlich kennen, Dan … Micha Könneke. Wenn mich nicht alles irrt, hattest du doch mal ne kurze Affäre mit ihm.“ Kiky sah Daniel verlegen von der Seite an, der jetzt genervt mit den Augen rollerte.

„Hier bleibt aber auch nichts geheim, was? Woher weißt du denn das schon wieder? Also das mit Micha und mir?“ Daniel hatte nie ein Geheimnis aus seiner Homosexualität gemacht und alle Kollegen, mit denen er schon mehr oder weniger oft zu tun hatte, wussten darüber Bescheid. Die Sache mit Micha war echt nur ein One-Night-Stand gewesen, schien aber hier trotzdem jeden zu interessieren.

„Och komm, Dan“, streichelte Kiky ihm versöhnlich über den Rücken. „Es hat sich halt so rum gesprochen, aber das war wohl genau der Grund, warum der Besson Micha so niedergemacht hat, von wegen Schwuchteln hätten ihre Hormone nicht im Griff und hätten damit auch im Cockpit nix zu suchen. Sei also vorsichtig, wenn du dem Typen begegnest. Der ist nicht nur ungenießbar, sondern auch unverdaulich.“ Daniel nickte traurig, weil es offensichtlich immer noch Menschen gab, die sich selbst für den Gipfel der Schöpfung hielten und in deren Wortschatz Toleranz nicht mal in Grundzügen vorkam.

„Danke für den Tipp, Kleine.“, rief er ihr hinterher und noch bevor er weiter darüber nachdenken konnte, strömten auch schon die ersten der über 200 Passagiere ins Flugzeug. Daniel war in seinem Element. Fluggäste begrüßen, mit dem Handgepäck helfen, hier und da mit einem kleine Scherz die Angst vorm Fliegen bekämpfen und selbst vor einem kleinen Flirt mit jungen Mädchen, die ihm bewundernde Blicke hinterher warfen, machte er nicht halt. Das alles gehörte zu seinem Job, seinem Traumjob, den er über alles liebte.

Gut anderthalb Stunden später hatte die Maschine dann ihre endgültige Reiseflughöhe erreicht, alle Passagiere waren mit Frühstück versorgt und mümmelten zufrieden vor sich hin. Erstes Durchatmen also auch für die Kabinencrew. Nur eine Arbeit war jetzt noch zu erledigen, um die sich Daniel selbst zu kümmern hatte. In der kleinen Küche studierte er den Wunschzettel der Cockpitbesatzung und bestückte entsprechend die Tabletts mit frischem Kaffee, Orangensaft, knusprig aufgebackenen Brötchen, Käse und Marmelade. Bis zu diesem Moment hatte er einfach noch keine Zeit, sich diesen ominösen Captain Besson näher anzusehen und sich zumindest persönlich vorzustellen. Das würde er jetzt gleich in einem Abwasch mit erledigen. Er würde einfach ein paar nette Worte finden und vermutlich feststellen, dass der Mann gar nicht so schrecklich ist, wie der Ruf, der ihm vorauseilt. Bislang war Dan noch mit jedem Captain und jedem ersten Offizier zurecht gekommen. Gut gelaunt machte er sich also auf den Weg nach vorne und balancierte dabei kunstvoll wie ein Artist die beiden Tabletts über die Köpfe der Passagiere hinweg.

Vor der Tür zum Cockpit atmete er noch ein letztes Mal tief durch und klopfte höflich, bevor er eintrat. Das Bild, das sich ihm bot, unterschied sich nicht von dem, was er schon tausendmal gesehen hatte, seit er zum fliegenden Personal der Lufthansa gehörte. Zwei Männer in weißen Hemden, dunkelblauen Hosen und blauen Krawatten, die geschäftig Knöpfe und Hebel bedienten und deren Augen unentwegt über unzählige Anzeigen huschten, um auch jede noch so kleine Veränderung zu registrieren.

„Captain Besson“, sprach er den dunkelblonden Mann auf dem Pilotensitz an, „ihr Frühstück.“ Aber anstatt ihm mit einem dankbaren Lächeln das Tablett abzunehmen, so wie der erste Offizier es in diesem Augenblick getan hatte, fuhr der Captain ihn barsch, ohne auch nur den Kopf zu drehen oder ihn eines Blickes zu würdigen, an.

„Ich hatte noch nicht um Frühstück gebeten, junger Mann. So ein Flugzeug fliegt sich nicht von allein und außerdem…“ Abrupt drehte sich Captain Besson nun doch in seinem Sessel um und sah Dan, der etwas schräg hinter ihm stand, direkt ins Gesicht. Dunkelbraune Augen trafen auf erschrecktes Himmelblau. Sekundenlang sahen sie sich einfach nur an, erkannten sich wieder und fühlten sich beide in diesem Moment, als würde eine unbekannte Macht sie mit Lichtgeschwindigkeit durchs All katapultieren, so surreal war die Situation.

„Oliver“, hauchte Daniel überrascht und vorsichtig, aber der bekam einfach kein Wort heraus. Kommentarlos nahm Oliver Besson seinem Chefsteward das Tablett aus den Händen, schluckte den gewaltigen Kloß, der sich in seinem Hals gebildet hatte, hinunter und drehte sich mit einem leisen „Danke“ wieder nach vorn. Daniel zitterte vor Aufregung am ganzen Körper, als wäre er gerade einem Geist begegnet und mehr oder weniger war er das auch. Er hatte sich nicht mehr namentlich vorstellen müssen, denn der Mann da vorn kannte ihn aus längst vergessenen Teenagertagen und er hatte nie im Leben daran geglaubt, dass sie sich einmal wieder sehen würden. Nur damals hieß Oliver nicht Besson, sondern Kaulfuß und war von einem kaltherzigen mürrischen Flugkapitän so weit entfernt wie die Sonne vom Mond.

Und während Dan wie betrunken in die Bordküche zurücktaumelte und dort zur Beruhigung ein großes Glas Wasser trank, hatte Oliver Besson den Autopiloten eingeschaltet und saß wie gelähmt in seinem Sitz. Wie viele Jahre seines Lebens hatte er gegen die Bilder in seinem Kopf und das Gefühl auf seiner Haut gekämpft, hatte versucht diese mickrigen drei Wochen, die so vieles in Frage gestellt und durcheinander gebracht hatten, aus seinem Gedächtnis zu streichen. Wie viele Nächte hatte er wach gelegen, um die Träume zu verhindern, die ihn seit dem verfolgten und wegen denen er sich hasste. Er wollte einfach nur vergessen, die Ereignisse von damals aus seinem Leben radieren wie ein falsches Ergebnis aus einem Matheheft. Wie nutzlos all seine Bemühungen jedoch gewesen waren, hatte er gerade bemerkt, als Daniel so völlig unerwartet wieder vor ihm gestanden und sich die Erinnerung an damals sofort und schmerzhaft zurückgemeldet hatte. Oliver nahm einen Schluck Orangensaft, schloss, sich in sein Schicksal ergebend, die Augen und ließ seine Gedanken zurückreisen in seine Schulzeit, genauer gesagt in einen eigentlich ganz normalen Tag im September vor 11 Jahren.

Das Schuljahr hatte schon vor einigen Tagen wieder begonnen und er war froh gewesen, dass die Sommerferien endlich zu Ende waren. Nichts war schlimmer, als sich in Ermangelung von guten Freunden, die mit einem vielleicht mal zum See schwimmen oder übers Wochenende zelten fuhren, wochenlang nur mit sich selbst zu beschäftigen. Aber nun war er wieder in den gewohnten Trott zwischen Schule und Hausaufgaben zurückgekehrt und seine kleine Welt auch wieder in Ordnung. Wie jeden Tag schlenderte er auch an diesem schicksalhaften Mittwoch gelassen ins Schulgebäude und war noch nicht richtig an der ersten Treppe angekommen, als er von hinten einen unsanften Schubs erhielt und mit rudernden Armen der Länge lang auf den Steinboden fiel.

„Oh sorry, Kleiner“, strahlte ihn Daniel freundlich an, stellte ihn mit Leichtigkeit wieder auf die Füße und klopfte ein wenig an seiner Jacke herum, um den Staub zu entfernen, den er bei seinem unfreiwilligen Bodenkontakt aufgesammelt hatte. Wie vom Donner getroffen starrte er ihm hinterher und tagelang wollten die frechen braunen Augen überhaupt nicht mehr raus aus seinem Kopf. Daniel war neu an der Schule, genau wie er auch im letzten Schuljahr und je mehr er in den nächsten Tagen und Wochen auf abenteuerlichen Wegen über ihn herausfand, um so größer wurde die seines Erachtens magische Aura, die ihn umgab.

Daniel war wohl schon mehrmals von diversen Schulen geflogen und damit er überhaupt eine Chance hatte, das Abi zu bestehen, hatte seine Mutter beschlossen, ihn für das letzte Schuljahr in die Obhut der Großeltern zu geben. Weg aus der großen Stadt und dem angeblich schlechten Einfluss, den sie auf ihn hatte. So war Daniel hier aufgelaufen und er dachte wieder an das geschockte Gesicht von Rika, die in seiner direkten Nachbarschaft wohnte und oft den Heimweg mit ihm teilte, als sie ihm von Daniels Vorstellung am ersten Tag erzählte.

Mit einem lässigen „Hi“ hatte er wohl seinen 1,85 m Astralkörper direkt vor der zierlichen Französischlehrerin Fräulein Lemaire aufgepflanzt und sie damit völlig verdeckt. „Ich bin Daniel Sommer, ich komm aus Hamburg und da euch das offensichtlich am Meisten interessiert…. Meine braune Haut kommt nicht von stundenlangen Orgien auf einem Assitoaster, sondern ist angewachsen. Mein Erzeuger muss vor 19 Jahren wohl irgendwie die letzte U-Bahn zurück in den Dschungel verpasst haben und vor lauter Dankbarkeit für nen Schlafplatz hat er mich als Andenken da gelassen. Also nich wundern, wenn ich selbst im tiefsten Winter noch aussehe wie nach drei Wochen Sommerurlaub.“ Augenblicklich war das Getuschel verstummt und alle hatten sich mehr oder weniger ertappt gefühlt. Aber Daniel wäre auch nicht Daniel, wenn er nicht noch eins draufzusetzen hätte. Sich der plötzlichen Aufmerksamkeit sehr wohl bewusst, hatte er seine Augen von einem zum anderen wandern lassen, um dann schließlich mit einem amüsierten Grinsen: „Ach, und was ich noch sagen wollte, bevor es sich als übles Gerücht den Weg über den Buschfunk sucht…. Ich bin schwul und damit auch ziemlich glücklich, obwohl ich im Moment leider keinen Freund hab. “, hinterher zu schieben.

„Stell dir mal vor Olli“, hatte Rika ihm die ganze Sache nur wenige Stunden später auf dem Heimweg aufgeregt und haarklein berichtet, „der ist schwul und erzählt das auch noch einfach so.“ Aber nicht nur bei Rika saß der Schock tief. Alles, aber auch wirklich alles hatte er Daniel zugetraut…. aber SCHWUL??? Je länger er jedoch darüber nachdachte, umso weniger störte es ihn allerdings auch. Ganz im Gegenteil. Daniel hatte, mit seinem so überhaupt nicht schwuchteligen Auftreten, sein Weltbild über diese Spezies Mensch gehörig durcheinander gebracht und es machte ihn nur noch interessanter. Er war fasziniert von seiner ganzen Art, von seinem exotischen Aussehen mit der karamellfarbenen Haut und den braunen Augen und von der Coolness, mit der er durchs Leben ging.

Oliver öffnete die Augen und blinzelte in die Sonne, der sie entgegen flogen. Komischer Weise war er in den letzten Minuten immer ruhiger geworden. Daniel war hier, ganz in seiner Nähe und alle Versuche, ihn zu vergessen, hatten sich in einer Sekunde in Luft aufgelöst. Alle Bilder und alle Gefühle von damals waren wieder da und so deutlich wie nie zuvor. Sie drängten sich förmlich auf, krochen mit penetranter Hartnäckigkeit aus der hintersten Ecke von Olivers Seele und er schien machtlos dagegen zu sein. Er schmunzelte mitleidig über sich selbst, als er daran dachte, was für ein hoffnungsloses Häufchen Mensch er damals noch gewesen war. Ein Langweiler wie er im Buche steht, langweilige dunkelblonde Haare, langweilige hellblaue Augen, langweilige blasse Haut. Ein Streber mit einer ewig rutschenden Brille, die alle paar Minuten mit einem Schubs des rechten Zeigefingers wieder an die richtige Stelle gebracht werden musste und dessen Zeugnis zwar exzellente Noten aufzuweisen, aber der vom wirklichen Leben keine blasse Ahnung hatte. Er war damals noch immer ungeküsst, weil die Mädels in ihm eigentlich immer nur den verlässlichen Hausaufgabenlieferanten gesehen hatten und er vor lauter Lernen auch gar keine Zeit für sie gehabt hatte. Er musste nicht einmal die Augen schließen um das Gefühl zu haben, wieder dieser kleine unscheinbare Teenager zu sein, den keiner beachtete und bei dem es auch nicht aufgefallen wäre, wenn er am letzten Tag der gemeinsamen Schulzeit nicht dabei gewesen wäre. Aber gerade dieser Tag hatte sich wie ein Brandzeichen in sein Gedächtnis gefressen.

Es war schon dunkel, aber noch immer lag eine flirrende Hitze über dem See. 11 Glockenschläge von ganz weit her dokumentierten unmissverständlich, dass der Tag sich langsam aber sicher dem Ende näherte. Nicht irgendein Tag in diesem Frühsommer, der wieder einmal kein Regen gebracht hatte und an dem stattdessen der Planet Sonne die Erde rund um den See auf erbarmungslose 35 Grad aufgeheizt hatte. Kein Tag, an dem die Abschlussklasse des Adam-Ries-Gymnasiums wie immer lustlos hinter den großen Flügeltüren ihrer ehrwürdigen Schule verschwunden war. Es war Samstag und heut war Abiball. Ihr letzter gemeinsamer Tag in diesem Leben. Danach würden sie sich in alle Winde zerstreuen, würden Karriere machen oder auch nicht und würden sich vielleicht niemals wieder sehen.

Die Schule hatte wie jedes Jahr den zu einem Restaurant umgebauten und sicher am Ufer des Kranichsees vertäuten Ausflugsdampfer mit dem wunderschönen Namen „Seeperle“ gemietet, um der ganzen Veranstaltung einen würdevollen Rahmen zu geben. Keiner aus den beiden Abschlussklassen hatte das Ziel verfehlt und so ließ es sich Direktor Knoche auch nicht nehmen, jeden einzelnen noch einmal nach vorn zu bitten und zum erreichten Ergebnis zu beglückwünschen. Einer nach dem anderen wurde namentlich nach vorne gerufen.

„Daniel Sommer, Kathleen Munk, Kerstin Rumpf, Erik Lehmann und Michael Griesing.“, ertönte es durch den Saal und noch während der Aufzählung hatten sich die genannten Abiturienten auf der kleinen blumengeschmückten Bühne eingefunden.

Da stand er also, der Typ, den er so bewunderte, den er auf eine gewisse Art und Weise sogar schön und bezaubernd fand und den er beneidete, weil er trotz seiner Hautfarbe und trotz der Tatsache, dass er schwul war und auch noch dazu stand, immer und überall im Mittelpunkt zu stehen schien. Er war beliebt und akzeptiert und Jungs wie Mädchen scharrten sich um ihn, wie um einen 5 Liter Sangriaeimer. Unruhig war er schon den ganzen Abend auf seinem Stuhl umher gerutscht, in der Hoffnung, Daniel würde ihn irgendwann von allein bemerken, aber der schien regelrecht über ihn hinweg zu sehen. Traurig und mit zusammengekniffenen Lippen versuchte er damals trotzdem, die Bilder für die Ewigkeit zu speichern, denn morgen schon würde Daniel für ihn Geschichte sein.

Erfolglose Stunden später hatte er einfach genug. Er war überhaupt kein Freund von großen Besäufnissen und dem Mädel, dem es gelingen würde ihn auf die Tanzfläche zu zerren, würde er sogar einen Tapferkeitsorden verleihen. Ein letztes Mal noch wollte er dem Druck seiner Blase nachgeben und dann seinen Eltern nach Hause folgen, die schon lange gegangen waren. Wie unsichtbar schlängelte er sich durch die Massen zur Toilette und schon von weitem konnte er deutlich die lallende Stimme des größten Kotzbocken seines Jahrgangs ausmachen … Lars Gröger.

„Na Schokocrossie“, säuselte der, „jetze haste es ja doch noch jepackt … hick ….Ick wusste jar nich, dat man Abi brauch … hick … wenn man Schwulenpornos drehen will.“ Vorsichtig hatte er die Toilettentür geöffnet und war im Waschraum stehen geblieben, von dem aus er nur hören, aber nichts sehen konnte.

„Ey Gröger, geh mir bloß ausm Dunstkreis.“, antwortete nur Sekunden später eine andere, viel tiefere Stimme. „Daniel“, schoss ihm sofort durch den Kopf und er geriet in Panik.

„Ooouuh … die Lady is beleidigt. Du has wohl heute noch kein willischen Arsch jehabt, was?“, stichelte Gröger weiter, ohne auch nur annähernd zu merken, auf welch dünnes Eis er sich gerade begab. Aber Daniel war zu seinem großen Erstaunen immer noch unglaublich ruhig.

„Halts Maul, Alter, und verzieh dich endlich, sonst …..“, hörte er ihn lediglich mit deutlich warnender Stimme sagen.

„Sonst was?“, unterbrach ihn Gröger provozierend. „Willst misch wohl mit rosaroten Wattebällchen steinigen? Vor nem Typen, der mit Kerlen vöjelt, weil er bei nem süßen Girl keenen hoch kriegt, …… hick ….. muss isch keene Angst ham.“ Er stand noch immer im Waschraum und hielt sich erschrocken den Mund zu, um keinen Ton von sich zu geben, als es fürchterlich rumste und schepperte. Wie in Todesangst zitterte er und wagte nicht, zu atmen, denn diesem Gröger traute er eigentlich alles zu. Es wäre auch nicht das erste Mal gewesen, dass der seine Auseinandersetzungen mit roher Gewalt zu Ende brachte. Aber nur Sekunden später rannte Daniel an ihm vorbei. Wie ein Schatten und ohne sich umzusehen. Vorsichtig schielte er um die Ecke und sah einen aus Mund und Nase blutenden Lars Gröger zwischen den Urinalen hängen. Nicht im Traum dachte er daran, diesem Stück Dreck auch noch zu Hilfe zu kommen. Oft genug war er in den letzten Jahren selber Opfer dieses geistigen Tieffliegers geworden und er empfand es eher als späte Genugtuung, ihn da jetzt so hilflos liegen zu lassen.

Leise und so unauffällig wie sonst auch schlich er nach draußen. Er hatte im Ernstfall nichts gehört und nichts gesehen und wollte eigentlich nur noch eins … gucken, wie es Daniel ging. Es dauerte auch nicht lange, bis er ihn draußen am Strand, etwas weiter ab von der „Seeperle“ im Sand sitzen sah. Mit tierisch klopfendem Herzen schlich er sich heran, bis er nur noch knapp einen Meter von Daniel entfernt war.

„Captain, kann ich sie einen Moment aus den Gedanken reißen? Ich müsste mal zur Toilette.“, hörte Oliver die Stimme seines ersten Offiziers wie durch Watte an sein Ohr dringen und erschrak leicht. Er hatte gar nicht gemerkt, wie weit er bereits abgedriftet war, und kaum noch wahrnahm, was um ihn herum geschah.

„Ja, ja klar.“, murmelte er als Antwort und rieb sich mit beiden Handflächen über das Gesicht.

„Ist ihnen nicht gut Captain? Soll ich ihnen was zu trinken mitbringen?“ Der Copilot sah ihn besorgt an. Captain Besson war als Hardliner verschrien, aber das Bild, was sich ihm hier bot, war alles andere als das. Aber Oliver wollte keine Schwäche zeigen, keine Emotionen und auch sonst nichts. Er rief sich innerlich zur Ordnung, straffte seinen Körper und zog die Krawatte gerade.

„Hmm ja, eine Flasche Wasser und ein Glas wäre nicht schlecht.“, stimmte er zu. „Eigentlich sollte man für solche Sachen ja Stewardessen zur Verfügung haben, aber heutzutage wird es halt auch immer schwieriger gutes Personal zu finden.“, schob er sarkastisch und in einem spitzfindigen Ton hinterher. Er schaltete den Autopiloten wieder aus und zwang sich damit, nicht mehr an all das zu denken, was ihm noch vor zwei Minuten wie ein Film vorm inneren Auge abgelaufen war.

Daniel hingegen gab sich all dem hin. Er hatte sich seinen Papierkram geschnappt, sich auf die für das Bordpersonal zur Verfügung stehenden Plätze in der letzten Reihe zurückgezogen und seinen mp3-Player ins Ohr gestöpselt. Die nächsten zwei Stunden würde ihn keiner stören, denn die meisten Passagiere schliefen oder sahen sich einen Film an und das gelegentliche Getränke nachreichen würden seine vier Ladys alleine schaffen. Die ersten zwei Seiten des Flugprotokolls hatte er sogar noch halbwegs konzentriert bearbeitet, aber die Begegnung mit seiner Vergangenheit, die in Form von Oliver Besson im Cockpit dieses Flugzeuges saß, ließ seine Gedanken immer wieder abschweifen. Es war der Schreck seines Lebens gewesen, als sich dieser bornierte Kerl plötzlich umgedreht hatte, und ein einziger Blick in diese hellblauen Augen hatte genügt, um zu wissen, wen er da vor sich hatte. Oliver Besson, der Schrecken der Kranichflotte, war niemand anderes als der kleine verschreckte Oliver, der ihm damals an den Strand gefolgt war, kurz nach dem er diesem Hohlkörper Gröger eine reingewürgt hatte. Daniel schüttelte fast schon amüsiert den Kopf und die Erinnerungen an damals wurden auch bei ihm wieder lebendig.

„Kann ich mich zu dir setzen?“, fragte Olli fast unterwürfig, als er schon eine ganze Weile hinter mir rum gestanden hatte und sich selbst vermutlich erst mal gut zureden musste. Ich hatte dieses unscheinbare Wesen schon oft in meiner Nähe rum schleichen sehen, aber an diesem Abend schien er den Mut geradezu eimerweise zu sich genommen zu haben. Antworten war gar nicht mehr nötig, denn kaum hatte Olli gefragt, saß er auch schon neben mir und besah sich die vom Zuschlagen lädierte Hand

„Also gebrochen ist nichts.“, stellte er nach einer ganzen Weile fest und hörte trotzdem nicht auf, die Hand festzuhalten und immer wieder wie zum Trost mit dem Daumen über die gerötete Haut zu streichen. Irgendwann fragte ich ihn dann, warum er überhaupt hier raus gekommen war und sich Sorgen um meine Hand machte, und bekam als Reaktion nur ein verlegenes Lächeln. Oliver hatte schöne Augen, die er leider hinter einer Brille versteckte, die ihm weder passte, noch stand und seine schüchterne, fast ängstliche Art kitzelte irgendwie mein Ego. Er erzählte mir später dann von seinen Eltern, die zwar stinkend reich waren und beide tolle Jobs hatten, aber auch genauso wenig Zeit für ihn und auf meine Frage, was er denn so vorhatte nach dem Abi, erklärte er mir, dass er sich für ganz viele verschiedene Studiengänge beworben, aber noch nirgendwo eine Zusage bekommen hatte. Am Liebsten würde er Maschinenbau studieren oder Luft- und Raumfahrttechnik sagte er. Er war so verdammt ehrlich und offen, dass auch ich ihm irgendwann Dinge von mir erzählte. Von meiner allein erziehenden Mutter, die es nicht immer leicht mit mir hatte und meinem Vater, den ich nur vom Foto kannte. Aber etwas in mir sagte mir auch schon ziemlich schnell, dass ihn eigentlich etwas ganz anderes interessierte und ich wunderte mich schon nicht mehr wirklich, als er mich plötzlich aus heiterem Himmel fragte, wie es sich denn anfühlt einen Mann zu küssen. Er konnte mich nicht ansehen bei dieser Frage und scharrte stattdessen nervös mit einem Stöckchen im Sand herum.

„Willst du das wirklich wissen?“, provozierte ich ihn und wartete auf den Moment, wo er den Kopf heben und mir ins Gesicht sehen würde.

„Hmm“, kam dann auch nach einer halben Ewigkeit zusammen mit der Reaktion, die ich mir erhofft hatte. Ich wollte ihn nicht überrumpeln oder ausnutzen, aber wie sollte ich ihm erklären, wie es sich anfühlt? Vorsichtig zog ich ihm also die Brille von der Nase und beobachtete die fragenden Augen, in denen ich so vieles lesen konnte. Neugier, Angst, vielleicht sogar Panik, aber auf jeden Fall auch den Willen, sich auf alles einzulassen, was jetzt auf ihn zukäme. Unendlich behutsam streichelte ich ihm über die Wange, fühlte seinen explodierenden Puls unter meinen Fingerspitzen und rückte mit meinem Gesicht immer näher heran, bis nur noch ein Blatt Papier zwischen uns gepasst hätte.

„Du bist dir wirklich ganz sicher, dass du wissen willst, wie es sich anfühlt?“, murmelte ich direkt an seinen Lippen und hatte ihm so auf jeden Fall noch ein letztes Mal die Chance zur Umkehr gegeben, aber Olli schluckte nur und nickte leicht. Keinen Wimpernschlag später küsste ich ihn und obwohl Olli eigentlich nicht mein Typ war, ich ihn noch nicht einmal richtig kannte, war dieser Kuss anders als alle Küsse, die ich bis dahin bekommen hatte. Er war so unschuldig und verlegen, zurückhaltend und verletzlich und Oliver hatte Lippen, die weicher waren als alles, was ich kannte. Es war der Hammer, nur leider viel zu kurz. Aber Oliver schien es zu genügen.

„Ähm, also ich glaube, ich bin nicht schwul“, stammelte er jedenfalls kurz nachdem ich mich wieder von ihm entfernt hatte und irgendwie hatte ich auch nichts anderes von ihm erwartet. Es war nur ein einfacher Kuss. Nichts Weltbewegendes und für uns beide schien es in diesem Moment auch keine große Bedeutung zu haben.

Und doch fragte ich ihn nur wenige Augenblicke später, ob er am nächsten Tag mit mir an den See zum Schwimmen fahren würde. Etwas zögernd willigte er ein, was ich einfach mal darauf schob, dass er eine solche Frage wohl in den letzten Jahren nicht zu hören bekommen hatte.

Ich hatte auch ehrlich gesagt nicht damit gerechnet, dass er überhaupt kommen würde, aber irgendwie freute ich mich doch, als er zum verabredeten Zeitpunkt um die Ecke geradelt kam. Er war so anders als die Typen aus meinem Jahrgang und auch wenn er mit seinem Äußeren wohl nie auf der Titelseite der Men’s Health landen würde, hatte er doch zumindest eine unglaubliche innere Schönheit. Intelligent, neugierig, aufgeschlossen und liebenswürdig, aber auch schüchtern, oft sehr verlegen und unsicher. Oliver weckte, ohne dass ich oder er es wollte, meinen Beschützerinstinkt und kaum war er in meiner Nähe, hatte ich das dringende Bedürfnis, ihm alle seine Wünsche von den Augen abzulesen.

Den ganzen Nachmittag verbrachten wir an dem kleinen Waldsee, lachten viel, redeten über tausend Sachen und merkten gar nicht, wie sich ein mittelprächtiges Gewitter über uns zusammenbraute. Erst als die ersten Regentropfen auf unserer heißen Haut aufprallten, sprangen wir auf unsere Fahrräder.

Wir waren auch schon völlig durchgeweicht, als wir endlich am Haus meiner Großeltern ankamen und ich kann bis heut nicht mehr sagen, was mich geritten hat, Oliver einfach mit rein zu nehmen, statt mich von ihm zu verabschieden und ihn nach Hause fahren zu lassen. Er sah aus wie ein begossener Pudel und tat mir so leid, zumal MICH eine fürsorgliche Oma erwarten würde, die mir gleich einen heißen Tee machen und mir trockene Sachen hinlegen würde. Und IHN? Er würde die Haustür aufschließen und die Einsamkeit hätte ihn unweigerlich wieder.

Am Ärmel zog ich ihn also durchs Hoftor und schob ihn vor mir her nach drinnen. Ich wollte einfach nicht, dass er geht. Oma machte ihrer Zunft dann auch wirklich alle Ehre, stellte sofort ihren großen Milchtopf aufs Feuer, um uns Kakao zu machen und riet uns, ganz schnell eine heiße Dusche zu nehmen. Olli rückte immer wieder seine Brille nach oben; ein Zeichen, dass er bis in die Fingerspitzen angespannt war und die Situation ihn völlig überforderte. Tropfend stand er im Flur, sah mich mit seinen großen blauen Augen an und in diesem Moment fand ich ihn tatsächlich auch irgendwie niedlich.

„Magst du auch duschen gehen?“, fragte ich ihn, aber er winkte nur ab.

„Geh du zuerst“, ließ er mir den Vortritt und blieb unbeholfen in meinem Zimmer unterm Dach stehen, als ich ihm ein paar Sachen heraussuchte, die mir schon etwas eng waren und von denen ich dachte, dass sie Oliver auf jeden Fall passen würden.

Noch keine Minute stand ich jedoch unterm warmen Tropfenregen, als plötzlich die Badezimmertür aufging. Ich wischte mir das Wasser samt Schaum aus den Augen und sah blinzelnd durch die Scheibe der Duschkabinentür.

„Was geht denn jetzt ab?“, nuschelte ich noch zu mir selber, als ich Olli dabei beobachtete, wie er sich nach und nach die nassen Klamotten vom Leib zog, achtlos auf den Boden fallen ließ und sich irgendwie noch nicht sicher zu sein schien, was er als Nächstes tun wollte. Er besah sich sekundenlang sein Gesicht im Spiegel über dem Waschbecken, versuchte, in seinen eigenen Augen zu lesen, und sein ganzer Körper schien zu beben.

Daniel öffnete kurz die Augen, vergewisserte sich mit einem flüchtigen Blick über die Sitzreihen, dass seine Crew die Betreuung der Passagiere spielend bewältigte, lockerte seine Krawatte etwas und sah hinaus in die Wolkenberge, durch die sie gerade hindurch flogen. Sein Herzschlag hatte merklich zu rasen begonnen, seit dem die Bilder von damals wieder an ihm vorüber zogen und irgendwie ließen sie sich auch nicht mehr aufhalten. 10 Jahre waren seit dem vergangen, aber Daniel hatte das Gefühl, als wäre es erst gestern gewesen. Er spürte warmes Wasser auf seiner Haut und ohne, dass er es wollte, war er mit den Gedanken schon wieder weit weg in der Vergangenheit.

Vorsichtig schob Olli die Duschwand ein Stück auf, so dass ich durch den heißen Dampf gerade sein Gesicht sehen konnte.

„Kann …. kann ich mit dir duschen?“, nuschelte er verlegen und seine Augen schienen auf die Rasche die Anzahl der Fußbodenfliesen ermitteln zu wollen, so gebannt starrten sie Richtung Erdmittelpunkt.

„Na klar doch. Komm rein“, entgegnete ich im besten Plauderton, rutschte ein wenig zur Seite und hoffte inständig, ihm ein bisschen die Angst zu nehmen vor einer Situation, in die er sich ja höchst selbst hineinmanövriert hatte.

Ich verstand sein Tun ja selber nicht. Nach dem Kuss in der Nacht zuvor hatte er noch behauptet, nicht schwul zu sein, und doch hatte er mich den ganzen Tag mit Fragen gelöchert, die man eigentlich nur stellt, wenn man noch auf der Suche nach sich selbst ist. Wie ich es gemerkt hatte, dass ich auf Männer stehe, wollte er wissen und wie meine Umwelt darauf reagiert hatte. Wie ich es schaffen würde, so offen damit umzugehen, und ob ich denn überhaupt schon mal probiert hätte, wie es mit einem Mädchen ist. Viele kleine Dinge, die ich schon mit 16 für mich geklärt hatte. Und nun stand er vor mir. Nackt, wie Gott ihn geschaffen hatte, und furchtbar aufgeregt.

Olli war etwas kleiner als ich, vielleicht 10 cm, schmal und wenig muskulös und seine dunkelblonden Haare standen vom Regen in alle Richtungen ab. Ich wollte es nicht, aber dieser mit 18 Jahren immer noch so knabenhafte Körper machte mich irgendwie gnadenlos an. Wie ein verfluchtes Kaugummi klebte mein Blick auf ihm, tastete jeden Quadratzentimeter Haut ab und wollte die Bilder gerade für die Ewigkeit unter der Rubrik „Unantastbar“ speichern, als sich eine fremde blass-weiße Hand auf meinen Brustkorb legte. Der Kontrast war atemberaubend und ich hatte schon allein von dieser Berührung das Gefühl, als wenn mein Herz jeden Moment die Rippen durchbrechen und in der Duschkabine umherhüpfen würde.

„Öhm, Olli“, sprach ich mein Gegenüber etwas verwirrt an und deutete auf seine Hand auf meiner Haut. „Wolltest du mich jetzt etwa waschen?“ Olli sah zu mir nach oben, ohne ein Wort zu sagen, und die Farbe seiner Iris war nicht mehr hellblau wie ein beschwingter Sommerhimmel, sondern glich eher der Farbe des Meeres über dem Great Barrier Rief. Ganz langsam rutschte er auf mich zu und mit jedem Zentimeter schlich sich seine Hand von meinem Brustkorb weg in meinen Nacken. Der Abstand zwischen uns verringerte sich immer mehr, bis nicht einmal mehr Wassertropfen den Weg zwischen uns gefunden hätten. Ich spürte seinen rasenden Puls und das Zittern seines Körpers direkt auf meiner Haut, aber ich war außer Stande, ihn aufzuhalten. Es fühlte sich gut und auch irgendwie richtig an und egal, was Olli auch dazu bewogen hatte, das hier zu tun, ich wollte es in diesem Moment genauso wie er und nur noch genießen.

Behutsam schlang ich meine Arme um seine grazile Taille, streichelte beruhigend über seinen Rücken, bis er entspannt die Augen schloss und sich unsere Lippen zu einem zweiten sanften und irgendwie verspielten Kuss trafen. Und wie beim ersten Mal schien die Welt um uns herum still zu stehen, schien es Sterne zu regnen und sich ein Regenbogen um die ganze Erde zu ziehen.

Lautes Geklapper aus der Bordküche holte Daniel wieder zurück ins Hier und Jetzt. Er sah auf seine Uhr und dann auf den Monitor vor sich. Die arabische Halbinsel hatten sie schon hinter sich gelassen und damit knapp die Hälfte der Strecke. Träge erhob er sich aus seinem Sitz, streckte sich vorsichtig. Wenigstens das Mittagessen würde er mit servieren und seine Mädels damit etwas entlasten. Fast schon entschuldigend schaute er um die Ecke und beobachtete Kiky, die gerade dabei war, die Mahlzeiten für die erste Klasse in den Heißluftofen zu schieben.

„Schaffst du es allein oder kann ich dir noch irgendwie helfen?“, murmelte er verlegen, bevor er sich eine Flasche Wasser nahm und erst mal einen großen Schluck trank.

„Geht schon in Ordnung, Dan. Ich seh doch, dass du nicht mehr ganz bei der Sache bist, seit du dem Drachen da vorn sein Frühstück gebracht hast. Ist denn was passiert? Hat er dich irgendwie doof angemacht?“ Kikys Frage klang echt besorgt. Daniel war für sie, seit ihrer gemeinsamen Ausbildungszeit bei der Lufthansa, wie der große Bruder, den sie nie gehabt hatte. Sie teilten irgendwie ein gemeinsames Schicksal, denn auch ihr sah man auf den ersten Blick an, dass ein Elternteil nicht europäischer, sondern asiatischer Herkunft war und dieser Umstand hatte sie über die drei Jahre regelrecht zusammengeschweißt.

„Er hat es versucht, Kiky“, presste Daniel heraus, drehte sich um, klopfte mit der Faust leicht gegen den Vorratsschrank und lehnte dann seine Stirn darauf. Die ganze Situation war so abenteuerlich, dass er es selber kaum glauben konnte. „Er hat es versucht“, wiederholte er noch einmal und es klang so aufgeregt, als erlebte er diesen Schreckmoment noch einmal Sekunde für Sekunde, „bis er gemerkt hat, wer hinter ihm steht, und ich erkannt hab, WER da vorne sitzt.“ Kiky war überrascht.

„Hattest du nicht heute Morgen gesagt, du hast noch nie was von ihm gehört? Es klang zumindest so, Dan.“ Ein leises „Pling“ zeigte an, dass die ersten Menüs heiß genug waren und noch während Kiky auf eine Antwort von Daniel wartete schichtete sie die erhitzten Assietten wieder zurück auf die entsprechenden Tabletts im Trolley und schob die nächsten in den Ofen.

Daniel seufzte hörbar. „Das ist ne lange Geschichte, Kiky. Ich kenn die Hülle von dem Typen, der da sitzt, aber ich hab keine Ahnung, was er mit dem Oliver gemacht hat, den ich noch in Erinnerung hab. Wir sind zusammen zur Schule gegangen, weißt du, haben im selben Jahr Abi gemacht, aber er hieß damals noch nicht Besson. Deshalb hab ich ihn nicht am Namen erkannt.“ Verzweifelt schüttelte der Schwarzhaarige den Kopf. „Aber ich weiß nicht, was mit ihm passiert ist, Kiky. So, wie er sich da vorne aufführt, ist er nicht, glaub mir. Der Oliver, den ich kenne, ist lieb und höflich und eher ängstlich als aufbrausend. Ich versteh es einfach nicht.“

„Hmm“, murmelte Kiky und wusste nicht wirklich, was sie darauf antworten sollte. „Ich geh dann mal eben Mittagessen servieren. Hilfst du mir mit den Getränken?“, versuchte sie Dan ein wenig von seinen Problemen abzulenken, als der kleine Lautsprecher in der Bordküche leicht zu schnarren anfing.

„Also, wer auch immer sich da grad in der Küche rumdrückt …“, meldete sich Captain Besson in einer ätzenden Tonlage aus dem Cockpit. „Mein erster Offizier und ich hätten auch gern irgendwann mal was zum Mittag und ich wäre ihnen sehr verbunden, wenn ich Ihnen nicht noch eine extra Einladung dafür schicken muss. Ende.“ Der Lautsprecher war wieder stumm und nicht nur Daniel starrte ihn an, als könne er nicht glauben, was er gerade daraus gehört hatte.

„Soviel zum Thema: Oliver, wie du ihn nennst, ist in Wirklichkeit lieb und höflich und ängstlich. Er ist ein Ekel, Dan“, resümierte Kiky leise, „und nun komm endlich, sonst ist das Essen wieder kalt, bevor wir es an den Mann und die Frau gebracht haben.“ Wie in Trance zog Daniel den Getränketrolley aus der Halterung und schob ihn vor sich her den Gang in der ersten Klasse entlang. Das alles war für ihn einfach zu hoch.

Normalerweise kam nun immer sein großer Auftritt, denn gerade wenn man jeden Fluggast direkt am Sitz nach seinen Wünschen fragt und sofort bedient, entwickelt sich für ein paar Minuten eine doch sehr persönliche Beziehung. Man plaudert, flirtet, wenn es sich anbietet, beantwortet Fragen und hört sich die Geschichten der Menschen an, die das Schicksal für ein paar Stunden in dieser engen Flugzeugröhre zusammengeführt hat. Daniel liebte dieses Wechselspiel und gerade auf Linien, auf denen er öfter unterwegs war, kannten ihn dann auch schon die Passagiere, begrüßten ihn mit Handschlag wie einen alten Vertrauten und freuten sich, wenn er auch ihren Namen im Gedächtnis behalten hatte. Aber heut war alles anders und Daniel hatte Mühe, sich zu konzentrieren. In wenigen Augenblicken würde er das Mittagessen ins Cockpit bringen müssen und er hatte keine Ahnung, wie er sich Olli gegenüber verhalten sollte.

Völlig geistesabwesend bestückte er dann auch die Tabletts und schob die beiden verschiedenen Menüs in den Ofen. Nicht nur bei der Lufthansa war es Vorschrift, dass die beiden Piloten niemals dasselbe Essen bekommen dürfen, um im Falle einer Lebensmittelvergiftung wenigstens nicht ganz außer Gefecht zu sein und führerlos durch die Luft zu segeln. Nicht einmal die Nachspeise durfte identisch sein und so entschied sich Daniel für einen Vanillequark auf das Tablett des ersten Offiziers und ein Schälchen frische Süßkirschen für Oliver. Wieder meldete sich der Ofen mit einem leisen „Pling“ und immer noch verunsichert machte sich Dan auf den Weg ins Cockpit. Gerade als er jedoch die Hand hob und anklopfen wollte, öffnete sich die Tür und der erste Offizier drängelte sich an ihm vorbei.

„Ich muss erst mal was wegbringen, bevor ich wieder was reinstopfen kann“, lächelte er entschuldigend und hielt Daniel die Tür auf. „Aber Sie können es gern schon mal abstellen. Ich bin ja gleich wieder da.“ Die Tür fiel hinter ihm wieder ins Schloss und Daniels Herz raste wie ein Turbo. Zitternd stellte er das eine Tablett auf die kleine Ablage neben dem Copilotensitz und reichte Oliver das andere.

„Ihr Essen, Captain Besson“, sprach er ihn dabei an, ohne zunächst die geringste Reaktion zu bekommen. Captain Besson sah einfach geradeaus und fixierte einen imaginären Punkt in der Unendlichkeit des Himmels vor ihm.

„Nehmen Sie mir bitte das Tablett ab, Captain?“, versuchte es Daniel erneut und trat noch einen Schritt näher an den Sitz heran, so dass er die aufgeregte Wärme spüren konnte, die von dem dunkelblonden Piloten ausging.

„Du hast mich mal Olli genannt, Daniel. Es ist schon ’ne Ewigkeit her, ich weiß, aber ……. es tut mir leid.“ Verstört drehte Oliver sich um, griff nach dem Tablett und ein Anflug von Nervosität huschte über sein Gesicht. Schnell genug, damit Daniel es noch sehen konnte, bevor sich Olli wieder zurückdrehte. Der Chefsteward schluckte und alles in ihm schien sich bei diesem Anblick von innen nach außen zu krempeln. Oliver Besson hatte ihn ganz kurz hinter die Kulissen sehen lassen, hatte ihm gezeigt, dass er immer noch da war, immer noch der Oliver von damals.

„Was tut dir leid, Olli?“, flüsterte er so leise und behutsam wie er konnte. „Tut es dir leid, was damals mit uns beiden passiert ist, oder tut es dir leid, dass wir uns hier wieder getroffen haben und ich erleben muss, was aus dir geworden ist?“ Oliver schluckte und kramte in seiner Hosentasche nach einem Taschentuch.

„Ich … wir … das ist nicht so einfach, Dan“, kroch es trocken und fast erstickt über seine Lippen. „Lass uns heut Abend drüber reden okay?“ Mit fragendem Blick sah er Daniel ins Gesicht, als hinter dem die Tür wieder aufging und der Copilot das Cockpit betrat. Aber noch bevor Daniel irgendetwas antworten konnte, spielte sich vor seinen Augen eine unglaubliche Verwandlung ab. Oliver wuchs in seinem Sitz gleich um mehrere Zentimeter, als er seine ganze Haltung straffte und eine gewisse Kälte und Arroganz kehrte in sein Gesicht zurück.

„Ich brauch Sie dann nicht mehr, Herr Sommer“, ließ er Daniel noch kurz wissen und schob ein frostiges: „Sie können dann wieder an ihre Arbeit zurückgehen“, hinterher. Daniel drehte sich um und fühlte sich als wäre er gerade in einen Kübel Eiswürfel gesprungen. Fassungslos legte er die Hand auf die Türklinke, als Oliver sich noch einmal zu ihm umdrehte. „Ach, Herr Sommer … was ich noch sagen wollte: Danke, dass Sie mir die Kirschen zugedacht haben. Das weckt irgendwie alte Erinnerungen an einen ausgelassenen und sehr schönen Tag vor langer Zeit.“ Daniels Verwirrung nahm immer mehr zu. Er hatte die Kirschen eher unbewusst auf das Tablett gestellt, aber Olli dachte dabei wohl mehr an ihre gemeinsame Kirschpflückschlacht im Garten seiner Oma, an deren Ende sie beide völlig verdreckt und verklebt in dem kleinen Baumhaus gelandet waren.

Captain Besson jedenfalls ließ sich, kaum dass Daniel gegangen war, erschöpft in den Sitz fallen und stocherte lustlos im Essen herum. Seine ganze über Jahre mühsam aufgebaute Fassade war in Gegenwart von Daniel keinen Pfifferling mehr wert. In seiner Nähe wollte sein Körper einfach wieder schwach sein, sich in seine Arme kuscheln und sich von ihm beruhigend in den Schlaf streicheln lassen. Oliver hasste sich schon wieder dafür, hasste seinen Körper, der so unmissverständlich auf Daniel reagierte und den er nur mit Mühe wieder unter Kontrolle brachte. Und er hasste sich für das Angebot eines klärenden Gesprächs heute Abend.

Eine halbe Stunde später bat Daniel Kiky mit den Worten: „Ich werd blöde, wenn ich da jetzt noch mal rein muss“, das benutzte Geschirr aus dem Cockpit abzuholen und Kiky tat ihm den Gefallen, auch wenn sie nicht wirklich nachvollziehen konnte, warum ausgerechnet Daniel, der sonst vor Selbstbewusstsein nur so strotzte, jetzt den Kopf einzog. Daniel hatte sich auch schon wieder in seine Büroecke zurückgezogen, als Kiky zurückkam und sich auf den Sitz neben ihn fallen ließ.

„Ihr habt euch mal sehr geliebt, stimmt’s?“, murmelte sie, ohne ihn anzusehen. Daniels Kopf flog herum und seine Augen verengten sich zu Schlitzen.

„Wie kommst du darauf? So war es nicht“, fuhr er Kiky ertappt an. Die dunkelhaarige Schönheit drehte sich mit dem ganzen Körper zu ihm um und schob eins ihrer Beine auf die Sitzfläche.

„Ach so? Wie war es denn dann?“, fragte sie trotzig und verschränkte die Arme vor der Brust. „Der enttäuschte Blick von Captain Besson jedenfalls hat Bände gesprochen, als ich vor ihm stand und sein Tablett wieder haben wollte und nicht du, und da konnte auch seine wie immer ruppige Art nicht drüber weg täuschen, Daniel.“

„Er ist nicht schwul Kiky“, protestierte Dan. „Er war es nie und er wird es auch nie sein. Er wollte damals einfach ein bisschen rumprobieren, wollte vielleicht einfach nur wissen, wie es ist mit einem Kerl, oder weiß der Geier, warum wir uns aufeinander eingelassen haben. Keine Ahnung, aber ich bin mir ziemlich sicher, dass da von seiner Seite kein Gefühl im Spiel war.“ Kiky ließ die Arme wieder sinken und legte eine Hand vertrauensvoll auf Daniels Oberschenkel.

„Und du? War er für dich auch nur ein Spielzeug?“ Daniel schüttelte resignierend den Kopf und vergrub sein Gesicht in seinen großen Händen.

„Ein Spielzeug war er nie, aber ich kann auch nicht sagen, dass ich damals in ihn verliebt war. Weißt du, was ich meine? Ich hatte, zumindest am Anfang, nie Schmetterlinge im Bauch, wenn er da war, aber ich hab ihn schrecklich vermisst, wenn er es nicht war. Er war nicht der Traumprinz, bei dem einem das Wasser im Mund zusammen läuft und man gleich zu sabbern anfängt, wenn er irgendwo auftaucht, aber in seiner Nähe hab ich mich irgendwie zu Hause gefühlt, mit ihm konnte ich reden und lachen und einfach nur ich sein.“ Daniel atmete geräuschvoll ein und wieder aus und sah Kiky ins Gesicht.

„Ich hab ihn geliebt, aber das hab ich leider erst gemerkt, als wir uns längst für immer und ewig voneinander verabschiedet hatten, weil mein Weg nach Frankfurt und seiner nach Bremen führte.“

„Und was ist bei dir noch da von dem Gefühl?“, ließ Kiky nicht locker. Die Freunde sahen sich sekundenlang in die Augen und Dan wusste genau, dass er Kiky alles sagen und alles anvertrauen konnte, ja sogar musste, denn sie würde es ihm ohnehin an der Nasenspitze ansehen, wenn er ihr etwas verheimlichte. Aber was sollte er ihr sagen?

„Ich weiß nicht, Kleine“, zuckte er ratlos mit den Schultern. „Im Moment fühl ich mich irgendwie vollkommen leer und wie betäubt und wenn ich nicht schon vor sechs Jahren aufgehört hätte mit Rauchen, dann würde ich dich jetzt um ’ne Kippe anschnorren. Ich weiß nicht, was ich denken soll, Kiky, und ich weiß nicht, was ich tun soll. Du hättest ihn vorhin erleben müssen, als ich ihm das Mittagessen gebracht hab. Er hat mich doch tatsächlich gebeten, ihn wieder so zu nennen, wie ich es früher immer getan hab, als der Schneidewind kurz raus zur Toilette war, hat mich geduzt, hat sich für irgendwas entschuldigt und mir ein Gespräch heut Abend angeboten und für ’nen kurzen Moment hatte ich echt den Eindruck, zwischen uns ist alles wieder wie damals.“ Daniel schüttelte noch immer fassungslos den Kopf.

„Und kaum war der Copilot wieder da, war der Zauber vorbei. Richtig?“, kam es ergänzend von der braunäugigen Stewardess. Der dunkelhaarige Chefsteward schnaubte verächtlich.

„Du kennst ihn offensichtlich besser als ich. Mir ist es jedenfalls ein Rätsel, warum er so eine Show abzieht. Wir waren doch mal Freunde, verdammt, wenn auch auf ne ganz bizarre Art.“ Kiky lächelte sanft, griff nach Daniels Hand und drückte sie leicht.

„Vielleicht kannst du es jetzt noch nicht verstehen, Schatz, aber versuch, dich einfach mal in seine Lage zu versetzen. Er hat ein Gesicht zu verlieren, einen Ruf als arroganter Mistkerl und Schwulenhasser und ich wette darauf, dass er im Augenblick noch viel verzweifelter ist als du, weil er noch viel weniger weiß, wie er mit der Situation umgehen soll.“ Langsam schälte sie sich mit den letzten Worten aus dem Sitz, strich sich ihren Rock glatt und befestigte eine vorwitzige pechschwarze Strähne ihrer langen Haare, die sich aus der Verankerung gelöst hatte, erneut dicht am Kopf. „Du hast zwar gesagt, dass von seiner Seite aus nie Gefühl im Spiel war“, flüsterte sie schon halb im Gehen, „aber es gibt da ein schönes asiatisches Sprichwort: Manchmal hasst man den, den man liebt, denn er ist der Einzige, der einem wirklich weh tun kann!“

„Du immer mit deinen Weisheiten aus dem Morgenland“, schmunzelte Daniel, allerdings… Versonnen sah er aus dem Fenster und betrachtete das tiefe Blau des Indischen Ozeans, das sich unter ihnen wie ein Teppich ausbreitete. „Was wäre, wenn diese Schlitzaugen, die sich diesen Spruch ausgedacht hatten, gar nicht mal so falsch lagen? Was wäre, wenn ich Olli damals völlig falsch eingeschätzt habe und was wäre, wenn sich meine längst verdrängten Gefühle für ihn wieder einstellen?“, überlegte er ernsthaft, schob aber nur eine halbe Minute später all diese Gedanken unwirsch beiseite. Für Oliver war er nie mehr als ein oberflächlicher Kumpel gewesen, davon war er überzeugt. Sie hatten einen Sommer lang ihren Spaß miteinander gehabt und Olli hatte auch keinen Wert darauf gelegt, die ganze Sache noch zu vertiefen und über Kilometer hinweg aufrecht zu erhalten.

Daniel erhob sich und versuchte, sich frei zu machen von all den Gedanken, die seit Stunden nur noch um den Piloten da vorn im Cockpit kreisten. Olli hatte ihn erkannt und wahrgenommen, aber das war es auch schon und auch wenn er sich jetzt noch so sehr sein Hirn zermarterte, würde sich daran nichts ändern. Langsam schlenderte er den Gang entlang in Richtung Küche, sprach hier und da ein Wort mit den Passagieren, denen man den langen Flug inzwischen auch physisch ansah und denen es immer schwerer viel, gemütlich auf ihren Sitzen zu kleben und sich vom Bordprogramm berieseln zu lassen. Egal wie schön Singapur auch war, aber fast 12 Stunden Flug und sechs Stunden Zeitverschiebung gingen einfach an die Substanz und da halfen auch die kleinen „Ablenkungsmanöver“ der Crew in Form von diversen Mahlzeiten nicht mehr.

Aber irgendwann geht auch der längste Flug mal zu Ende und mindestens genauso erschlagen wie die Passagiere verließen Daniel und seine Mädels und auch die Cockpitbesatzung kurz vor 23 Uhr Ortszeit den Flieger. Wie immer würden sie die Nacht im Le Meridien Changi Hotel verbringen, das einige Kilometer vom Flughafen entfernt war, aber einen eigenen Shuttlebus für den Transfer bereit hielt. Das Le Meridien hatte zwar vier Sterne und wirklich alles, was man für einen angenehmen Urlaub brauchte und lag noch dazu genau im Stadtzentrum, aber den sieben Deutschen, die ja ohnehin nur eine Nacht lang bleiben würden, war nach so einer langen Strecke nicht mehr wirklich danach, das Nachtleben von Singapur kennen zu lernen. Müde zogen sie alle ihre Koffer hinter sich her durch die laue Tropennacht und nicht einmal Captain Besson hatte noch Kraft für irgendwelche bissigen Bemerkungen. Er redete ohnehin kaum ein erwähnenswertes Wort mit der Crew, blieb sogar etwas abseits stehen, als sich die ganze Truppe, trotz der Strapazen der letzten Stunden fröhlich schwatzend, um den Hoteltresen versammelte und die Check-In-Papiere ausfüllte. Hätte er nicht die gleiche Uniform der Lufthansa angehabt, wäre es nicht einmal aufgefallen, dass er überhaupt dazu gehörte. Nur hin und wieder schickte Daniel einen verstohlenen Blick zu ihm, ohne dass Olli auch nur irgendwie darauf reagierte. Es tat weh, so ignoriert zu werden, aber für Dan brachte es mit der Enttäuschung auch den erhofften Abstand zurück.

„Treffen wir uns in einer halben Stunde im Restaurant?“ Fragend sah der Chefsteward in die kleine Runde, bevor sie den Fahrstuhl verließen und sich auf ihre Zimmer verteilten, und erhielt ein allgemeines zustimmendes Gemurmel zurück. Das Essen im Flieger war zwar sicherlich sättigend, aber in aller Regel gingen die Besatzungen, wenn sie die Nacht im Ausland verbringen mussten, immer noch irgendwo gemütlich etwas essen, quatschten und ließen den Tag ausklingen, der oftmals so voll gestopft war mit Erlebnissen, dass man nicht einfach so ins Bett springen und die Augen schließen konnte. Daniel jedenfalls konnte das nicht und er war froh, als er nicht nur seine Mädels gleich erblickte, als er nach 45 Minuten frisch geduscht und in zivil das Hotelrestaurant betrat, sondern auch den ersten Offizier. Mit Sebastian Schneidewind war er schon ein paar Mal geflogen, allerdings waren sie bislang über das „Sie“ nicht hinausgekommen, obwohl der Copilot vermutlich wenigstens drei bis vier Jahre jünger war als er selber.

„Na, Ladys“, rieb sich Daniel in freudiger Erwartung die Hände, als er an den Tisch herantrat. „Wie ich sehe, bin ich mal wieder Bummelletzter, aber ich hoffe doch stark, dass ihr mir noch was Leckeres übrig gelassen habt.“ Mit langen Schritten steuerte er das Buffet an und lud sich ohne großes Zögern ein paar kleine Schüsseln mit allerlei exotischen Köstlichkeiten voll.

„Sie sind ja mutig!“, bemerkte der erste Offizier auch sofort, als er einen Blick auf Daniels Tablett warf, mit dem er zurück an den Tisch kam. Der Chefsteward schmunzelte. Es gab doch immer wieder Kollegen, die seine Vorliebe für fremde Essgewohnheiten nicht kannten und staunten, mit welcher Selbstverständlichkeit er die außergewöhnlichsten Leckereien verspeiste.

„Zuerst mal heiß ich Daniel“, grinste der Dunkelhäutige freundlich und reichte Sebastian Schneidewind die Hand. „Das wollt ich schon lange machen und wenn wir nun schon zusammen am Tisch sitzen und uns alle duzen, biete ich Ihnen jetzt einfach auch mal das Du an, und was den Mut angeht …“ Dan hob mit zwei Fingern eine dunkelgrüne Okraschote an und ließ sie sich, während er wieder Platz nahm, genüsslich in den Mund gleiten. „Mit Mut hat das nicht viel zu tun Sebastian“, klärte er den fasziniert zusehenden Copiloten weiter auf. „Man muss nur ein paar Grundregeln für jedes Land kennen und vielleicht ein klein wenig toleranter und aufgeschlossener sein, als ein normaler deutscher Tourist es ist, und dann erschließt sich einem echt ’ne andere Welt“ Daniel breitete eine große Serviette aus, stopfte sich einen Zipfel davon gelassen in den Ausschnitt und unter seinen Mädels am Tisch brach bei diesem Anblick schon leichtes Gelächter aus.

„Was ist?“, hob er halb amüsiert und halb strafend die Augenbrauen.

„Du siehst mal wieder aus, als wenn du gleich nen gegrillten Elefanten serviert bekommen würdest und zwar am Stück“, giggelte Sarah belustigt, aber Dan ließ sich von den Lästereien der Stewardessen nicht aus der Ruhe bringen und wandte sich nun wieder Sebastian zu.

„Hör nicht auf die Weiber! Die haben ja keine Ahnung“, erklärte er. „Wenn du das hier essen willst“, deutete er mit dem Finger auf die größere Schüssel vor sich, „dann musst du einfach vorbereitet sein. Das Zeug heißt Laksa und soweit ich weiß, gibt es verschiedene Rezepte für dieses Gericht, malaysische und singapuresische Varianten und so. Man nimmt sich eine Schüssel, so wie ich das vorhin getan hab, packt aus dem Büffet das rein, was einem gefällt, also Gemüse, Eier, Krabbenfleisch usw., was einem schmeckt halt, und lässt dann den Koch Nudeln und diese Suppe aufgießen. Da ist unglaublich viel Kokosmilch drin, aber ich liebe dieses Zeug, auch wenn man immer Gefahr läuft, dass man sich davon ganz schnell mal Montezumas Rache aufhalst, weil sie so schnell verdirbt. Außerdem“, Daniel angelte mit Löffel und Gabel in der Schüssel herum, „sollte man es nicht essen, wenn man etwas Helles trägt, denn das Zeug spritzt schlimmer als Spaghetti oder man bindet sich eben einen überdimensionalen Latz um.“ Er deutete auf die Serviette vor seinem Bauch und die Spritzer, die sich darauf bereits befanden. „Siehst du? Das hätte ich jetzt alles auf meinem Hemd.“

„Und was ist das hier?“, fragte Sebastian neugierig weiter und wies mit dem Zeigefinger auf einen Teller mit lauter kleinen Holzspießen.

„Das ist Satay. Genauer gesagt welche mit Hühnerfleisch. Magst du mal einen kosten?“ Daniel war wieder mal in seinem Element. Anderen Menschen die Welt erklären lag ihm einfach im Blut und er machte da auch keinen Unterschied, ob es ein Passagier oder wie in diesem Falle ein erster Offizier der Lufthansa war. Sebastian nahm sich einen Spieß und tunkte ihn vorsichtig in die Erdnusssoße, die direkt daneben stand.

„Keine Angst. Das ist nicht scharf. Höchstens ein bisschen würzig“, beruhigte ihn Dan, der die Unsicherheit bemerkte, leise kichernd.

„Schmeckt lecker irgendwie“, schnappte Sebastian nach Luft und öffnete den Mund sperrangelweit, als wenn gleich eine Stichflamme daraus emporschießen würde. „Aber wo ist der Unterschied zwischen scharf und würzig? Ich merk da keinen.“ Dan lachte jetzt aus vollem Halse und schob dem Copiloten eine kleine Schüssel mit Curry hin.

„Den Unterschied würdest du spätestens merken, wenn du davon kostest. Also wenn dir ein Singapurese sagt, etwas sei “spicy”, dann heißt das nicht würzig, sondern es ist richtig scharf. Der Begriff “hot” ist reserviert für Speisen, die das gemeine europäische Weichei Feuer speien lassen. Lass dir das gesagt sein von jemandem, der gern scharf isst.“

„Gibt es überhaupt irgendetwas hier, was du nicht schon mal probiert hast?“, wollte Sebastian nun wissen und fächelte sich noch immer Luft zu. Dan grübelte kurz, während er sich über das Curry „very hot“ hermachte. Er hatte schon alles mögliche gekostet und sogar schon an Hühnerfüßen geknabbert und geröstete Heuschrecken geknuspert, aber etwas gab es, das er sicher nie wieder essen würde.

„Es gibt hier eine Frucht, die heißt Durian und sieht aus wie eine überdimensionale Melone mit einer schuppigen Haut und die stinkt selbst im ungeöffneten Zustand mehrere hundert Meter gegen den Wind. In Singapur ist es deshalb sogar verboten, dieses Ding in der U-Bahn zu transportieren. Manche Singapuresen lieben sie, manche hassen sie und ich rühr sie nie wieder an, das schwör ich bei allem, was mir heilig ist, denn sie schmeckt so, wie sie riecht, nämlich nach Erdgas mit einer Prise Terpentin.“ Daniel schüttelte sich bei dem Gedanken an diesen Fehlgriff, den er wohl sein Leben lang nicht vergessen würde.

Eigentlich war er inzwischen auch schon ziemlich satt, aber sein Lieblingsnachtisch würde immer noch reinpassen, entschied er spontan, als auch das letzte Reiskorn in seinem Magen gelandet war. Der Abend war bis jetzt sehr entspannt verlaufen und irgendwie hatte er Ollis Anwesenheit hier im Hotel auch gekonnt verdrängt. Als er jedoch mit einer großen Schale Red Rubies, einer Art Wassereisraspeln garniert mit roten Wasserkastanien und übergossen mit einer großen Menge Kokosmilch, vom Buffet zurück kam, ging gerade die Tür vom Restaurant auf und Olli kam herein. Er musterte Dan von oben bis unten und ließ seinen Blick verächtlich über den Tisch mit den Kollegen streifen, um sich dann demonstrativ ans andere Ende des Restaurants an die Bar zu setzen. Für Daniel war dieser Moment wie ein Stich ins Herz. Oliver machte nicht den Eindruck, als könnte er sich auch nur dunkel an sein eigenes Angebot eines Gespräches erinnern. Ganz im Gegenteil. Er vermied jeden Augenkontakt und jede Regung in seinem Gesicht, die darauf hinweisen könnte, wie es tief in ihm aussah. Daniel überlegte fieberhaft und noch bevor er sich wieder auf seinem Stuhl niederließ, wechselte er ein paar schnelle Blicke mit Kiky, die ihm ohne Worte Mut machte, von sich aus auf Captain Besson zuzugehen. Daniel sah noch einen Atemzug lang etwas schwankend und mit sich ringend in die Runde, aber irgendwie schien sich zumindest seine Zunge längst entschieden zu haben.

„Ich hoffe ihr entschuldigt mich kurz“, hörte er sich selber sagen und wusste, dass es nun kein Zurück mehr gab. „Da gibt es noch eine Kleinigkeit, die ich mit dem Captain zu klären hab. Wartet nicht auf mich. Ich weiß nicht, wie lang es dauert, also sag ich schon mal gute Nacht.“ Er klopfte mit der Faust leicht auf den Tisch und umklammerte mit der Linken die Schale mit den Red Rubies. Die Augen, die ihm dann auf dem Weg durchs Restaurant erstaunt hinterher sahen, brannten Löcher in sein Hemd und noch nie in seinem Leben hatte er sich so unwohl und beobachtet gefühlt. Selbst die Führerscheinprüfung vor vielen Jahren war dagegen ein Spaziergang gewesen. Wie verrückt trommelte sein Herz in seinem Brustkorb herum und seine Haut schien vor Nervosität zu vibrieren. Olli hatte noch nicht bemerkt, dass Daniel auf dem direkten Weg zu ihm war und tat das auch nicht, bis der braunäugige Stewart direkt neben ihm stand. Er erschrak leicht, als sich plötzlich eine Hand auf seine Schulter legte, obwohl er sich schon fast denken konnte, dass es Daniel war, denn zu dieser nachtschlafenden Zeit waren kaum noch Gäste im Restaurant und schon gar keine, die ihm schon mit einer sanften Berührung derart viel Adrenalin durch den Körper schicken konnten. So was konnte nur Daniel Sommer.

„Kann ich mich kurz zu dir setzen?“, kam es dann auch prompt und kaum hatte Oliver zögernd genickt, verschwand auch schon die Hand von seiner Schulter und zog den Barhocker neben sich zu Recht.

„Warum bist du nicht zu uns an den Tisch gekommen?“, war auch gleich Dans erste Frage, als er seine Unterarme auf den Tresen gelegt hatte und versuchte, möglichst gelassen sein Eis zu schlabbern, das sich inzwischen immer mehr verflüssigte. Oliver nippte kurz an dem sündhaft teuren Whiskey und wagte es kaum, seinen Kopf zu drehen, vor lauter Angst, wieder in diese schokoladenbraunen Augen zu sehen, die ihn heute Morgen schon so aus der Bahn geworfen hatten.

„Ich wollte eure vertraute Runde nicht stören“, wich er einsilbig und eher abweisend aus.

„Das ist eine Antwort, aber keine Begründung, Oliver. Du weichst mir aus und dabei wollte ich nur mit dir reden“, ließ Dan nicht locker. „Schließlich haben wir uns knapp zehn Jahre nicht gesehen. Du wirst ja nicht im luftleeren Raum gelebt haben die ganze Zeit.“ Oliver schnaufte missmutig und setzte wieder das Glas an die Lippen.

„Dann sag, was du wissen willst?“

„Man, Olli, nun mach es uns doch nicht so schwer und komm mir nicht mit „Mein Haus, mein Auto und mein Pferd“, denn das interessiert mich gar nicht. Erzähl einfach ein bisschen von dir.“ Dan hatte inzwischen seinen Eisbecher ausgelöffelt, dem Barkeeper hingeschoben und gegen einen Singapur Sling getauscht. Dieser klassische Cocktail mit wenig Alkohol, der irgendwann Anfang des 20. Jahrhunderts in einem Hotel ganz hier in der Nähe erfunden worden war und den schon Charly Chaplin eifrig geschlürft haben soll, schmeckte ihm in so einer warmen Nacht einfach besser als purer Whiskey, so wie Olli in trank.

„Da gibt es nicht viel zu erzählen, Dan. Mein Leben ist so interessant und spannend wie das einer Weinbergschnecke.“ Der Blick des Piloten in sein Glas wurde immer resignierender, je mehr er die Präsenz von Dan neben sich spürte. Sein altes Leben, seine Kindheit und Jugend war gerade dabei, ihn einzuholen und außer einem inneren Widerstand hatte er dem nicht allzu viel entgegenzusetzen. Er fühlte nur zu deutlich Daniels Augen, die unaufhörlich sein Profil musterten. Die einzigen Augen, die in der Lage sein würden, hinter die Fassade zu sehen, und gegen die er sich so unglaublich wehrlos fühlte. „Und was ist mit dir?“, ging er daher in die Offensive. „Wie kommst du denn überhaupt zur Lufthansa, sag mal? Wolltest du nicht irgendwas im Hotelfach studieren?“

„Tja“, grinste Daniel, „wie das Leben halt so spielt. Ich hatte ja damals in Frankfurt angefangen, Hotelkaufmann zu lernen, weil ich ne solide Grundlage fürs Studium wollte, aber dann hab ich mich unglücklich in ’nen Typen aus meinem Lehrjahr verliebt und irgendwie hat mich das total ausgehebelt. Na jedenfalls hab ich die Lehre dann nach anderthalb Jahren geschmissen und die Ausbildung bei der Lufthansa angefangen. Irgendwie war ich wie auf der Flucht und Steward schien mir ein geeigneter Beruf, um all meine Ambitionen unter einen Hut zu bringen. Ich scheine ja auch alles richtig gemacht zu haben, denn die haben mich dann gleich nach der Ausbildung übernommen und vor drei Jahren bin ich dann zum Maître de Cabine aufgestiegen.“

„Aha. Und sonst?“, fragte Olli nach und versuchte dabei möglichst gelangweilt zu klingen. Um keinen Preis in der Welt wollte er Dan zeigen, wie sehr ihn die Neugier plagte, seit sie sich wieder in die Augen gesehen hatten.

„Wie .. und sonst? Du meinst mein Liebesleben?“ Der dunkelblonde Pilot starrte wieder wie gebannt in sein Glas, nickte nur leicht und hoffte inständig darauf, dass Daniel ihm jetzt nicht erzählte, dass er seit vielen Jahren in einer glücklichen Beziehung war. Auch wenn er es sich noch immer nicht eingestehen konnte, aber das war definitiv das Letzte, was er hören wollte. Aber Daniel konnte ihn, ohne es zu wissen, zutiefst beruhigen und freute sich insgeheim sogar über diese Frage.

„Ich konnte nicht, Olli, auch wenn das jetzt irgendwie völlig blöde klingt. Es gab da die eine oder andere Affäre, die manchmal sogar ein paar Wochen oder Monate überdauert hat, aber es gibt nur einen Menschen auf der Welt, bei dem ich bereit gewesen wäre, mich ganz und gar auf ihn einzulassen, den ich sogar richtig geliebt hab, glaub ich jedenfalls. Aber auf jeden Fall hat er mir sehr viel bedeutet. Ich hab’s nur leider viel zu spät erst gemerkt und da gab’s schon kein Zurück mehr. Außerdem ist er ’ne Hete.“ Es war wie der Wink mit einer ganzen Zaunpfahlfabrik, aber Olli war so damit beschäftigt, seine kühle Maske aufrecht zu erhalten, dass er nicht einmal ansatzweise merkte, dass er selber mit dieser Andeutung gemeint war. Er wiegte nur bedauernd den Kopf.

„Aber zumindest bei dir scheint ja die Sonne aufgegangen zu sein“, schwatzte Daniel nun zunehmend gelassener weiter und deutete auf den Ring an Ollis Hand. „Wann hast du denn geheiratet?“ Der dunkelblonde Pilot zuckte kurz zusammen, griff nach seiner Brieftasche, holte ein Foto daraus hervor und schob es Daniel über den Tresen.

„Ich habe nicht geheiratet, sondern ich wurde geheiratet“, bemerkte er bitter und Dan registrierte sofort, wie sich die Gesichtsmuskeln von Olli anspannten und sich die Hände um das Wiskeyglas verkrampften. Mit zwei Fingern nahm er das Bild hoch und pfiff leise durch die Lippen.

„Mein lieber Mann Kaulfuß. Da haste dir ’nen ganz schönen Feger geangelt.“ Er hob das Foto an und besah es sich genauer. „Aber wenn ich ehrlich sein soll, wirkt sie mit dieser weißen Strähne da vorn und dem Pelzmantel auf mich ein bisschen wie diese Hexe aus diesem Dalmatinerfilm, den ich früher immer gesehen hab. Wie hieß die noch gleich …….?“

„Cruella DeVille“, nuschelte Olli, “und von ihr hab ich übrigens auch den Nachnamen.“

„Sie ist Französin?“, bohrte Daniel nach, während er das Bild wieder zurückschob. Er hatte so langsam aber sicher den Eindruck, als wenn Olli nun doch ein wenig auftaute und sich das alte Gefühl der Freundschaft wieder einstellte. Sein Gegenüber jedenfalls lockerte gerade seine Krawatte etwas und knöpfte den obersten Knopf seines weißen Hemdes auf.

Olli war aber nicht nur heiß, sondern das Gespräch mit Daniel zog ihm mehr und mehr den Boden unter den Füßen weg. Im Kopf wusste er genau, dass er eigentlich nichts von sich und seinem Leben preisgeben wollte, aber mit Dan verband ihn viel mehr, als mit jedem anderen Menschen auf diesem Planeten. Er kannte seine Geheimnisse und er war der Einzige, mit dem er zumindest damals über alles, wirklich alles, hatte reden konnte. Und dieses Gefühl, sich ihm ohne wenn und aber und ohne Angst anvertrauen zu können, beschlich ihn jetzt mehr und mehr. Er schluckte kurz, gab sich einen inneren Schups und drehte seinen Körper auf dem Barhocker etwas in Dans Richtung.

„Ja“, begann er zu erzählen, „Französin ist sie, aber das ist beileibe nicht so romantisch, wie man sich das als Mann so vorstellt. Die Nationalität bürgt eben nicht für Qualität. Zumindest nicht im zwischenmenschlichen Bereich.“

„Wie habt ihr euch denn kennen gelernt?“

„Hmm, Dan, das ist ne lange Geschichte. Mal sehen, ob ich ne Kurzfassung hin krieg.“ Olli nahm noch einen großen Schluck aus seinem Glas. „Ich hab nach dem Abi in Bremen Luft- und Raumfahrttechnik studiert und schon während des Studiums hab ich ein Angebot von der Air France bekommen. So bin ich nach Frankreich gegangen. Juliette, meine Frau, war damals schon Abteilungsleiterin Forschung und Entwicklung bei Airbus in Toulouse. Sie ist ein paar Jahre älter wie wir, musst du wissen. Na ja, jedenfalls hatte ich rein beruflich öfter mal mit ihr zu tun. Irgendwann hat sie dann angefangen mich anzugraben, hat mich zu allen möglichen Events mit hingeschleppt, hat mich wichtigen Leuten vorgestellt und mich die Karriereleiter nach oben gestoßen. Und als es nicht mehr weiter nach oben ging, hat sie mich irgendwie dazu gebracht den Pilotenschein zu machen.“ Resigniert ging sein Blick in die Unendlichkeit der gegenüberliegenden Spiegelwand, bevor er weiter sprach. „Sie fand es einfach schöner, den Mann an ihrer Seite als Piloten bei der Air France vorzustellen, als einfach NUR als Chef der Technikercrew. Sie hat das auch alles bezahlt, die ganze Ausbildung und die Augen-OP, damit ich keine Brille mehr brauch und so.“

„Und vor lauter Dankbarkeit hast du sie dann geheiratet?“ Daniel war mehr als überrascht.

„Na zumindest hab ich nicht nein gesagt, als sie mich gefragt hat und mir war’s auch ehrlich gesagt egal, als sie unbedingt ihren Namen behalten wollte.“ Traurig aber auch unendlich erleichtert ließ Oliver den Kopf hängen. Diese ganze Geschichte kannte bis jetzt nur seine Frau und er. Er war nicht zufrieden mit dieser Ehe, aber er hatte auch weder den Mut noch die Kraft sich dagegen aufzulehnen. Es verstieß auch irgendwie gegen sein Weltbild sich zu trennen. Er hatte sich mehr oder weniger für diese Frau entschieden, auch wenn er die Gründe dafür heute nicht mehr nachvollziehen konnte, und jetzt blieb ihm nur noch, das Beste daraus zu machen.

„Warum bist du jetzt zur Lufthansa gewechselt?“, versuchte Daniel ein wenig vom Beziehungsthema abzulenken, denn er merkte immer deutlicher, dass das etwas war, was wie ein schwarzer Schatten auf Olli lastete. Aber schon bei der nächsten Antwort wurde ihm bewusst, dass Juliette Besson keine Hexe à la Cruella DeVille war, sondern eher eine Spinne, die ihr Opfer betäubte und in einen Kokon einsperrte, bis es aufhörte eigenständig zu leben.

„Meine Frau ist in den Vorstand von Airbus Deutschland nach Hamburg berufen worden“, erklärte ihm Oliver missmutig, „und ich musste halt mit.“ Fassungslosigkeit breitete sich in Daniel aus. Diese Frau behandelte Olli wie ein Möbelstück, wie einen Gegenstand, den man benutzt und dann wieder an seinen Platz zurückstellt.

„Bist du deshalb so ruppig zu den Kollegen, weil du viel lieber bei der Air France und in Frankreich geblieben wärst?“ Daniel legte den Finger genau in die Wunde.

„Ich bin nicht ruppig“, entgegnete der Captain trotzig, „sondern höchstens ehrlich und wer damit nicht umgehen kann, ist vermutlich fehl auf seinem Platz.“ Daniel klappte fast die Kinnlade nach unten. Bis vor einer Sekunde war er noch nahe dran gewesen, den verbuddelten Beschützerinstinkt für Olli wieder auszugraben und ihn vor lauter Mitleid wegen seiner offensichtlich herzlosen Frau einfach in den Arm zu nehmen, aber so schnell wie dieses Bedürfnis gekommen war, so schnell verschwand es auch wieder, als ihm bewusst wurde, was Olli da eben von sich gegeben hatte.

„Ehrlich nennst du das, wenn du Stewardessen wegen irgendwelcher Belanglosigkeiten zur Schnecke machst?“ Dem dunkelhäutigen Steward schwoll der Hals.

„Ja, ehrlich nenn ich das und für mich ist es eben nicht belanglos, wenn ich statt einem stillen Wasser eins mit Kohlensäure kriege, wenn nicht angeklopft wird oder mein Essen schon halb kalt ist, wenn ich es bekomme.“ Olli klang schon sehr gereizt und machte innerlich dicht. Er war der Boss im Flugzeug und für ihn war das auch der einzige Ort, wo er niemals Kritik an seiner Person oder an seinem Führungsstil zulassen würde.

„Ach, und ein paar Blubberbläschen zu viel geben dir also das Recht, eine von den Mädels vor den Passagieren runterzusauen? Von der Sache mit Micha Könnecke mal ganz abgesehen. Ich erkenn dich gar nicht wieder, Olli.“ Entsetzt sah er den Piloten an, der ihm nicht mehr in die Augen schauen konnte.

Olli schnaufte widerwillig. „Woher weißt du das mit dem Könnecke?“

„Boah, Oliver, was glaubst du denn?“ Verächtlich hatte sich Dan abgewandt. „Ich bin schon viel länger bei der Lufthansa als du und ein schlechter Ruf verbreitet sich auch bei uns wie ein Buschfeuer.“

„Er ist schwul, Dan, und ich kann keinen ersten Offizier im Cockpit gebrauchen, der vor lauter Herzchenaugen nicht mehr geradeaus gucken kann“, brauste der Dunkelblonde auf.

„Ach nee, er ist schwul, Olli.“ Ein sarkastischer Blick streifte den Piloten. „Das bin ich auch, falls du dich noch dunkel dran erinnerst, aber ich wüsste nicht, was die sexuelle Orientierung damit zu tun hat, wie man sich fühlt, wenn man verliebt ist. Micha ist schwul, ja, und er steht auch noch dazu und das ist scheinbar dein Problem. Da bin ich ja fast glücklich, dass du mich nicht schon überm Roten Meer aus dem Flugzeug geschmissen hast und vermutlich hast du deshalb auch nie auf meine Anrufe und Briefe reagiert.“ Daniel hatte sich in Rage geredet. Wenn er etwas hasste, dann war es undefinierte Intoleranz.

„Bei dir ist das was anderes, Dan. Du bist nicht verliebt und du gehörst ja auch nur zur Kabinencrew. Da kann man ja nicht viel falsch machen.“

Daniels Augen wurden immer größer. „Sag mal spinnst du jetzt total?“, hob er gefährlich die Stimme an. „Mal davon abgesehen, dass du gar nicht wissen kannst, ob ich im Moment verliebt bin oder nicht, denn das steht auch bei ’nem Schwulen nicht mit Leuchtbuchstaben auf der Stirn geschrieben, aber was heißt hier, ich gehöre NUR zur Kabinencrew? Komm mal wieder runter von deinem Thron, Oliver, denn du bist nicht der Nabel der Welt.“

„Sie sollten sich genau überlegen, was Sie sagen, Herr Sommer. Ich bin immer noch Ihr Vorgesetzter und Ihr Ton ist mehr als unangemessen.“ Oliver registrierte nicht mehr wirklich, was er da sagte, sondern agierte wie eine Maschine mit vorgegebenem Programm. Er fühlte sich persönlich angegriffen von Daniels Worten und tat ganz automatisch das, was er immer tat, um nichts erklären oder rechtfertigen zu müssen und Dan verstand nun einfach gar nichts mehr.

„Jetzt sind wir also gleich wieder beim Sie“, reagierte er wütend und rutschte vom Barhocker. „Sobald es unangenehm wird, kneifst du den Schwanz ein, verletzt alles und jeden um dich herum und verkriechst dich dann in dein Schneckenhaus. Du bist so erbärmlich, Oliver.“ Er drehte ihm den Rücken zu und ging.

„Für Sie Captain Besson!“, rief Olli ihm hinterher und ein: „Ach leck mich doch am Ärmel!“, waren die letzten Worte, die Dan noch für ihn übrig hatte. Er war maßlos enttäuscht und sauer. Er hatte sich so viel von dem Gespräch erhofft. Vielleicht zu viel, wie er sich jetzt eingestehen musste. Irgendetwas hatte Oliver verändert, hatte aus dem feinfühligen, sensiblen und scheuen Olli einen fürchterlichen Tyrannen gemacht, der sofort die Krallen ausfuhr, wenn ihm was gegen den Strich ging.

Noch immer zitternd vor Wut nahm Daniel den Fahrstuhl in die fünfte Etage und lag dann noch eine gefühlte Ewigkeit lang wach, weil ihm die Auseinandersetzung mit Olli einfach keine Ruhe ließ. Gott sei Dank würden sie morgen schon wieder getrennte Wege gehen, denn Dan flog mit seinen Mädels schon um neun Uhr Ortszeit wieder Richtung Heimat, die Cockpitbesatzung jedoch würde eine Maschine um kurz vor 12 nach Sydney fliegen und erst in ein paar Tagen wieder nach Deutschland zurückkommen.

Nur ein paar Zimmer weiter lag auch Oliver noch wach in seinem Bett. Er hatte sich tief in die Kissen gekuschelt, die so steril rochen wie in jedem Hotel auf dem Erdball und auch ihn beschäftigte der vorangegangene Schlagabtausch mit Daniel. Wieder einmal hatte er alles falsch gemacht, was man nur falsch machen konnte, gestand er sich selber ein, aber andererseits war es vielleicht sogar besser so. Sein Leben war ein Trümmerhaufen und Daniel da mit hinein zu ziehen, wäre auch nicht fair gewesen. Oliver schmunzelte leicht, als er an Dan dachte, der sich so gar nicht verändert hatte. Er sah immer noch umwerfend gut aus, fühlte sich sichtbar wohl in seiner schwulen Haut und war noch genauso cool wie damals. Beneidenswert, wenn er an sein eigenes inneres Chaos dachte, aus dem er wohl nie mehr herausfinden würde.

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