Der kleine Buchladen

Der Schlüssel drehte sich im Sicherheitsschloss und mit einem leisen Knacken ließ es die Tür frei. Es war kalt geworden. Der Sommer war wie immer durchwachsen gewesen und nach einem anfänglich zu warmen Oktober, war es jetzt Ende November bitter kalt geworden.

Mich schauderte es kurz und schloss hinter mir die Ladentür. Noch lag mein kleiner Laden im Dunkeln. Heute war es soweit, der erste Tag. Heute war Eröffnung. Mein Traum vom eigenen Buchladen ging endlich in Erfüllung.

Ich legte die Tüte mit den Brötchen auf der Theke ab und brachte meine Jacke in den hinteren Bereich. Nachdem ich meinen Hals vom Schal befreit hatte, verstaute ich ihn auf einer der oberen Stufen der Wendeltreppe.

Ohne die Erbschaft von Oma Lenchen wäre das natürlich nicht möglich gewesen. Ihr hatte ich meine Vorliebe für Bücher und Geschichten zu verdanken. Nachdem meine Erzeuger es vorgezogen hatten, mein Dasein zu ignorieren, hatten sie mich zur Oma abgeschoben.

Im Nachhinein dachte ich aber oft, besser hätte es mir nicht passieren können. Ich konnte auf eine glückliche Kindheit zurückgreifen, eine turbulente Jugend, aber auch auf ein interessantes Erwachsenwerden.

Oma Lenchen war immer für mich da. Auch am Schluss, als sie schon krank war und ich meinen ersten großen Liebeskummer ertragen musste. Aber das lag nun lange zurück. Nach meiner Ausbildung zum Einzelhandelskaufmann besuchte ich noch viele Abendkurse.

Ich brachte ein paar trostlose Jobs in Supermärkten und Filialen von irgendwelchen Bekleidungsketten hinter mich und nun – hatte ich endlich mein eigenes Geschäft. Die Tür wurde aufgezogen und ich drehte mich um.

Amüsiert schaute ich zu wie sich Anke mit zwei großen Tüten durch die Eingangstür zwängte.

„Leo könntest du nicht wie ein Ölgötze da stehen und mir vielleicht etwas abnehmen – und überhaupt, mach mal endlich Licht, man kann sich ja fast den Hals brechen.“

„Guten Morgen Anke, freut mich, dich zu sehen“, meinte ich grinsend und nahm ihr eine der zwei Tüten ab.

„Morgen“, murmelte sie und stellte ihre Tüte neben der kleinen Theke ab.

Auch ich stellte die Tüte, ohne hineinzusehen auf dem Boden ab. Ich umrundete die Theke, ging zu dem kleinen Schaltboard und langsam erstrahlte der kleine Laden in den schönsten Farben.

Anke hatte mir schon bei der Einrichtung geholfen, aber mit den Beleuchtungsvorschlägen hatte sie sich übertroffen. Einzelne Strahler leuchteten die verschiedenen Ecken des Raumes aus, jedes für sich war ein kleines Kunstwerk.

„Ich werde mich mal an die Blumen machen“, riss mich Anke aus den Gedanken.

„Blumen?“

„Leo! Klar Blumen. Frisches Grün kommt immer gut. Du kannst ja mal das Gebäck in den Schalen verteilen.“

„Gebäck?“

„Oh Leonard, was ist heute mit dir nur los, schlecht geschlafen?“

Da stand die kleine Person vor mir und plusterte sich auf. Anke kannte ich nun schon seit sechs Jahren. Den gleichen Beruf lernend waren wir recht schnell Freunde geworden. Sie störte es auch nicht, dass ich schwul war.

Sie gab sogar mächtig damit an. Seit der Zeit gingen wir durch dick und dünn. Sie war eben meine beste Freundin. Ich schüttelte den Kopf.

„Ja was ist es dann? Zu sehr aufgeregt, weil heut der erste Tag ist?“

Wieder schüttelte ich den Kopf, denn eigentlich war ich die Ruhe in Person.

„Und jetzt hast du wohl auch noch deine Sprache verloren?“

„Nein… es ist nur… Oma Lenchen hätte sich sicher gefreut und wär hier gewesen.“

„Sie ist hier Leonard“, meinte Anke und bohrte ihren Finger in meine Brust.

„Stimmt, sie ist immer bei mir. Also packen wir es an, bevor die ersten Kunden kommen.“

„So ist es recht.“

Anke zog Blumen und Behältnisse aus der Tüte und reihte sie auf der Theke auf. Ich ging derweil in die kleine Küche, die sich am Ende des Ladens befand und suchte nach den Glastellern, die wir letzte Woche günstig erstanden hatten.

Als ich zurück in den Verkaufsraum kam, stand eine Frau bei Anke.

„Ich finde es toll, dass hier ein Buchladen eingezogen ist. Wenn ich daran denke, welchen Stress man immer hat, bis man in der Stadt ist und dann ist alles so voll“, hörte ich die Frau erzählen.

Es handelte sich um eine ältere Dame um die sechzig, wie ich vermutete.

„Ah, da kommt der Besitzer des Buchladens, Herr Ehrl“, sagte Anke.

Noch immer hatte ich die Schälchen mit dem Gebäck in der Hand und steuerte auf die beiden zu. Während Dame mich anstrahlte, suchte ich verzweifelt nach einer Möglichkeit, wie ich die Schälchen losbekommen würde. Anke entging das natürlich nicht, und eilte als Rettung, indem sie sie mir einfach abnahm.

„Das ist Frau Schumacher, deine erste Kundin“, meinte Anke noch im Vorbeigehen.

„Hallo Frau Schumacher“, begrüßte ich sie und streckte meine Hand zur Begrüßung aus.

„Ich habe gerade Ihrer netten Kollegin erzählt, dass ich froh bin, dass hier endlich ein Buchladen aufmacht. Sie müssen wissen, ich lebe alleine und lese daher sehr viel. Aber der Weg in die Innenstadt wird für mich immer beschwerlicher.“

Ich setzte mein schönstes Lächeln auf.

„Möchten sie vielleicht einen Kaffee, Frau Schumacher?“, fragte ich und wies zu den zwei Bistrostühlen.

„Oh, das ist aber nett. Ja, eine Tasse vertrage ich schon um die Zeit.“

Noch während sie das sagte, hörte ich das Surren meines Kaffeeautomaten. Ein kurzer Blick bestätigte mir, dass Anke bereits dabei war, den Kaffee zuzubereiten.

„Milch und Zucker?“, fragte ich höfflich, während sich Frau Schuhmacher setzte.

„Ja, beides danke.“

So ging ich zur Theke, wo Anke natürlich schon alles gerichtet hatte, nahm also beides und stellte es auf den kleinen Bistrotisch ab.

„Und was lesen Sie gerne?“, fragte ich.

Vielleicht verkaufte ich ja gleich mein erstes Buch am ersten Tag.

„Am liebsten Geschichten über Frauen, deren Leben sich verändert und was sie daraus machen.“

Ich hob eine Augenbraue.

„Da hätte ich vielleicht etwas für Sie, ich weiß nicht ob Sie es schon kennen“, meinte ich, als ich mich suchend zu einem der Regale zuwandte.

„Wie heißt es denn?“

„Das Muster der Liebe… kennen Sie das schon?“

„Der Titel sagt mir überhaupt nichts…“, antwortete sie, während Anke ihr die Tasse Kaffee hinstellte.

„Danke schön“, hörte ich Frau Schumacher sagen.

„Also es geht um eine Frau, die sich nach langer Krankheit einen Wusch erfüllt und ein Wollgeschäft aufmacht. Dort lernt sie mehrere Frauen kennen… sehr interessant!“

Ich hatte das Buch gefunden und drehte mich wieder zu Frau Schumacher um.

„Hier, lesen Sie ruhig etwas hinein, vielleicht gefällt es Ihnen“, fügte ich an und reichte ihr das Buch.

Sie lächelte mich an und nahm das Buch entgegen. Danach ging ich zu Anke.

„Du hast sie am Wickel, sie wird dir alles abkaufen, was du ihr empfiehlst“, flüsterte sie mir zu.

Ich musste grinsen.

Mittlerweile hatte sie die Blumen in den kleinen Vasen verteilt und stellte sie an verschiedenen Plätzen im Laden auf. Jetzt erst merkte ich, dass die Farben der Blumen zu meiner Herbstdeko passten.

Während ich nun hinter der Theke am Aufräumen war und Anke weitere Details im Raum dekorierte, öffnete sich ein weiteres Mal die Ladentür und eine jüngere Frau kam herein.

„Hallo“, sagte sie leise und begann am ersten Regal die Bücher anzuschauen.

„Hallo“, sagte ich nun meinerseits.

Schon die zweite Kundin. Anke lächelte mich an.

*-*-*

Vier Stunden später war der Laden dass erste Mal leer.

„Ich glaube du mutierst hier zum Frauenschwarm“, kicherte Anke.

„Ha, ha!“, gab ich von mir.

Ich räumte ein paar Bücher ein, während Anke die benutzten Tassen spülte.

„He, freu dich, du hast schon zehn Bücher und ein Taschenbuch verkauft. Nicht zu vergessen die zwei Kinderkassetten.“

Ich schaute sie kurz an und musste nun auch grinsen. Sie hatte Recht, die Damen waren mir alle an den Lippen gehangen, hatten jedes Wort förmlich in sich aufgezogen.

„Meintest du das vorhin eigentlich ernst?“, fragte ich Anke.

„Was meinst du?“

„Das mit der Lesestunde für Kinder.“

„Klar mach ich das, könnte man sogar einmal in der Woche als feste Einrichtung machen.“

„Wenn du das möchtest, kein Problem. Vorlesen ist schon immer beliebt gewesen.“

„Da fällt mir was ein, hast du nicht etwas vergessen?“

„Bitte?“

„Ob du nicht heute etwas vergessen hast.“

„Was meinst du bitte?“

„Ich sage nur Tür…“

Tür…, Tür, was meinte sie damit? Ich schaute zur Tür, aber mir fiel ums Verrecken nicht ein, was sie dachte.

„Ding – Dong“, kam es von Anke.

Als würden tausend Lichter angehen, fiel mir siedend heiß ein, was ich vergessen hatte. Ich lief zu meiner Tasche und zog eine kleine Schachtel heraus.

„Danke, dass du mich daran erinnert hast“, sagte ich und zog den Deckel herunter.

„Dafür bin ich ja da.“

Als Kind war ich davon immer fasziniert gewesen. Stundenlang saß ich oft da und sah zu, wie das Glockenspiel sich im Winde bewegte. Die Klänge, die es erzeugte, hatten immer eine ruhige Wirkung auf mich.

An einem hölzernen Haus waren Schnüre befestigt, an denen wiederum Metallröhrchen hingen. Zwischen den Röhrchen war an einer Schurr eine Holzkugel befestigt. So entnahm ich das Glockenspiel aus der Schachtel und legte es auf die Theke.

„Mist!“, fiel mir plötzlich was ein.

„Was denn?“, fragte mich Anke.

„Ich wollte doch Werkzeug mitnehmen, damit ich es aufhängen kann.“

„Wo hast du nur immer deine Gedanken…, warte einen Moment“, sagte sie und verließ kurz den Laden.

Ein paar Minuten später kam sie zurück.

„Boah ist das kalt da draußen. Hier für dich, konnte ich vorhin nicht mehr tragen, lag noch im Auto.“

Sie streckte mir eine Tüte entgegen und ich zog neugierig die Öffnung auseinander, um zu sehen, was sich darin verbarg. Ich erkannte einen Hammer und eine Dose mit Haken, also genau, das, was ich jetzt brauchte.

Erfreut schnappte ich mir die kleine Trittleiter hinter der Theke und begab mich zur Ladentür. Die drei Stufen waren schnell hinaufgestiegen.

„Und? Wo soll ich sie hinhängen?“, fragte ich und hielt das Glockenspiel an die Decke.

„Ein bisschen mehr in die Mitte würde ich sagen“, antwortete Anke.

„So?“, fragte ich und schob das Teil etwas nach rechts.

„Ja und noch etwas von der Tür weg, dann müsste es richtig sein.“

Also zog ich es noch etwas von der Tür weg und schaute wieder zu Anke.

„Ja, genau, dort solltest du es aufhängen.“

„Kannst du mir bitte einen Bleistift geben, damit ich die Stelle kennzeichnen kann?“

Anke lief um die Theke herum und brachte mir einen Bleistift. Ich wollte gerade ein kleines Kreuz an die Decke zeichnen, als mich ein Geräusch herumfahren ließ, allerdings war es da schon zu spät.

Die Wucht der geöffneten Tür hatte mich bereits von der Leiter gefegt und mich wie einen Schlagball nach hinten geschleudert. Äußerst unsanft kam ich auf dem Rücken auf, der kurze stechende Schmerz ließ mich die Luft anhalten.

„Entschuldigung… ich habe Sie nicht gesehen…“, hörte ich eine mir fremde Stimme sagen.

Noch immer hatte ich die Augen zusammengepresst.

„Mein Gott Leonard, hast du dir was getan“, hörte ich Anke, deren Hand ich nun auf meinem Bauch spürte.

Scharf atmete ich aus und der Schmerz ließ langsam nach. Ich öffnete die Augen und blickte in die Augen einer besorgten Anke. Etwas dahinter sah ich ein weiteres besorgtes Gesicht, zu dem noch kreideweiß.

„Es tut mir wirklich Leid…“, stammelte dieses besorgte Gesicht.

„Ich lebe ja noch“, sagte ich und versuchte mich aufzurichten.

„Nee…, nee mein Lieber, du bleibst da mal schön liegen.“

„Anke, ich kann doch nicht hier auf dem Boden liegen bleiben. Was ist, wenn Kundschaft kommt?“

„Die ist bereits da und ist ja wie ein Tsunami in den Laden geschwappt.“

Über Ankes schrägen Humor hatte ich mich schon öfter amüsiert. Nun brachte sie es fertig, aus dem Bleichgesicht, eine tomatisierte Version eines Narren zu machen. Nachdem der Schmerz jetzt etwas abgeklungen war, wollte ich nun doch aufstehen.

Anke hatte wohl nichts mehr einzuwenden, denn sie half mir auf. Die Stelle auf die ich geknallt war, tat zwar weh, aber es war zu ertragen.

„Warum hatten Sie es eigentlich so eilig?“, fragte Anke nun unseren neuen Kunden.

Dieser löste sich langsam aus seiner Starre und schaute auf die Uhr.

„Mist, jetzt komme ich doch noch zu spät… das kann ich vergessen…“, sagte er und hob den Kopf.

Das erste Mal schauten wir uns richtig an. Mein Blick blieb an seinen grünen Augen hängen, die mich zur gleichen Zeit fixierten.

„Und was wollten Sie hier?“, fragte ich ohne meinen Blick seiner Augen zu entreißen.

„Eigentlich wollte ich noch schnell ein Buch für meinen kleinen Neffen besorgen, der hat heute Geburtstag.“

„Sie können aber später gerne wieder kommen, wenn sie einen wichtigen Termin haben. Wir haben heute sicher etwas länger geöffnet, es ist immerhin der Eröffnungstag.“

Was faselte ich da. Ich starrte diesen Mann an, als wollte ich ihn fressen. Ich schaute kurz zu Anke, die frech lächelte.

„Könnte ich vielleicht bei Ihnen kurz telefonieren?“, fragte er.

Ich nickte und zeigte auf die Theke, wo das Telefon prangte. Er lief zu selbigem, zog einen kleinen zerknitterten Zettel aus der Jacke, wo anscheinend eine Telefonnummer drauf stand, und tippte diese ein.

„Hallo hier ist Christian Cramer. Ich habe heute ein Vorstellungsgespräch bei … ach so… ja danke. Die Unterlagen schicken sie mir zurück? Danke. Auf Wiederhören.“

Ich sah die Enttäuschung auf seinem Gesicht, als er den Hörer sinken ließ. Einer Eingebung folgend, lief ich um ihn herum hinter die Theke und schob zwei Tassen unter den Kaffeeautomaten. Langsam surrte das Malwerk der Maschine und wenig später floss der frische Kaffee in die Tassen.

„Milch und Zucker?“, fragte ich und stellte ihm eine der Tassen vor die Nase.

„Hä? Ach so, nein nur Zucker… danke.“

Er wirkte, als hätte ich ihn aus den Gedanken gerissen und so stellte ich ihm lächelnd das Schälchen mit den Zuckerwürfeln hin. Er entnahm sich zwei Stück und verrührte diese gedankenverloren in seiner Tasse.

„Keine gute Nachricht?“, fragte ich und rührte nun meinerseits im Kaffee.

„Wieder eine Absage. Wusste nicht, dass man mit neunundzwanzig zum alten Eisen gehört.“

„Kommt auf die Umstände an, so alt sind Sie ja noch nicht, sehen gut aus. In welcher Branche wollen Sie denn arbeiten?“

Könnte mir mal jemand den Mund zukleben? Fing ich etwa gerade an zu flirten, noch dazu mit einem wildfremden Mann, den ich nicht mal kannte?

„Ich habe lange in einer exklusiven Herrenboutique gearbeitet, aber die haben pleite gemacht.“

„Eben zu exklusiv“, konnte ich Anke hinter irgendeinem Regal hören.

„Wie meinen?“, erwiderte ich.

Anke streckte hinter den Krimis den Kopf hervor.

„Ist der Laden zu exklusiv, dann bleiben die Kunden aus. Man darf nicht nur in eine Richtung steuern, aber das müsstest du ja auch am Besten wissen!“

Ich wusste, dass Anke jetzt nicht meinen Job meinte, sondern auf den letzten Kerl anspielte, dem ich ewig hinterhergelaufen war und dabei fast alles verloren hätte. Aber das stand jetzt auch nicht zur Debatte.

„Aber Sie haben doch sicher noch einige Bewerbungen laufen?“, fragte ich.

„Das war die letzte, mehr hat mir das Arbeitsamt nicht gegeben.“

Ich schaute zu Anke hinüber. Sie sah mich mit großen Augen an und begann den Kopf zu schütteln.

„Moment bitte“, sagte ich zu Herr Cramer und ging zu Anke.

„Warum denn nicht?“, flüsterte ich.

„Habe ich deinen Blick also richtig gedeutet, du willst ihn einstellen“, flüsterte sie ebenso.

„Warum denn nicht, ich denke schon, wir können bald Unterstützung gebrauchen.“

„Du weißt doch gar nicht, ob er… ist…“

„Was soll jetzt der Quatsch, was hat das damit zu tun?“

„Eine ganze Menge, denke ich!“

„Was bekommen Sie für den Kaffee?“, unterbrach uns Herr Cramer.

Ich drehte mich wieder zu ihm.

„Nichts, der geht aufs Haus“, meinte ich und lächelte ihn dabei an.

Den Stoss von hinten spürte ich überdeutlich, versuchte aber, mir nichts anmerken zu lassen.

*-*-*

Eine Woche war nun seit der Eröffnung vergangen und mit Christian hatte ich wohl einen guten Fang gemacht. Natürlich in der Hinsicht, dass er ein guter Verkäufer war. Anke glaubte zwar immer noch, dass ich ihn wegen seinem geilen Hintern eingestellt hatte, aber darüber konnte ich nur diabolisch grinsen.

Schnell hatte sich in der Umgebung herum gesprochen, dass hier ein neuer Buchladen eröffnet hatte und so war jeden Tag etwas los.

„Hast du überhaupt noch Zeit, selbst etwas zu schreiben?“, fragte ich Anke, während ich den neuen Zeitschriftenständer auspackte.

„Im Augenblick nicht, aber ich bin ja auch keine Maschine. Gut Ding will Weile haben.“

„Schade, hätte gerne mal wieder etwas von dir gelesen.“

Die Ladentür flog auf, das Windspiel läutete Sturm.

„Oha, der Tsunami naht“, grinste Anke.

„Morgen zusammen! Sorry, das ich etwas später komme, aber mein Bruder hat mich noch aufgehalten.“

„Morgen Christian“, sagte Anke und verschwand hinter einem Regal.

„Guten Morgen Tsu… ähm Christian.“

Hinter dem Krimiregal fing es schallend laut an zu lachen. Christian schaut mich komisch an, bevor er kurz im privaten Bereich verschwand. Anke linste kurz hinter dem Regal vor und grinste mich fies an.

„Du und deine Spitznamen“, meinte ich und streckte ihr die Zunge raus.

Kichernd verschwand sie wieder hinter dem Regal. Christian hatte sich seiner warmen Gardarobe entledigt und war wieder in den Verkaufsraum gekommen.

„Was ist das?“, fragte er und zeigte auf den Haufen von Holz und Metal vor meinen Füßen.

„Der Ständer für Zeitschriften“, antwortete ich.

Christian schien wohl zu merken, dass ich mit der Bauanleitung etwas überfordert war.

„Soll ich dir helfen?“

„Gerne“, nickte ich und reichte ihm die Anleitung.

Nach ungefähr einer halben Stunde stand das Ding vor uns. So schnell hätte ich das sicherlich nicht hinbekommen. Meine Bewunderung zollte Christian, der Stolz vor seinem Werk stand.

„Und wo soll der Ständer hin?“, riss mich Christian aus meinen Gedanken.

Ich sah mich um. Eigentlich wollte ich ihn ja an die Ladentür stellen, aber der Platz gefiel mir nun nicht mehr. Ein passenderer Platz fiel mir aber auch nicht ein. Der Ständer passte irgendwie nicht mehr so sehr zum Gesamtbild.

So zuckte ich nur mit den Schultern und lächelte entschuldigend.

„Wie wäre es neben der Theke, so als Abschluss, direkt bei der Kasse. Da kaufen vielleicht sogar einige Leute eine Zeitschrift, weil sie die beim Bezahlen sehen“, warf Christian ein.

Er hob den Ständer an und trug ihn an das Ende der Theke.

„Also ich meine, hier würde er sich gut machen.“

Anke war mittlerweile auch hinter ihrem Regal vorgekommen und schaute sich Christians Vorschlag an.

„Christian hat Recht, da würde er sich gut machen und genug ausgeleuchtet ist er auch“, befand Anke nach längerem Beäugen.

„Okay, dann lassen wir ihn hier stehen. Weißt du, wo die Lieferung mit den Zeitschriften liegt?“, fragte ich.

Anke zeigte nur auf das Lager und verschwand wieder hinter dem Regal. Also folgte ich ihrem Wink und begab mich in den hintern Teil des Ladens, wo ich sogar gleich am ersten Regal fündig wurde.

Mit einem Teppichmesser schnitt ich das Klebeband des Kartons durch und entnahm ein in Plastik verpacktes Päckchen. Den Karton riss ich gleich kleiner und warf ihn in die Abfalltonne.

Als ich in den Laden zurückkam, war mittlerweile eine Kundin gekommen, die aber bereits von Christian bedient wurde und so lief ich hinter die Theke, wo ich das Päckchen dann von seiner Plastikhülle befreite. Zum Vorschein kamen die von mir bestellten Zeitschriften.

„Moment, da muss ich meinen Kollegen fragen“, hörte ich Christian sagen, der nun auf mich zukam.

„Könntest du nachschauen, ob wir den Roman von Georgi Hassler bekommen können?“

Ich nickte und ging zum PC. Das neue Programm um Bücher suchen zu können, fand ich genial. Es war viel einfacher zu bedienen, als die alten schwerfälligen Programme, die meist mitten bei der Suche abstürzten.

In die vorgesehenen Spalten gab ich Titel und Autor ein und drückte auf Suchen. Wenige Sekunden später und dank VDSL 50 und wie ich finde ein überteuertes Glasfaserkabel bis ins Haus, blinkten mir gleich drei Ergebnisse entgegen.

„Im Koffelverlag erschienen, wir könnten es in cirka zwei Tagen bekommen“, antwortete ich.

Die Frau nickte.

„Auf welchen Namen dürfen wir das Buch bestellen?“, fragte Christian die Frau.

„Bender… Gudrun Bender.“

„Wenn Sie mir Ihre Telefonnummer noch geben würden, können wir Ihnen gleich Bescheid geben, sobald das Buch eingetroffen ist“, sprach Christian weiter.

Mir fiel bei diesem Kundengespräch auf, dass Christian währenddessen immer wieder kurz auf seine Uhr sah. Frau Bender diktierte ihm ihre Telefonnummer.

„Gut Frau Bender, wir werden sie dann telefonisch unterrichten, wenn das Buch eingetroffen ist.“

„Danke… auf Wiedersehen“, hörte ich die Frau sagen.

Ich hob den Kopf und verabschiedete mich auch. Schnell hatte die Kundin den Laden verlassen. Wieder fiel mein Blick auf Christian. Er schaute abermals auf seine Uhr.

„Ist alles in Ordnung?“, fragte ich.

„Hm… bitte?“, fragte Christian total verwundert

„Ob alles in Ordnung ist?“, fragte ich abermals.

„Ja… schon“, antwortete er verunsichert.

„Weil du laufend auf deine Uhr schaust.“

„Ich warte auf den Anruf meines Bruders, wann er hier am Bahnhof ankommt.“

„Ich wusste gar nicht, dass dein Bruder verreist ist“, entgegnete ich.

„Ach so, nein. Ich meine nicht Martin. Ich habe noch einen jüngeren Bruder, Marc.“

„Noch zu haben?“ rief Anke hinter dem Regal vor.

Sie lauschte wie immer.

„Wieder zu haben, aber nicht für dich“, antwortete Christian.

„Wieso?“, fragte Anke und kam wieder hinter den Krimis hervor.

„Wenn du deine weiblichen Proportionen in einen männlichen Adoniskörper tauschen würdest, wärst du für ihn interessant. Mein kleiner Bruder ist schwul!“

Anke und ich schauten uns an.

„Habe ich etwas Falsches gesagt?“, fragte Christian und schaute zwischen uns her, „ ich hoffe, ihr habt nichts gegen Schwule.

Anke lächelte anzüglich und verschwand wieder hinter ihrem Regal und ließ mich somit mit Christian alleine stehen.

„Was denn?“, fragte Christian und schaute mich verwirrt an.

„Dein Chef ist auch schwul!“, kam es hinter dem Regal hervor gekichert.

Christian schaute mich mit großen Augen an.

„Öhm… du bist…“

„Ja!“, sagte ich und widmete mich wieder meinen Zeitschriften.

Ab und zu könnte ich Anke an die Wand klatschen. Aber Christian hätte es sowieso irgendwann mitbekommen, dass ich lieber einem Männerarsch hinterher gucke, als auf die Oberweiten meiner Kundinnen zu starren.

„Das merkt man gar nicht…“, riss mich Christian aus den Gedanken.

„Bitte?“, fragte ich, schaute ihn an.

„Man merkt nicht… dass du schwul bist…“, wiederholte Christian seinen Satz.

„Wieso? Soll ich deiner Meinung nach hier herum tucken?“

Anke fing schallend laut hinter ihrem Regal an zulachen. Allein die Vorstellung eine Tucke zu sein, erzeugte eine üble Gänsehaut auf meinem Rücken. Dass mein Tonfall etwas heftig war, bemerkte ich erst, als Christians Gesichtsausdruck traurig wurde.

„Sorry. So war das nicht gemeint“, meinte ich und stülpte den letzten Stapel Zeitschriften in den Ständer.

„So habe ich es auch nicht aufgefasst. Nur… tut mir Leid, wenn ich das so gesagt habe. Aber die Freunde mit denen sich mein Bruder umgeben hatte… na ja, sie waren irgendwie alles Tucken“, erklärte Christian.

„Und dein Bruder?“, hörte ich Anke fragen.

Diesmal war Ankes Ton nicht mehr so lustig. Ich drehte mich zu ihr herum. Sie stand mit einem Stapel Bücher neben dem Regal.

„Kannst du mir sagen, was du da eigentlich machst?“, fragte ich, ohne auf die Antwort von Christian zu warten.

„Ich sortier die Bücher nur nach Autoren und dem ABC, mehr nicht.“

„Okay.“

„Nein mein Bruder ist keine Tucke…“, warf Christian ein.

Ankes Augen verengten sich.

„Gut! Sollte ich aber merken, er tut es doch, kann der sich warm anziehen“, drohte Anke und diese Aussage verwunderte mich jetzt schon sehr.

Mein fragender Blick wurde ignoriert und sie verschwand wieder zu ihren Büchern. Christian schaute immer noch wie ein begossener Pudel drein. Ich beschloss einfach, die Sache auf sich beruhen zu lassen und mich ganz normal zu geben.

„Und heute besucht er dich… ähm der Marc?“, fragte ich und verräumte den restlichen Verpackungsmüll.

Christians Starre löste sich und kam zu mir an die Theke.

„Nein, er wird bei mir einziehen…“

„Einziehen?“

„Ja… sein… Ex hat ihn vor die Tür gesetzt.“

„Hat dein Bruder was ausgefressen?“

Die natürliche Neugierde einer Frau – Anke wieder mal, wobei ich zugeben musste, dass es mich auch interessierte.

„Nein, dieses Ars… sorry… der Typ hat sich etwas Jüngeres zugelegt und meinen Bruder den Laufpass gegeben.“

„Das ist allerdings krass“, sagte ich, „aber aus der eigenen Wohnung einfach so rauswerfen?“

„Es ist nicht seine Wohnung. Marc ist unseren Warnungen zu trotz bei diesem Typ eingezogen.“

„Ihr habt ihn gewarnt?“

„Ja, weil mir der Typ noch nie ganz koscher war.“

„Das ist wirklich hart. Wann kommt dein Bruder an?“

„Ich weiß es nicht, deswegen warte ich ja auf seinen Anruf.“

„Ach so.“

Die Türglocke ging und wir beendeten das Gespräch.

*-*-*

Es war zwar nicht die Welt, aber bis zur Mittagspause war doch genug zu tun für uns drei. Anke verabschiedete sich und war dann schnell gegangen. Auch Christian war schnell verschwunden, denn sein Bruder hatte sich mittlerweile gemeldet.

Ich dagegen schloss die Ladentür ab und lief die kleine Wendeltreppe nach oben in meine Wohnung. Eigentlich ganz praktisch, wenn man dort wohnt, wo man arbeitet. In der Küche schaltete ich als erstes den Kaffeeautomaten ein.

Mit dem Stapel Post setzte mich dann an die Küchentheke. Griffbereit steckte dort der Brieföffner auf seinem Platz. Werbung… nichts als Werbung. Ich schmiss gleich alles in den kleinen Papiercontainer.

Ich las nun nur noch die Absender, machte sie nicht mal mehr aus. Halt… Notariat? Ich schlitzte das Couvert auf und zog die darin befindlichen Papiere heraus.

>Sehr geehrter Herr Ehrl, im Auftrag eines entfernten Verwandten, stelle ich Ihnen dessen Post zu. Gezeichnet Blabla.<

Ich schaute in den Umschlag und konnte einen kleinen Brief entdecken. Die Schrift ließ mich auf eine ältere Person schließen. Erneut nahm ich den Brieföffner und schlitze den Brief auf. Na toll, altdeutsch, wie soll das denn einer lesen.

Mühsam versuchte ich die Wörter zu entziffern, aber einen Zusammenhang fand ich keinen. Also steckte ich den Brief wieder zurück in den Umschlag und machte mir erst mal einen Kaffee. Das Mahlwerk brummte laut auf und wenige Sekunden später lief der frisch gebrühte Kaffee in meine Tasse.

Mein Blick ruhte auf dem Umschlag. Alle möglichen Gedanken durchliefen meinen Kopf. Wollte plötzlich jemand die Erbschaft anzweifeln. Oma Lenchen war über eineinhalb Jahre nun tot.

Das Handy riss mich aus den Gedanken.

„Ehrl.“

„Hallo Leo, hier ist Christian. Könnte ich dich um einen Gefallen bitten?”

Oh, er wollte sicher den Mittag frei haben.

„Ja, um was geht es?“

„Du weißt doch mein Bruder ist heut angekommen… könnte ich ihn vielleicht morgen mitbringen? Heute Mittag habe ich ja frei, aber morgen würde ich ihn in dem Zustand nicht gerne alleine lassen.“

„Geht es ihm so schlecht?“, fragte ich jetzt doch verwundert.

„Mehr als das. Er redet so gut wie kein Wort, bekommt laufend Weinkrämpfe.“

„Oje, der Arme. Aber wie sollen wir das machen. Er kann doch nicht die ganze Zeit so im Laden sitzen.“

„Stimmt, daran habe ich jetzt auch nicht gedacht. Was mach ich jetzt nur, vielleicht erreiche ich doch noch Martin.“

Ihm schien wirklich sehr an seinem Bruder zu hängen.

„Bring ihn einfach mit, wir werden schon eine Lösung finden. Was mir gerade einfällt… kannst du Altdeutsch lesen?“

„Nein, tut mir Leid, warum fragst du?“

„Ist mir gerade so in den Sinn gekommen. Okay, wir sehen uns nachher.

„Danke Leonard, bis später.“

Ich drückte das Gespräch weg und ersetzte das Handy durch meine Kaffeetasse. Langsam schlürfend ging ich ins Wohnzimmer, wo ich erst den Verstärker einschaltete und gleich darauf den CD-Player.

Dann ließ ich mich in meinen großen Ohrensessel nieder. Hunger hatte ich keinen, so hatte ich mehr Zeit und genoss meinen Kaffee. Der Brief ging mir nicht aus dem Kopf und natürlich auch Christians Bruder Marc.

Die CD fing an zu spielen und ich versank in den Klängen des Klaviers.

*-*-*

„Hallo Leo, hast du schon den Artikel über Esoterik gelesen?“

Ich schaute auf, während Anke den Laden betrat.

„Nein habe ich noch nicht, aber du wirst mir sicher gleich erzählen, was darin steht. Guten Morgen übrigens.“

Lächelnd lief sie an mir vorbei und zog ihren knielangen Mantel aus.

„Da gibt es ein neues Buch, wie war noch der Titel gleich… ähm… ach ja. Wie sie den Draht zu ihrem Engel stärken.“

„Engel?“

„Ja deinem Engel. Der dir Kraft gibt, der dich beschützt und so.“

„So, ich habe einen Engel?“

„Ja, klar! Jeder hat einen Engel.“

„Ich hätte gern einen Engel aus Fleisch und Blut!“, meinte ich.

Somit war die Unterhaltung für mich erledigt und ich widmete mich wieder dem Computer. Sekunden später spürte ich eine Hand über meinen Nacken kraulen.

„He guck nicht so verbissen, irgendwann kommt schon dein Engel“, hörte ich Anke leise hinter mir sagen.

Ich schaute kurz auf und drehte meinen Kopf zu Anke. Bevor ich aber etwas erwidern konnte, wurden wir von einem Geräusch an der Ladentür unterbrochen. Unserer beiden Blicke fuhren zur Tür.

Dort konnten wir zwar Christian erkennen, der bereits die Klinke herunter gedrückt hatte, aber nicht herein kam.

„Warum bleibt Chris vor der Tür stehen?“, kam es von Anke.

„Weil dem Tsunami meist noch Wellen folgen.“

„Hä?“, entfleuchte es Anke verwirrt.

Lächelnd über die Tatsache, dass Anke eben nicht alles wissen konnte, widmete ich mich wieder dem PC. Die Tür wurde aufgezogen und Christian kam herein.

„Komm rein, hier beißt dich niemand, okay?“, hörte ich Christian sagen.

Er redete wie mit einem kleinen Kind. Die Neugier im Nacken und mich an die letzten Gespräche erinnernd, schaute ich abermals auf, um diesen Marc genau zu betrachten. Dick eingepackt, etwas kleiner als Christian, stand da verloren ein Häufchen Elend an der Ladentür.

Der Klang des Windspiels hallte im Laden nach.

„Hallo, ich bin Leonard“, sagte ich und trat hinter der Theke mit ausgestreckter Hand hervor.

„Marc… Christians Bruder…“, sagte der junge Mann, dessen Gesicht ich immer noch nicht richtig erkennen konnte, da es von einem dicken Schal eingepackt war.

„Man ist das kalt geworden“, sagte Christian, der seine Jacke auszog, „gibst du mir deine Sachen, Bruderherz?“

„Nenn mich nicht immer so“, brummelte Marc durch den Schal und begann ebenso die Jacke auszuziehen.

Christian grinste nur, nahm die Jacke und den Schal entgegen und verschwand in den hinteren Bereich des Ladens.

„Einen Kaffee?“, fragte ich Marc.

„Danke… gerne…“

Ich lief also wieder hinter die Theke und stellte eine Tasse unter den Automaten. Surrend gab er das schwarze Suchtmittel frei. Mit einer vollen Tasse drehte ich mich wieder zur Theke und stellte sie vor Marc ab.

„Milch und Zucker?“, fragte ich.

Marc sah mich an, als würde er durch mich hindurch schauen, so als wäre ich überhaupt nicht vorhanden.

„Marc?“, sagte ich leise.

Er fuhr etwas zusammen, ohne seinen Blick von mir zu wenden.

„Entschuldige, was hast du gesagt?“

„Ob du Milch oder Zucker möchtest.“

„Oh… danke, beides ja.“

Also stellte ich die Zuckerdose und das Milchkännchen hin. Die Ladentür ging auf.

„Hallo ihr lieben“, klang es von der Tür.

„Hallo Frau Schumacher“, hörte ich Anke sagen.

Ich sah auf und bemerkte die alte Dame, wie sie Anke eine Dose überreichte.

„Ich hatte Lust zum Backen und dachte mir, warum backe ich für euch nicht gleich etwas mit. Da fiel mir ein, ich suche schon lange nach ein paar neuen Rezepte, habt ihr da etwas für mich da?“

Frau Schumacher lächelte mir zu, während Anke sich schon an den Rezeptbüchern zu schaffen machte.

„Einen Kaffee, Frau Schumacher?“, fragte ich.

„Aber gerne.“

„Zwei Stück Zucker und ein kleinen Schuss Milch“, sagte ich, als bereits der Kaffee den Automaten verließ.

„Das ist aber lieb Leonard, dass Sie sich dass gemerkt haben.“

Ich lächelte sie an und stellte den Kaffee auf die Ablage.

„Hier ist man wirklich gut aufgehoben!“, sagte sie Richtung Marc, neben dem sie jetzt Platz genommen hatte.

Marc zeigte ein gequältes Lächeln und nickte. Ich war am Überlegen, ob ich Marc irgendwie etwas mehr Ruhe verschaffen könnte, aber Frau Schumacher redete einfach weiter.

„Ihr Gesicht kommt mir so bekannt vor. Sind Sie ein Schriftsteller?“

„Nein Frau Schumacher, das ist mein jüngerer Bruder Marc“, mischte sich nun Christian ein.

„Hallo Christian, schön Sie zu sehen. Stimmt jetzt wo Sie es sagen, fällt mir diese Ähnlichkeit auf.“

Es war das erste Mal, dass ich Marc richtig lächeln sah. Und ich erwischte mich dabei, wie ich ihn anstarrte.

„So unähnlich sind wir uns wirklich nicht, Frau Schumacher.“

„Suchen Sie denn auch ein Buch, oder besuchen Sie nur ihren Bruder?“, fragte Frau Schumacher weiter.

„Nein, mein Bruder hat mich eingeladen, doch hier mal einen Mittag zu verbringen… ich bin gerade hier auf Besuch…“

Weiter sprach Marc nicht und rührte in seinem Kaffee. Anke kam mit einem Buch an.

„Hier hätte ich was für Sie … Rezepte von Landfrauen…“, sprach sie Frau Schumacher an.

„Oh, davon habe ich schon gehört.“

Sie nahm das Buch entgegen und blätterte sofort darin.

„Ich glaube, ihr werdet die nächste Zeit als Versuchskaninchen herhalten müssen, da stehen wirklich gute Rezepte drin. Danke Anke… oh das reimt sich“, kicherte die alte Dame.

„Oh weh, meine arme Figur“, seufzte ich.

„Wieso, die ist doch in Ordnung“ hörte ich Marc sagen, der darauf sofort verlegen schaute und rot wurde.

Oh man bemerkt mich, interessant, also starrte ich nicht als Einziger. Ich machte also das, was ich für gewöhnlich machte. Einfach normal weiter sprechen, als wäre es nichts Besonderes.

„Ich brauch nur ein Stück Kuchen anzuschauen, schon nehme ich zu“, behauptete ich und lächelte Marc an.

„Männer!“, sagte Anke verächtlich und Frau Schumacher kicherte.

Der Türgong unterbrach die Unterhaltung, zwei Frauen betraten den Laden. Christian legte ein Buch ab und schwebte langsam zu den Frauen.

„Kann ich behilflich sein?“, hörte ich ihn in seiner gewohnt freundlichen Art.

„Du Leonard… ich wollte mich bei dir noch mal bedanken“, entriss mich Marc dieser Szene.

„Bitte? Was meinst du?“, fragte ich leise, obwohl Frau Schumacher anscheinend im Backbuch vertieft war.

„Dass du meinem Bruder die Chance hier zum Arbeiten gegeben hast. Er war wirklich verzweifelt.“

„Er ist gut, warum sollte ich das nicht nutzen?“

„Du konntest du doch nicht wissen, ob jemand gut ist. Hast doch Christian vorher nicht gekannt.“

„Ich vertraue da einfach auf meine Menschenkenntnis, da bin ich bisher noch nie falsch gelegen.“

Anke schaute in diesen Augenblick herüber, als würde sie das Gespräch hören.

„Na ja, fast nicht falsch gelegen.“

„Egal, auf jeden Fall hast du ihm geholfen und das finde ich klasse.“

„Und wie kann man dir helfen?“, rutschte mir heraus.

Mist, das war ja jetzt das vollste Fettnäpfchen, welches herum stand. Seine Augen wurden wieder trauriger.

„Sorry!“, sagte ich und machte so, als würde ich mich in irgendwelchen Dokumenten vertiefen.

„Das Buch ist wirklich herrlich, kann ich dann zahlen Leonard, wären Sie so nett und würden kassieren?“, kam es plötzlich von Frau Schumacher.

„Klar Frau Schumacher, würden Sie es mir kurz geben?“

Sie reichte mir das Buch und ich suchte die darin befindliche Karteikarte. Nachdem ich sie gefunden hatte, zog ich das Buch durch den Scanner und der Preis wurde auf dem Flachbildschirm angezeigt.

„11, 95 Euro macht es dann.“

Frau Schumacher zog ihr Portemonnaie heraus und gab mir einen Zwanziger. Ich gab den Posten ein und sofort erschien das Rückgeld. Ich lege es in die Schale auf der Theke.

„Danke, Leonard. Ich wünsche Ihnen noch einen schönen Mittag.“

„Danke ebenfalls Frau Schumacher.“

Ich lief um die Theke herum zur Tür und hielt ihr diese auf.

„Auf Wiedersehen zusammen“, rief sie noch und verschwand aus dem Laden.

Ich schloss die Tür wieder und lief zurück an die Kasse.

„Eine nette Frau“, sagte Marc.

„Ja, das ist sie wirklich. Sie war übrigens meine erste Kundin, als ich den Laden eröffnete.“

„Finde ich schön, wenn man so Stammkunden hat.“

Seine Stimme klang traurig, aber was sollte ich machen. Offiziell wusste ich sicher nicht, was ihm widerfahren war, wusste auch nicht, was Christian über mich erzählt hat. Man könnte fragen, aber das würde ja gleich mein Interesse bekunden.

Also schwieg ich, da ich eh nicht wusste, über was ich mit Marc reden sollte. Ich versuchte wieder, mich in die Listen meiner Karteikarten zu versenken, aber es gelang mir nicht recht. Dicht gegenüber saß ein Mann, der eindeutig mein Interesse geweckt hatte.

Ich schaute kurz hoch und als ich sah, dass Marc sich mit einer Broschüre beschäftigte, konnte ich meinen Blick auf ihm ruhen lassen. Die großen Augen waren mir schon bei der Begrüßung aufgefallen.

Tief braun stachen sie einem mit ihrer Klarheit ins Herz, wenn man dies zulassen wollte. Im Gegensatz zu Christian hatte Marc volleres Haar, das nun leicht verwuschelt in alle Richtungen stand.

Das helle Blond ließ die Augen noch mehr zur Geltung kommen. Ein Lächeln zierte mein Gesicht, weil ich sein Gesicht als so angenehm empfand. Sicher würde er protestieren, wenn ich behauptete er hatte eine süße Stupsnase, die sich dicht über den weichen sanften Lippen befand.

Marcs Anblick hatte mich gefangen, so gefangen genommen, dass ich nicht mal wahrnahm, dass der mich plötzlich anschaute. Ich wich seinem Blick nicht aus, sondern versank in diesen Augen, die nun eine Spur fröhlicher schauten, als ich noch vorhin noch wahrgenommen hatte.

„Zufrieden?“

Ich zuckte zusammen.

„Bitte?“, fragte ich, lief rot an, weil ich mich ertappt fühlte.

Mist, gleich zu Anfang alle Neune.

„Bist du zufrieden?“, fragte Marc.

Diese Frage klang unangenehm, weil etwas Sarkasmus hervor trat. Doch ich kam nicht zur Antwort, Marc stand auf und lief etwas im Laden herum. Ich seufzte in mich hinein. Klar war seine Bitterkeit verständlich.

Einfach abgelöst zu werden, ausgetauscht gegen etwas Neues. Ein kurzer Gedanke der Ersetzbarkeit kam in mir auf, aber ich verwarf ihn gleich wieder. Wenn jemand richtig liebte, konnte es keinen Ersatz geben.

So ging ich weiter meiner Arbeit nach, während sich der Laden langsam füllte. Marc hatte sich mittlerweile in einem der kleinen Sessel breit gemacht und schien zu lesen. Es hatte sich wohl herum gesprochen, dass man hier Probelesen konnte und dazu auch einen Kaffee bekam.

Ich hatte alle Hände voll zu tun um Kaffee zu kochen, während Christian und Anke in Gespräche verwickelt waren. Wenn ich etwas Luft hatte, spülte ich hinten die Tassen, damit uns der Vorrat nicht zur Neige ging.

Kurz vor der Mittagsessenszeit leerte sich der Laden wieder und meine Kasse war auch etwas voller als vorher.

„Man merkt, es geht wieder auf Weihnachten zu, die Leute kaufen mehr Bücher“, meinte Anke.

„Ja, es kann sich sehen lassen.“, meinte ich und sortierte die sauberen Tassen ins Regal.

„Was machst du über die Feiertage Christian?“, fragte Anke.

„Ich bin eigentlich bei Bekannten eingeladen, aber wegen Marc…“

„Du brauchst wegen mir nicht absagen, werde schon irgendwie versorgt sein“, unterbrach Marc seinen Bruder.

„Marc, ich möchte nicht, dass du Weihnachten alleine verbringst“, widersprach Christian.

Es war niemand im Laden, so mischte ich mich auch nicht ein und ich ließ die zwei reden.

„Ach, sonst hat es dich auch nicht gestört, was ich mache, als ich noch mit…“

Marc brach seinen Satz und schaute wieder in sein Buch.

„Du hast mir wohl immer noch nicht verziehen.“

Christians Gegenüber schaute weder auf, noch antwortete er auf den Satz. Anke schaute zu mir rüber, doch ich zuckte nur mit den Schultern. Christian selbst lief nach hinten.

„Bin etwas essen“, sagte er noch und eilte zur Tür hinaus.

Das Glockenspiel hallte im Laden nach, bis es wieder völlig still war.

„Ich muss dann… noch etwas besorgen“, meinte Anke plötzlich und verschwand auch recht schnell.

Vorwurfsvoll schaute ich ihr hinterher. Jetzt war ich alleine mit Marc. Super! Ich wischte noch den Tresen ab und war eigentlich fertig, aber Marc machte keine Anstalten sich zu rühren.

„Entschuldige, wenn ich dir soviel Stress mache“, sagte plötzlich Marc leise.

„Machst du nicht…Marc.“

„Weißt du… die letzten zwei Jahre haben sich meine Brüder einen Dreck um mich geschert. Keiner rief an, keiner meldete sich auf irgendeine Art und Weise.“

„Hast du dich denn gemeldet?“

„Warum sollte ich?“

„Es sind deine Brüder…“

„Ja und?“

„Also wenn ich Geschwister hätte, würde ich mich schon bemühen Kontakt zu halten, egal was vorgefallen ist.“

„Ah… ein Einzelkind.“

„Ja…, war aber besser so… bei den Erzeugern.“

„Hört sich so an, als hättest du auch keinen Kontakt mehr zur Familie.“

„Ja, aber aus einem anderen Grund.“

„Ich will ja nicht neugierig sein…“

„… meine Eltern haben mich abgeschoben. Hast du Lust mit rauf zu kommen? Ich möchte ungern meine Mittagspause hier unten verbringen.“

Marc schaute etwas zerknirscht, stand aber dennoch auf. Ich schloss noch die Ladentür ab und bewegte mich dann nach hinten zur Wendeltreppe. Marc folgte mir. Oben angekommen, war mein erster Gang wieder zur Kaffeemaschine.

„Auch einen?“, fragte ich und griff, ohne eine Antwort abzuwarten, nach zwei Tassen und stellt sie unter den Automaten.

„Ja gerne.“

Die Stille wurde vom Brummgeräusch des Automaten unterbrochen, dessen Inhalt sich nun den Weg in die Tassen bahnte. Ich holte Zucker und Milch heraus und fügte seinem Kaffee die vorhin beobachtete Menge hinzu.

„Du beobachtest viel?“, sagte Marc, der nun neben mir stand.

„Gehört zu meinem Job…, aber auch wenn ich jemanden kennen lernen will.“

Oh man, den letzten Satz hätte ich mir verbeißen können.

„Du willst mich also kennen lernen… Warum?“

„Hm… weil ich dich interessant finde?“

„Was ist denn bei mir schon interessant?“

„Das kann ich dir so nicht sagen, schwierige Frage.“

Marc nippte an seinen Kaffee, ohne aber seinen Blick von mir zuwenden.

„Warum hast du keinen Freund?“, fragte er nun plötzlich.

„Vielleicht, weil ich auch ein paar Enttäuschungen hinter mir habe.“

„Sorry…, ich wollte dir nicht zu Nahe treten.“

„Noch näher?“, fragte ich mit einem Grinsen.

Marc sah mich etwas verwirrt an. Ich wusste nicht, ob es ihm aufgefallen war, wie dicht er neben mir stand. Mein Gesicht wurde wieder ernst.

„Marc, ich weiß annähernd, wie du dich jetzt fühlen musst“, begann ich und legte meine Hand auf seinen Arm, „und es gibt auch kein Rezept dagegen, außer vielleicht zu versuchen es zu akzeptieren, denn rückgängig kannst du es ja sowieso nicht machen, oder?“

Er schüttelte den Kopf und zog auch nicht den Arm zurück. Ich bemerkte, wie ich drauf und dran war, mich in den Kerl zu verlieben. Unser Blickkontakt war noch derselbe. Keiner wich aus.

„Und du findest mich wirklich interessant?“, fragte Marc leise.

Ich nickte.

„Ich verstehe es zwar nicht, aber es ist ein tolles Gefühl“, sprach Marc weiter.

Seine Lippen säumte ein kleines Lächeln und auch seine Augen sahen eine Spur fröhlicher aus. Plötzlich schaute er nach unten.

„Einen Cent für deinen Gedanken“, sagte ich.

Das kleine Lächeln wuchs zu einem großen Lächeln heran.

„Ich weiß, es hört sich jetzt vielleicht etwas verrückt an… und da du so offen bist – ehrlich, ich habe gerade über dich nachgedacht.“

„Über mich?“

„Ja. Ich kenne dich zwar erst ein paar Stunden…, aber von dir geht etwas aus… das mir gut gefällt.“

Eine leichte Röte stieg in mein Gesicht. Das waren nette Worte und auch mir gefiel das, was vor mir stand.

„Meinst du das ernst?“, fragte ich leise.

Marc nickte und bis jetzt war sein Lächeln nicht von den Lippen verschwunden.

„Meinst du…, dass es irgendwelche… Chancen gibt…, dass wir beide… du und ich… irgendwie… zusammen kommen könnten, also so… als Freunde… also ich meine…“

„Ich weiß schon was du meinst, Leo, Es ist süß, wie du dich ausdrückst.“

Noch mehr Röte stieg in mein Gesicht. Ich nippte an meinem Kaffee, der mittlerweile kalt geworden war. Nachdem ich das Gesicht verzogen hatte, schüttete ich ihn ins Waschbecken.

„Einen frischen?“, fragte ich nun, als Marc skeptisch in seinen Kaffee schaute.

Er nickte. So nahm ich ihm die Tasse aus der Hand und berührte dabei seine Finger. Ein Kribbeln ging durch meinen Magen und meine Knie wurden leicht weich. Was war das hier? Wie verliebt sich ein Siebzehnjähriger?

Das Surren der Kaffeemaschine riss mich aus den Gedanken und ich lächelte Marc zu.

„Ich sollte mich wohl bei meinem Bruder entschuldigen…“, sagte Marc plötzlich.

Ich schaute ihn an wie einen verliebten Affen und verstand erst seine Worte nicht. Erst als er mich durchdringend anschaute, wachte ich aus meinem Tagtraum auf.

„Äh… was hast du gesagt?“, fragte ich.

Wieder lächelte er.

„Dass ich mich bei meinem Bruder entschuldigen sollte… eigentlich eher dankbar sein sollte… sonst hätte ich dich nicht kennen gelernt.“

„Das solltest du vielleicht tun…, ja!“

Marcs Blicke wanderte durch die Küche.

„Schön hast du es hier.“

„Danke.“

Sein Blick blieb auf dem Tisch kleben. Mein Blick folgte seinem und entdeckte den Brief, den ich gestern bekommen habe.

„Sammelst du alte Schriften?“, fragte mich Marc.

„Nein, wieso fragst du?“

„Weil da ein Brief in altdeutscher Schrift liegt.“

„Den habe ich gestern erst bekommen, konnte ihn aber nicht lesen, weil ich des Altdeutschen nicht mächtig bin.“

„Welch Glück, dass du mich hast.“

So, hatte ich das? Ich lächelte.

„Soll ich ihn dir vorlesen?“

„Wenn du das kannst, fände ich das toll, denn er wurde mir von meinem Notar zugestellt.“

„Notar?“, fragte Marc.

„Ja, das kann ich dir später erklären…“, sagte ich und nahm den Brief heraus und reichte ihm diesen, „ich würde gerne wissen was da drin steht.“

„Kein Problem“, meinte Marc und griff sich an die Brust.

„Suchst du etwas?“

„Öhm… ja… meine Brille.“

„Du hattest vorhin beim lesen doch auch keine Brille an.“

Marc wurde tief rot im Gesicht.

„Da hab ich… nur so getan…“

Ich fing schallend laut an zu lachen.

„Und warum, wenn ich fragen darf?“

„Du hast mich so durcheinander gemacht, dass ich nicht zu lesen imstande gewesen wäre.“

„So, so. Jetzt bin ich der Übeltäter. Deine Brille befindet sich vielleicht in deiner Jacke?“

„Stimmt du hast recht, ich hole sie, Moment.“

Flinken Schrittes verließ er die Küche. Wenige Sekunden später hörte ich Schritte, wie sie die Wendeltreppe benutzten. Ich wandte mich an die zwei Kaffeetassen und versah sie verträumt mit Milch und Zucker.

Sollte es wirklich sein, dass ich einen Menschen gefunden habe, der mich diesmal nicht ausnutzen würde. Wieder hörte ich Schritte. Diesmal aber in Richtung nach oben. Ein leichtes Gepolter und ein Fluchen kamen anschließend.

Ich verließ die Küche und kam durch die offene Wohnungstür zur Wendeltreppe, wo mir Marc entgegen kam.

„Ist etwas passiert?“, fragte ich verwundert.

„Öhm… ich bin wohl zu schnell die Treppe hinauf und bin gestolpert.“

Nur mit Mühe konnte ich ein Lachen unterdrücken, sein Gesichtsausdruck war zu köstlich.

„Hast du dir wehgetan?“

„Nein, nicht der Rede wert.“

Erst jetzt bemerkte ich die kleine Nickelbrille auf seiner Nase. Sie stand ihm aber gut. Leicht humpelnd lief er vor mir her in die Küche.

„Und du hast dir sicher nicht wehgetan… öhm du humpelst.“

Etwas verlegen schaute er mich an, bevor er sich bückte und sein Hosenbein hochzog. Zum Vorschein kam eine dunkelrote Einfärbung seines Schienbeins.

„Dass gibt bestimmt einen blauen Fleck. Willst du einen Kühlpad drauf tun?“, fragte ich.

Er schüttelte den Kopf und ließ das Hosenbein wieder nach unten rutschen.

„So, wo ist denn der Brief, damit ich ihn dir vorlesen kann.“

„Hier!“, meinte ich und reichte ihm das Stück Papier.

Vertieft lass er kurz drüber.

„Okay, dann wollen wir mal:

Lieber Leonard,

ich weiß du kennst mich nicht, aber das lag wohl an meiner Schwester Lena, die nie sonderlich gut auf mich zu sprechen war. Deswegen auch der Gedanke, dass sie sicher nichts von mir erzählt hat.

Da unser Kontakt sehr spärlich war, habe ich leider erst jetzt erfahren, dass deine Großmutter verstorben ist…

Der Gedanke an meine Oma trieb mir etwas die Tränen in die Augen.

… Es tut mir sehr Leid, dass ich nicht noch zu ihren Lebzeiten unseren Streit beilegen konnte. Bis zu diesem Streit hatte sie immer sehr voller Stolz von dir erzählt. Nun möchte ich wenigstens bei dir versuchen, es wieder gut zu machen.

Ich habe selbst keine Kinder und lebe daher alleine. Falls du und dein Freund? Zeit hättet, würdet ihr an Weihnachten bei mir vorbeischauen? Ich gehe einfach mal davon aus, dass du einen Freund hast, so wie deine Großmutter über dich als großartigen Menschen immer geschwärmt hat.

Du siehst, ich habe auch keine Probleme mehr mit deiner Homosexualität … der eigentliche Grund des Streits zwischen meiner Schwester und mir. Ich habe zurzeit einen Zivildienstleistenden der mir immer die Mahlzeiten bringt. Er ist schwul, oder wie ihr das nennt und durch ihn habe ich viel erfahren und auch gemerkt, dass ich einen großen Fehler gemacht habe.

Nun hoffe ich, dass du dich bei mir meldest und vielleicht auch zusagst, das würde mich sehr freuen.

Liebe Grüße

Irmgard

Buh… das war jetzt heftig.

„Du hast nichts von ihr gewusst?“, fragte mich Marc.

„Nein“, sagte ich und wischte mir die Tränen aus den Augen.

„He, nicht weinen bitte“, meinte Marc und nahm mich in den Arm.

„Sie fehlt mir sehr… meine Oma. Sie hat mich groß gezogen… meine Eltern wollten mich ja nicht. Es tut so weh… und ich fühle mich so alleine…“

Ich konnte nicht mehr dagegen ankämpfen, meine Tränen rannen ungehindert auf Marcs Pulli.

„He… schhhhht… ist doch in Ordnung…“

Ich ließ Marc los und suchte nach einem Taschentuch.

„Brauchst du so etwas?“, fragte Marc und hielt mir eins unter die Nase, „ich habe jede Menge davon.

Ich lächelte leicht und nahm das Päckchen dankend an. Danach putze ich mir die Nase.

„Also… wenn du… um deine Frage, von vorhin zu beantworten… ich würde gerne… also ich meine… dein Freund sein.“

Jetzt musste ich lächeln, weil Marc diesmal vor sich hinstotterte. Ich fiel ihm um den Hals und drückte ihn fest an mich.

„Soll das ein Ja sein?“, fragte Marc leise.

Ich ließ ihn los und strahlte ihn an.

„Wenn du mir versprichst, auch nicht mehr traurig zu sein…“

„Ich werde zwar noch brauchen, darüber hinweg zu kommen… aber ich denke mit dir an der Seite wird mir das leichter fallen.“

Seine Augen glänzend nun auch und eine einzelne Träne verließ das rechte Auge. Ich hob die Hand, legte sie an seine Wange und wischte sie mit dem Daumen weg. Marc wiegte sein Gesicht in meiner Hand.

Unsere Gesichter näherten sich langsam, bis sie nur noch Millimeter voneinander entfernt waren. Ich schloss meine Augen und wenige Sekunden später spürte ich seine Lippen auf den meinen.

„Hab ich dir nicht gesagt, ich weiß wo dein Bruder steckt.“

Erschrocken fuhren wir auseinander. Vor lauter Küsserei hatten wir nicht bemerkt, dass Christian und Anke heraufgekommen waren.

„Öhm… schon, aber dass er gleich an meinem Chef klebt, habe ich dir nicht geglaubt“, stammelte Christian.

„Marc hör mal, es tut mir Leid wegen vorhin… ich hätte nicht einfach so verschwinden sollen.“

„Kein Problem Bruderherz, aber ich war auch schuld… und zudem hätte ich wohl diesen besonderen Mann hier nicht näher kennen gelernt, wärst du nicht gewesen.“

Mir schoss schon wieder die Röte ins Gesicht und Anke begann fies zu grinsen.

„Und wegen Weihnachten brauchst du dir auch keine Gedanken machen, denn ich werde nicht da sein“, sprach Marc weiter.

„Nicht da?“

„Ja, ich werde wohl meine neue „Errungenschaft“ zu einer Verwandten begleiten.“

„Verwandten?“, fragte Anke.

„Ja, die Schwester meiner Oma“, erklärte ich, „… du willst wirklich mit?“, fragte ich Marc.

„War da nicht von deinem Freund die Rede?“, kam es von Marc.

„Also gehe ich mal davon aus, dass ihr zusammen seid“, fragte Christian und lächelte.

Marc schaute mich kurz grinsend an.

„Ich weiß, es geht alles etwas sehr schnell, aber ich würde die Frage mit einem Ja beantworten.“

Ich nickte bestätigend. Anke lief zu Marc und griff nach seinem Pulli.

„Nur eins noch, solltest du meinem Kleinen hier wehtun, dann wirst du mich kennen lernen“, sprach Anke.

Dass sie es nicht ganz so ernst meinte, konnte ich an ihrem Grinsen sehen.

„Das habe ich wirklich nicht vor!“, verteidigte sich Marc.

„Okay, ich hätte dich ungern als Grillbeilage verwendet!“

Marc schaute mich mit großen Augen an und ich begann zu kichern.

„Also ich geh mal runter“, unterbrach Christian die Unterhaltung, „wollen ja noch einige Leute mit Weihnachtsgeschenken versehen!“

„Also ich habe meins schon bekommen“, strahlte Marc neben mir und legte den Arm um mich, „und das gebe ich nicht mehr so schnell her.“

 

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