Good bye Amerika – Pilotgeschichte

Unruhig und nervös saß ich auf meinem Stuhl. Grandma stand an der Information. Keiner konnte oder wollte uns richtig Auskunft über Dads Zustand geben. Aber das brauchte ich ja nicht, ich wusste, warum er hier war.

~Rückblende~

Es war wieder einer dieser Tage, an denen ich am liebsten im Bett geblieben wäre. Alles lief schief, was schief gehen konnte. Erst die vermasselte Mathearbeit in der Schule, dann das missglückte Experiment in Chemie, was aber meiner Klasse zu Gute kam – der Rest des Unterrichts fiel aus – und dann zu Hause. Dad lag wie immer im Bett, die Wohnung stank nach Rauch und im Wohnzimmer türmten sich die Bierdosen. Seit Mum nicht mehr da war, ging es mit Dad stetig bergab.

Am Anfang bemühte er sich ja, ein normales Familienleben weiterzuführen. Doch spätestens, als er seinen Job verlor, war damit Schluss. Dass Mum einfach gegangen war, hatte er wohl nie verkraftet.

Ja und ich gebe zu… ich war auch nie einfach. Dad hatte schon seine Schwierigkeiten mit mir. So machte ich mich daran, das Wohnzimmer aufzuräumen, bevor ich mich aufmachte in der Küche, das Essen zu kochen.

Seit Dad so viel trank, hatte ich den Haushalt übernommen. So konnte ich mit meinen siebzehn Jahren auch schon sehr gut kochen. Ich versuchte, alles richtig zu machen, um Dad keinen Grund für seine Wutanfälle zu bekommen.

Wenn Dad dann abends im Bett lag, um seinen Suff auszuschlafen, zog ich mich in mein Zimmer zurück und schrieb alles in mein Tagebuch, was an dem Tag geschehen war. Es hatten sich schon einige Bücher angesammelt.

Mittlerweile hatte ich sie aber versteckt, denn Dad hatte eins gefunden und darin gelesen. Etwas, was mich und Dad noch weiter auseinander brachte. Ich kann mich noch genau an diesen Tag erinnern.

Dad hatte mal nicht getrunken und dachte wohl, er müsse in der Wohnung klar Schiff machen. Auch in meinem Zimmer. Da fand er das Buch, in das ich allabendlich meine Einträge schrieb.

Als ich an diesem Tag von der Schule kam, saß Dad im Wohnzimmer – mit einer Bierdose in der Hand. Ich war kaum in der Wohnung, da rief er meinen Namen. So ging ich ins Wohnzimmer und fand ihn so vor.

Das Einzige, was er machte, Er stand auf und schmiss mir mein Tagebuch vor die Füße. Außer einem „verschwinde“, sagte er nichts. Ich wusste, warum. In diesem Buch stand alles über meine Gefühle derzeit drinnen.

Auch über meine Vorliebe über andere Jungs. Ja, ich war schwul und stand auf Jungs. Und das hatte er wohl herausgefunden. Also verstand ich seine Reaktion. Drüber geredet hatten wir aber nie.

Wir redeten kaum ein Wort miteinander seit diesem Tag. Ich schloss gerade mein Tagebuch, als mein Name gerufen wurde. Ich verließ mein Zimmer und fand Dad im Wohnzimmer vor.

„Wo ist mein Essen?“, grummelte er, sah mich aber dabei nicht an, sondern starrte nur aufs Fernsehen.

„In der Küche, soll ich es dir warm machen?“

Wenn Blicke töten könnten, wäre ich jetzt auf der Stelle tot umfallen. Ohne etwas zu sagen, ging ich in die Küche. Grandma hatte mir die letzten Wochen des Öfteren angeboten, zu ihr zu ziehen.

Aber ich konnte irgendwie nicht. Ich wollte Dad nicht im Stich lassen… so wie Mum. Er war mein Dad und ich liebte ihn, auch wenn er gerade ein Alkoholiker war. Ich schob den Teller in die Mikrowelle und wartete auf das Klingeln.

„Bring mir Bier mit!“, hörte ich Dad rufen.

Also ging ich zum Kühlschrank und holte zwei Dosen Bier heraus. Eine würde sowieso nicht reichen. Die Mikrowelle meldete sich und ich zog den Teller mit seinem Essen heraus. Noch schnell Besteck dazu und wieder zurück ins Wohnzimmer.

„Warum dauert denn das so lange?“

Ich blieb wie immer stumm in solchen Situationen, denn jedes Wort von mir würde ihn nur unnötig aufregen. Ich stellte alles ab und wollte das Zimmer wieder verlassen.

„Wird auch langsam Zeit… du Drecksschwuchtel!“

Ruckartig blieb ich stehen. Auch wenn ich mit dem Rücken zu ihm stand, wusste ich, dass er sein fieses Grinsen auf hatte. Ich presste die Augen zusammen und holte tief Luft.

„Willst du Schwanzlutscher nichts zu deiner Verteidigung sagen?“, motzte er mich an.

Langsam drehte ich mich um.

„Das ist doch widerwärtig… in anderer Leute Scheiße zu rühren… bah… ich habe keinen Hunger mehr.“

Ich brachte kein Wort über meine Lippen. Viel zu sehr verletzten mich die Worte meines Vaters. Ruckartig stand er auf und nahm den Teller.

„Ist das der Dank, dass ich dich groß gezogen habe?“, schrie er weiter, „du bist ein Nichtsnutz. Kein Wunder, dass deine Mutter weggelaufen ist!“

„Dad, bitte hör auf“, sagte ich heiser und begann zu weinen.

Er warf den Teller nach mir, der mich nur um Haaresbreite verfehlte.

„Dad bitte…“

„Du kleiner Wichser…“,

Er kam auf mich zu und hob die Hand. Mit seinem Fuß blieb er aber am Sofa hängen und knallte der Länge nach auf den Boden. Mit dem Kopf knallte er mit voller Wucht gegen den Beistelltisch.

„Dad“, schrie ich.

Ich beugte mich zu ihm hinunter und drehte sein Kopf etwas. Da bemerkte ich das Blut an meinen Händen. Verzweifelt rannte ich zum Telefon.

~Zurück~

Ich wischte mir die Tränen aus den Augen. Grandpa streichelte mir beruhigend über den Rücken.

„Das wird schon wieder, mein Junge“, hörte ich ihn sagen.

Was sollte schon werden? Mein Vater hasste mich. Grandma kam vom Informationsschalter zurück.

„Henry liegt im Koma und sie können mir nicht sagen, wie es um ihn steht.“

Mit verheulten Augen sah ich sie an.

„Es tut mir so leid, Tom“, meinte Grandma.

Ich zuckte mit meinen Schultern und stand auf.

„Der Arzt meinte, wir sollen nach Hause gehen. Es würde nichts bringen, hier zu warten, bis dein Dad zu sich kommt.“

Mutlos nickte ich.

„Und… wie geht… es jetzt weiter?“, fragte ich unter Tränen.

„Ich weiß es nicht, Tom. Hast du dir schon mal Gedanken darüber gemacht, was uns das Jugendamt vorgeschlagen hat?“

Mein Kopf schnellte hoch und ich sah sie an.

„Zu Onkel Bob ziehen?“

Sie nickte.

„Aber das ist so weit weg…, ihr wärt nicht mehr in meiner Nähe.“

Sie nahm mich in den Arm und gemeinsam steuerten wir den Ausgang an. Grandpa folgte uns schweigend.

„Sieh mal, ich habe diese Woche mit Bob telefoniert. Er war von der Idee begeistert, die das Jugendamt hatte. Er würde auch deine Vormundschaft übernehmen.“

Ich klammerte mich an Grandma und fing nun richtig an zu weinen.

„Ich weiß, Junge, wie schwer diese Entscheidung für dich ist. Aber die kannst nun mal nur du treffen.“

*-*-*

Ich saß mit Grandma im Wartezimmer des Jugendamtes. Vom Krankenhaus war keine neue Nachricht gekommen, Dad lag nach wie vor im Koma. Wir wurden aufgerufen. Nervös folgte ich meiner Grandma ins das Zimmer der Jugendbetreuerin.

„Hallo Tom, hallo Mrs. Miller.“

Ich nickte ihr zu und reichte ihr die Hand. Gemeinsam mit meiner Grandma setzte ich mich auf die Stühle vor dem Schreibtisch.

„Nachdem sie mich gestern Mittag angerufen haben, Mrs. Miller, habe ich mich mit ihrem Sohn in Verbindung gesetzt. Aufregend muss ich sagen. Mit Australien habe ich auch noch nie telefoniert.“

Gequält lächelnd nahm meine Grandma diese Information zur Kenntnis.

„Ihr Sohn hat bereits alles in die Wege geleitet und das dortige Jugendamt in Kenntnis gesetzt. Ich warte nur auf die entsprechenden Papiere, die mir noch zu gestellt werden“

„Und wie lange dauert es noch, bis mein Enkel nach Australien gehen würde?“, fragte Grandma.

„Wenn alles Formelle geregelt ist, dann in knapp zwei Wochen. Wir bemühen uns, alles recht unbürokratisch abzuwickeln, aber auch wir müssen uns an beider Länder Gesetzeslagen halten.“

„Das hatte ich auch nicht gemeint damit. Es geht mir nur darum, mit meinem Enkel seine Sachen zusammenzupacken und alles hier zu regeln.“

Irgendwie war alles schon ausgemacht. Grandma meinte es nur gut mit mir. Sie war einfach zu alt, um sich um mich richtig kümmern zu können. Wir hatten am gestrigen Abend ein sehr langes Gespräch.

Natürlich hatte sie gefragt, warum Dad so ausgerastet sei. Nach langem Hin und Herr hatte ich dann gestanden, dass ich schwul sei und Dad damit nicht klar kam. Auch Grandpa reagierte ähnlich, wenn auch nicht so heftig wie Dad.

Auch ein Grund mehr, warum ich bei Grandma nicht bleiben konnte. Und in ein Heim wollte ich nicht. So blieb eben nur die Möglichkeit, zu Onkel Bob nach Australien zu ziehen.

„Würden sie hier bitte unterschreiben?“, riss mich die Dame vom Amt aus den Gedanken.

Meine Grandma atmete tief durch und nahm den Stift entgegen. Bevor sie unterschrieb, schaute sie mich noch einmal lange an.

„Ich hoffe nur, das ist das Richtige, was wir machen“, meinte sie leise.

Dann reichte sie mir den Stift, denn mit siebzehn konnte ich auch schon unterschreiben. Ich gab den Stift zurück.

„Ich werde mich dann bei ihnen melden, wenn alles unter Dach und Fach ist“, sagte die Frau hinter dem Schreibtisch.

Grandma nickte und stand auf. Auch ich stand auf. Die Frau vom Amt reichte uns die Hand.

„Mrs. Miller… Tom, ich wünsche ihnen alles Gute!“

Wir nickten ihr gleichzeitig zu.

„Danke… auf Wiedersehen“, kam es von meiner Grandma.

So verließen wir das Zimmer wieder.

„Ich würde vorschlagen, wir fahren erst mal mit dem Taxi zu euch, damit wir uns ein Bild machen können, was du mitnimmst und was nicht.“

Ich nickte. Sie wollte sicher vermeiden, dass ich jetzt mit Grandpa zusammentraf, der zu Hause saß. Er war immer noch unheimlich sauer auf mich. Tränen suchten sich den Weg zu meinen Augen.

Ich hatte mir doch nicht ausgesucht, dass mir Jungs besser gefielen als Mädchen. Warum reagierten alle so negativ darauf? Einzig Grandma stand mir noch zur Seite. Es dauerte etwas, bis wir ein Taxi bekamen.

Wieder eine geraume Zeit später standen wir vor der Wohnungstür unseres Hauses. Mit zitterten Händen schloss ich die Tür auf. Eine Nachbarin, die gerade vor die Tür trat, betrachtete uns missmutig.

Ich trat mit Grandma ein und schloss die Tür hinter uns. Der Bier- und Rauchgeruch lag immer noch in der Luft und Grandma rümpfte die Nase. In dem Augenblick schämte ich mich für meinen Dad.

„Komm, lass uns in dein Zimmer gehen.“

Sie folgte mir ins Zimmer, das immer noch so aussah, wie ich es verlassen hatte.

„Deine Kleidung geht natürlich komplett mit. Aber was machen wir mit all den anderen Sachen?“

Verzweifelt schaute sie durch mein Zimmer. Ich zuckte mit den Schultern.

„Weißt du was? Du packst alles in Kartons und wir lagern es bei uns im Speicher ein. Und irgendwann nach und nach schicken wir dir alles nach, okay?“

Ich nickte einfach, war zu keinem Wort fähig.

„Willst du heute Nacht wieder bei uns schlafen, oder hier bleiben?“

In Anbetracht der Tatsache, dass Grandpa nicht gut auf mich zu sprechen war, entschloss ich mich, hier zu bleiben. Auch war es von hier aus näher zur Schule.

„Ich bliebe hier“, sagte ich leise.

„Gut, dann werde ich mal zu deinem Grandpa fahren, der wartet sicher schon auf mich.“

Traurig sah ich sie an.

„Es wird schon werden und Grandpa wird sich auch wieder beruhigen, glaube mir!“

Sie nahm mich in den Arm und drückte mich fest. Wenig später war ich alleine. Ich stand erst eine Weile im Flur und starrte ins Leere. Wie weit war alles gekommen. Irgendwie fühlte ich mich gerade schrecklich einsam.

Keiner, zu dem ich gehen konnte. Keine Freunde… nichts. Nur Grandma. Ich wischte die Tränen aus den Augen. Mit klopfendem Herz betrat ich das Wohnzimmer. Immer noch lag der zerbrochene Teller auf dem Boden und der große Blutfleck war vor dem Sofa.

Mir wurde etwas übel, weil in mir die Bilder zurückkamen, wie Dad in seinem Blut lag. Ich bückte mich und begann, die Scherben und Essensreste aufzuheben. Ich lief in die Küche und warf alles in den Mülleimer.

Dann holte ich mir einen Eimer aus der Kammer und füllte ihn mit heißem Wasser. Ich suchte nach irgendeinem scharfen Putzmittel. Ich zog mir die Gummihandschuhe über und nahm eine Bürste mit.

Angewidert kniete ich mich vor das Sofa und begann, über das Blut zu schrubben. Ich weiß nicht, was mich geritten hatte, doch plötzlich rieb ich wie ein Besessener über den Blutfleck. Mittlerweile war schon der ganze Teppich nass.

Erschöpft setzte ich mich. Der Fleck war nur ein Bruchteil blasser geworden. Ich lief in die Küche zurück und durchsuchte den Küchenschrank. Ich schnappte mir jedes nur erdenkliche Putzmittel und lief zurück ins Wohnzimmer.

Wie lange ich geschrubbt hatte, wusste ich nicht mehr. Draußen hatte schon die Dunkelheit eingesetzt. Der Fleck war fast weggegangen, aber die Farbe vom Teppich auch. Erschöpft stand ich unter der Dusche, mein Gesicht an die Wand gelehnt.

Trotz des Wassergeräusches drang der Lärm von draußen an mein Ohr. Die anderen Mieter im Haus, der Krach der Strasse. Meine Hände taten weh und sahen aus, als wären sie zu lange im Wasser gelegen.

Ich schloss die Augen und ließ einfach weiter das Wasser über meinen Körper rinnen. Es war einfach zu viel, was die letzten Tage passiert war. Die Tränen vermischten sich mit dem Duschwasser.

Irgendwann tief in der Nacht schlief ich vor Erschöpfung ein und als ich am Morgen durch meinen Wecker geweckt wurde, taten mir die Knie und meine Hände weh. Ich zog mich an, aß eine Kleinigkeit.

Als ich wenig später die Schule betrat, hatte ich das Gefühl, von jedermann beobachtet zu werden, als wüssten alle, was passiert war. Bis auf meine Lehrer konnte eigentlich niemand etwas wissen.

Während ich das Klassenzimmer betrat und an meinen Platz wollte, wurde ich von meinem Klassenlehrer wieder nach draußen gerufen. Die anderen sahen mich komisch an. Ich ging nach draußen, wo mich Mr. Pikelton schon erwartete.

„Tom, ich bin gerade von der Direktorin unterrichtet worden, was passiert ist.“

Beschämt sah ich zu Boden.

„Auch hat sich das Jugendamt schon gemeldet, wie es in Zukunft mit dir weitergehen wird. An den Arbeiten in den nächsten zwei Wochen brauchst du bei mir und auch bei den anderen Lehrern nicht mehr teilnehmen. Wenn du es trotzdem tun würdest, würde ich mich aber freuen. Und Tom, wenn du irgendwie Hilfe brauchst, kannst dich ruhig an mich wenden.“

„Danke“, meinte ich leise, bevor er mich vor sich ins Klassenzimmer schob.

Während der großen Pause suchte ich mir ein ruhiges Plätzchen. Wieder kam es mir vor, als würde mich jeder hier auf dem Pausenhof anstarren. Mir war jetzt nicht nach Gesellschaft zu Mute.

Als ich am Mittag die Wohnungstür aufschloss, atmete ich erst einmal tief durch. Wieder alleine. Grandma hatte versprochen, mir Kartons vorbei zu schicken. Anscheinend war der Bote schon da, denn im Flur lag ein großer Stapel Kartons.

Anscheinend musste ihn die Nachbarin hereingelassen haben. Ich lief sofort direkt in mein Zimmer. Hunger hatte ich keinen. Also schnappte ich mir den ersten Umzugskarton und faltete ihn zusammen.

Mit was sollte ich beginnen? Ich entschloss mich, mit dem Bücherregal zu beginnen. Dass es richtig flott ging, hätte ich nicht gedacht. Eine Stunde später hatte ich schon vier Kartons gefüllt.

Das Telefon klingelte und ich ging dran.

„Hallo mein Junge, was machst du?“

„Ich packe ein paar der Kartons.“

„Gut. Und wie geht es dir, hast du schon was gegessen?“

„Mir geht es gut und ja, ich habe bereits gegessen“, log ich.

Ich wusste, wie schnell sie sich Sorgen um mich machte und ich wollte nicht, dass sie zu mir hetzen würde, wenn sie meinte, es wäre notwendig.

„Ich habe mit dem Krankenhaus telefoniert. Der Zustand deines Vaters ist unverändert.“

Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte.

„Aha…“, meinte ich dann nur.

„Wenn irgendetwas ist, ruf mich bitte an, Tom. Versprichst du mir das?“

„Ja, Grandma!“

„Okay mein Junge, ich melde mich dann wieder.“

„Ja Grandma, bye.“

Ich legte auf. Kurz verharrend, atmete ich tief durch. Sollte ich Dad besuchen? Brachte das überhaupt was? Man sagte ja, Komapatienten würden bemerken, wenn jemand da ist und sogar etwas hören.

Alles Quatsch, was sollte ich bei ihm? Gestern hatte er mir noch den Teller nachgeworfen. Aber er war betrunken. Ob er auch alles meinte, was er sagte? Verwirrt ging ich in mein Zimmer zurück und packte weiter.

Bis zum Abend hatte ich alle Kartons voll und mein Zimmer war bis auf die Klamotten so gut wie leer. Nur noch den Pc hatte ich stehen lassen. Bevor ich schlafen ging, las ich gerne im Internet. Ich hatte da eine Seite mit Geschichten gefunden, sie hieß Nifty – Stories.

Dort konnte ich über Jungs in meinem Alter lesen, denen es genauso ging wie mir. Nach einem unfreiwilligen Coming Out – deren Geschichte. Oft fühlte ich mich dann nicht mehr so einsam, weil ich wusste, es gab sicher noch mehr da draußen, die so fühlten wie ich.

*-*-*

Die nächsten Tage liefen fast im gleichen Rhythmus ab. Am Wochenende aß ich bei Grandma – Grandpa hatte sich mittlerweile wieder beruhigt und spielte sogar wieder eine Partie Schach mit mir.

Dads Zustand blieb unverändert und wenn mich Grandma nicht dazu aufgefordert hätte, wäre ich ihn nicht besuchen gewesen. Onkel Bob schien sich wirklich ins Zeug gelegt zu haben, denn das Amt meldete sich nach einer Woche, dass die Papiere alle rechtens und bereit wären.

So kam dann auch mein letzter Tag in der Schule. Auf mein Bitten hin erwähnte Mr. Pikelton nichts vor der Klasse. Ich wollte einfach verschwinden, ohne jemand große Erklärungen abgeben zu müssen.

Mr. Pikelton hatte dem nur unter Murren zugestimmt, aber mit der Bitte, doch mit ihm in Verbindung zu bleiben. Er gab mir sogar seine private Email-Adresse. Dass ich meinen Pc bei Oma lassen würde, sagte ich ihm aber nicht.

Nach der letzten Stunde musste ich noch einmal zur Direktorin, um meine Sachen abzuholen. Sie wünschte mir viel Glück und nach dem üblichen Blabla verabschiedete ich mich von ihr.

Zu Hause angekommen, waren bereits Grandma und Grandpa anwesend. Sie hatte für uns drei etwas Feines gekocht, Grandpa den Tisch schön gedeckt. Sozusagen als Abschiedsessen. Nach dem Essen gab mir Grandma noch Anweisungen, was ich noch alles tun müsse, denn sie wollten mich morgen zum Flughafen abholen und nicht noch lange warten müssen.

Am Mittag würde ein Fuhrunternehmen kommen und die ganzen Kartons im Flur abholen. Dann war ich endlich wieder alleine. So sehr ich meine Großeltern liebte, so wenig konnte ich jetzt aber Gesellschaft vertragen.

So war meine Mittagsbeschäftigung nur mit Koffer packen ausgefüllt. Das Fuhrunternehmen kam pünktlich und eine halbe Stunde später waren meine Habseeligkeiten weg. Unter anderem auch meine Tagebücher.

Nach langem Überlegen hatte ich beschlossen, damit aufzuhören. Australien war für mich eine Möglichkeit, neu anzufangen. Warum nicht auch damit? Abends fiel ich erschöpft ins Bett. Egal waren die Geräusche im Haus, egal war der Krach, der durch das offene Fenster hereindrang.

Mit offenen Augen lag ich da und starrte in die Dunkelheit. Nur die Reklamewerbung vom gegenüber liegenden Haus erhellte kurzzeitig mein Zimmer. Das war sie also, meine letzte Nacht in den Staaten.

Morgen um diese Zeit würde ich im Flieger nach Australien sitzen. Achtzehn Stunden sollte der Flug dauern, mit nur einem Zwischenstopp. Irgendwann musste ich wohl eingeschlafen sein, denn als ich die Augen aufschlug, war es bereits wieder hell.

Mein großer Tag war gekommen. Grandma war zwar etwas enttäuscht darüber, aber ich hatte mit Dad abgeschlossen und ihn nicht mehr besucht. Sein Zustand war eh unverändert und was brachte es?

Ich ging ein letztes Mal ins Bad und machte mich tagestauglich. Ich räumte meine Zahnbürste, die Haarbürste in einen Beutel, den ich letztes Jahr von Grandma geschenkt bekommen hatte.

Ihn mit dem Schlafzeugs zusammen verstaute ich im Koffer. Dann ging ich in die Küche, trank die restliche Milch leer und aß das letzte Stück Brot. Danach schaltete ich den Kühlschrank ab und lehnte die Tür nur an.

Noch einmal schaute ich nach, ob der Gashahn vom Herd und auch die Wasserleitung abgedreht waren. Alles, was ich für den Flug brauchte, packte ich fein säuberlich in meinen Rucksack.

Dann setzte ich mich auf mein gemachtes Bett und wartete, dass meine Großeltern kamen. Es war ein komisches Gefühl, in einem leer geräumten Zimmer zu sitzen. Nichts erinnerte mehr an mich.

War es wirklich richtig, was ich tat? Sah es nicht so aus, als würde ich Dad wie Mum damals verlassen? Es half nichts, ich hatte mich so entschieden. Der Türgong ging und die Tür wurde aufgeschlossen.

„Tom?“, hörte ich meine Grandma rufen.

„Ich bin hier in… meinem Zimmer“, antwortete ich.

Wenige Sekunden später erschien Grandma, dicht gefolgt von Grandpa.

„Und – mit allem fertig?“

„Ja!“

„Hast du Gas und Wasser abgestellt?“

„Ja Grandma, ich muss jetzt nur noch den Strom abstellen.“

„Okay. Louis, nimmst du schon mal einen Koffer nach unten, der Taxifahrer wartet ja auf uns.“

Ohne einen Ton zu sagen, schnappte sich mein Grandpa einen Koffer und verschwand. Ich ging in den Flur und öffnete den Sicherungskasten. Eine Sicherung nach der Anderen klickte ich nach unten.

Danach verschloss ich das Türchen.

„So, das war’s“, meinte ich und schaute noch einmal durch die Wohnung.

Grandma nahm meinen Rucksack und ich den zweiten Koffer. Noch einmal blickte ich mich um, bevor wir ebenfalls die Wohnung verließen. Ein letztes Mal verschloss ich die Wohnungstür, bevor ich Grandma den Schlüssel reichte.

„Tom, es ist nur zu deinem Besten… es wird alles gut werden.“

Ich seufzte kurz, anscheinend hatte sie meine Zweifel bemerkt. Als wir das Haus verließen, schaute ich auch hier noch mal in die Runde. Alles hier würde ich das letzte Mal sehen. Für lange Zeit jedenfalls. Dass ich irgendwann mal wieder hier her kam, da war ich mir sicher.

Grandpa saß bereits im Wagen, während der Taxifahrer meinen zweiten Koffer im Kofferraum verstaute. Dann setzte ich mich zu Grandma auf die Rückbank.

„Bob hat dafür gesorgt, dass du eine Flugbegleiterin bekommst“, erzählte Grandma.

„Aha.“

Bis zum Flughafen schwiegen wir. Grandpa besorgte einen Rolli und der Taxifahrer lud meine Koffer aus, bevor ihn Grandma bezahlte. Danach steckte sie mir einen Umschlag zu.

„Ein paar australische Dollars für den Anfang“, meinte sie.

„Danke“, meinte ich und verstaute den Umschlag in meinem Rucksack, ohne hineingeguckt zu haben.

Grandpa kam mit dem Rolli zurück und wir luden die Koffer drauf. Nach langem Suchen fanden wir endlich den Schalter und gaben das Gepäck auf. Ich hatte Glück. Zwei Kilo mehr und ich hätte das Gesamtgewicht für Koffer überschritten.

Und dann hieß es warten. Mein Flug ging ja erst in zwei Stunden. Während Grandpa und ich uns einen Platz im Cafe suchten, verschwand Grandma auf die Toilette.

„Junge… hier ist noch etwas für unterwegs“, meinte Grandpa und steckte mir ebenfalls einen Umschlag zu.

„Danke… das hättest du nicht tun brauchen, Grandpa.“

„Ach Quatsch, ein bisschen Geld ist immer gut.“

Auch diesen Umschlag ließ ich im Rucksack verschwinden. Später saß ich mit den beiden da und hörte mir die Predigten meiner Grandma an, die sie auf Lager hatte. Der Aufruf zum Flug kam mir wie eine Erlösung vor.

Und nun hieß es Abschied nehmen. Grandma hatte Tränen in den Augen und bei Grandpa konnte ich auch welche entdecken. Ich stand vor ihnen und zuckte mit den Schultern.

„Sag Bob bitte einen ganz lieben Gruß von mir, ich werde mich bei ihm melden“, meinte Grandma und zupfte mein Poloshirt zu Recht.

„Und mach uns keine Schande da drüben“, kam es von Grandpa, bevor er mich noch einmal in den Arm nahm.

Mit der Bordkarte in der Hand durchlief ich die Kontrolle. Auf der anderen Seite winkte ich noch einmal meinen Großeltern zu, bevor ich durch die Schwingtür die Gangway betrat.

„Du bist Tom Miller?“, fragte mich eine der Flugbegleiterinnen, nachdem sie meine Karte studiert hatte.

„Ja.“

„Ich bin Madeleine, du kannst dich während des Fluges ruhig an mich wenden.“

„Ja danke“, meinte ich.

Ich schaute noch einmal zurück, den Gang entlang, bevor ich die Maschine betrat… >Good bye, Amerika<… dachte ich.

** Ende **

So, dass war die kleine Einführung zu Good bye Amerika. Wie es weiter geht, könnt ihr in den kommenden Tagen auf Pitstories lesen. Also viel Spass euer Pit

 

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